Zeit, etwas zu wagen

Deutschlands Stärken sind gemeinsame Anstrengungen und ein konstruktiver Diskurs. Das ist der Weg hinaus aus der Krise.

Illustration: Malcolm Fisher
Illustration: Malcolm Fisher
Mirko Heinemann Redaktion

Vielleicht ist das der Wendepunkt: Als im November das ifo-Institut den Geschäftsklimaindex vorstellte, ging ein hörbares Aufatmen durch das Land. Erstmals seit Monaten hatte sich die Stimmung in der deutschen Wirtschaft nicht mehr verschlechtert, sondern gebessert. Dann stieg der Index im November auf 86,3 Punkte, nach 84,5 Punkten im Oktober. Mit den laufenden Geschäften waren die Unternehmen zwar weniger zufrieden, aber der Pessimismus mit Blick auf die kommenden Monate ließ merklich nach. Die Rezession dürfte, so das Institut, weniger tief ausfallen, als viele erwartet haben.

Dies könnte der erster Lichtblick am Ende eines Tunnels sein. Mit Beginn des Ukraine-Kriegs lösten explodierende Energiepreise, abstürzende Börsenkurse und Deglobalisierungsbestrebungen den aktuellen Pessimismus aus, den nicht einmal das absehbare Ende der Corona-Pandemie ausgleichen konnte. Die Realität eines Krieges in Europa mit der Möglichkeit, einen Weltkrieg auszulösen, ließ jegliche weltwirtschaftliche Dynamik einbrechen. Wladimir Putin hatte mit seinem Großangriff auf die Ukraine die Welt in psychologische Geiselhaft genommen.

Reale Effekte gab es natürlich auch. Sei es nun der „russische Würgegriff“, das sukzessive Herunterfahren und dann finale Einstellen der Gaslieferungen durch die Pipeline Nord Stream 1, seien es die Sanktionen der Weltgemeinschaft gegenüber dem Aggressor und deren direkte Folgekosten. Aber mit dem Wissen um das wahre Ausmaß der Abhängigkeit von fossilem Gas ist auch das Bewusstsein dafür deutlich erstarkt, dass es jetzt endlich ernst werden muss mit dem Umstieg auf erneuerbare Energien. Dafür, dass am Horizont tatsächlich eine veritable Klimakrise dräut und, dass kein Deus ex Machina vom Himmel fällt, der die Welt mit einem Schnipsen erlöst. Dafür, dass man die Suppe, die man sich selbst eingebrockt hat, auch selbst wird auslöffeln müssen.

Die Wachstumslokomotive Deutschland fuhr auf Pump. Sie wurde mit Gas aus Russland betankt, in Fernost zusammengebaut, die Fahrkarten für den Zug wurden in ganz Europa und der Welt gekauft. Wer jetzt die Legende von der Deindustrialisierung Deutschlands durch die hohen Energiekosten oder die ambitionierten Klimaziele schürt, speist die Zukunftsangst von Kleingeistern, die bei jeder Konjunkturdelle den Untergang des Abendlandes ausrufen. Nein: Es ist völlig in Ordnung, wenn sich die deutsche Wirtschaft auf ihre eigenen Kräfte besinnt, ihre eigenen Ressourcen aktiviert und mit Hilfe der sukzessiven Dekarbonisierung ihre Umweltkosten senkt. Der Klimawandel wird noch teuer genug, und der auf der COP27 ausgehandelte Fonds für verursachte Klimaschäden ist nur ein kleiner Vorgeschmack darauf, was auf die Industrieländer noch an Reparationsforderungen zukommen wird. Was die Dekarbonisierung angeht, hat Europa als Vorreiter der Industrialisierung  die Pflicht, sich deren Folgen zu stellen.

Wenn es nun wieder aufwärts geht, sagt das allerdings nichts darüber aus, wie nachhaltig der Aufschwung sein wird. Das Wachstum der letzten Jahre, stabilisiert durch zunehmend verschränkte Lieferketten und einen weitgehenden Konsens über das gemeinsame Wohlstandsstreben der wichtigen BRICS-Staaten, wird sich wohl so bald nicht wiederholen. Narzisstische Diktatoren, die ihr eigenes Wohl im Blick haben, statt das ihrer eigenen Familien, ihrer Nachkommen, geschweige denn ihrer Bürgerinnen und Bürger, werfen Keile in das gut geschmierte Räderwerk der Weltwirtschaft.

Greift diese Mentalität um sich, könnte es jetzt statt zu einer konzertierten Aktion zur Begrenzung der globalen Krisen zu einem Abdriften in eine Einzelkämpfer-Mentalität kommen: Jeder ist sich selbst der Nächste. Zum Glück gibt es noch den Konsens der Vereinten Nationen, die sich zwar als recht zahnlos erweisen, aber zumindest recht eindrucksvoll ihre Einigkeit gegen den russischen Angriffskrieg demonstrierten. Was zeigt, in welch fatalem Abwärtsstrudel sich Russland derzeit befindet. Fehlende Zukunftsperspektiven treiben die Gesellschaft immer tiefer in die Abgründe der Brutalität. Letztes As im Ärmel ist die blanke nukleare Gewaltandrohung. Im Gegenzug steigt China zum dominierenden Faktor für die Gestaltung der Weltordnung auf und zur zweiten Großmacht neben den USA.

Das bedeutet aber auch, dass künftig chinesische Wertvorstellungen stärkeres Gewicht in der Welt erlangen werden. Für die europäischen Werte brechen schwierige Zeiten an. Weltpolitik ist interessengesteuert, und zu diesem Umstand sollte man auch stehen. Demokratie lässt sich nicht oktroyieren. Die Rolle Deutschlands und Europas in der Welt rückt sich in der Krise zurecht. Und auch die Sicht auf die eigene Verfasstheit. Es gibt keine Vollkasko-Wohlstandsgesellschaft, das dürfte mittlerweile jedem hierzulande klar geworden sein. Wie heißt es bei Hesiod: Vor den Erfolg haben die Götter den Schweiß gesetzt. Das erfährt derzeit vor allen anderen der Bundeswirtschaftsminister am eigenen Leib, der den Job hat, den auf Grund gelaufenen Tanker Deutschland wieder flott zu machen.

Wo bleiben die anderen Minister? Es bedarf keiner besonderen Fähigkeiten zu erkennen, dass der Reformbedarf hierzulande auch außerhalb der Energiekrise immens ist: Das fängt bei der überbordenden Bürokratie an, die allen Fortschritt im Keim erstickt, das geht weiter über die allzu träge Verwaltung, die marode Infrastruktur, den Fachkräftemangel, die Bildungsmisere, die Mangelwirtschaft bei der Bundeswehr, die Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik, das Zusammenwachsen Europas und, und, und. Die wirtschaftliche Stimmung bessert sich? Na dann los: Es ist an der Zeit, etwas zu wagen!

 

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