Auf dem Weg zur Materialnachhaltigkeit

Die Vorentwicklung bei Volkswagen treibt den Einsatz nachhaltigerer Materialien voran – einige Herausforderungen schildert Nachhaltigkeitsexperte Timo Achtelik. 

Timo Achtelik ist Nachhaltigkeitsexperte Werkstofftechnik in der Technischen  Vorentwicklung von Volkswagen.
Timo Achtelik ist Nachhaltigkeitsexperte Werkstofftechnik in der Technischen Vorentwicklung von Volkswagen.
Volkswagen Beitrag

Herr Achtelik, was ist die Rolle der Vorentwicklung bei der Entwicklung nachhaltiger Materialien?

Die Vorentwicklung ist das Bindeglied zwischen Forschung und Entwicklung. Wir greifen Innovationen aus anderen Fachbereichen und direkt aus dem Markt auf. Wir entwickeln und prüfen sie für einen potenziellen Serieneinsatz, noch unabhängig von spezifischen Fahrzeugprojekten. Wenn eine Innovation dann einem konkreten Fahrzeugprojekt zugewiesen wird, übergeben wir an die Serienentwicklung. 
 

Welche Materialien haben die größte Chance den Schritt in die Entwicklung zu schaffen? 

Es gibt Anforderungen der Kund:innen, des Marktes und des Gesetzgebers – wenn wir diese Prämissen mit unseren Innovationen verknüpfen können, hat eine Neuerung gute Aussichten. Konkret schauen wir uns an, was in einigen Jahren ins Auto kommen könnte. Wir konzentrieren uns auf die passenden Werkstoffe für das jeweilige Bauteil. Dazu zählt nicht nur der CO2-Fußabdruck des Materials an sich, sondern auch, dass möglichst wenig Material zum Einsatz kommt. Zudem achten wir darauf, dass Materialien effizient entwickelt werden, etwa was ihre Hitze- und Kratzbeständigkeit oder die Vermeidung von Over-Engineering angeht. 
 

Wie kann man sich Ihre Arbeit genauer vorstellen?

Unser Bereich ist eine gute Mischung aus praktischer Arbeit im Labor sowie computergestütztem Ausprobieren und Erproben. Im Labor verfügen wir über diverse werkstofftechnische Instrumente, beispielsweise Zugprüfmaschinen und Emissionskammern oder Geräte zur Analyse von Belichtung, Abriebsfestigkeit und Kratzbeständigkeit. Ergänzend sind Simulationen am Computer wichtig. Wir sind zunehmend digital unterwegs, indem wir Datenbanken mit sämtlichen Automotive-Materialien und deren Kennwerten generieren. Damit lassen sich Materialien schnell vergleichen und sie sind hilfreich bei der Auswahl geeigneter Werkstoffe für ein Bauteil. 
 

Welche Rolle spielen Anregungen von außen?

In der Werkstofftechnik stehen wir täglich in engem Kontakt mit den Akteuren des Rohstoffmarkts, die neue Lösungen aus Kunststoff, Metall oder Textilien anbieten. Wir integrieren technologische Neuerungen kontinuierlich in unsere Innovationsprozesse und bewerten, ob unter den Aspekten der Nachhaltigkeit, Kosten und unserer Spezifikationen eine Weiterverfolgung sinnvoll ist. Finden wir ein Material interessant, stellen wir es den anderen Fachbereichen vor. Da alle Fachbereiche von Design, Konstruktion, Beschaffung bis zum Vertrieb andere Anforderungen haben, ist dieser Prozess oft diskussionsintensiv, bis ein guter Kompromiss im besten Sinne der Kund:innen gefunden wird.  
 

Wie identifizieren Sie neue Materialien? 

Beim Scouting neuer Materialien sind wir ganz offen. Sie können aus der Möbel-, Textil-, Elektronik-, Rohstoff- oder Recyclingindustrie kommen. Mit unserem Design arbeiten wir eng zusammen, denn auch aus diesem Fachbereich kommen viele wertvolle Impulse. Wichtig sind hier neue Denkweisen, um die Tür für innovative und kreative Lösungen aufzumachen und potenziellen Materialien eine Chance zu geben.
 

Wie wichtig ist Nachhaltigkeit bei Ihrer Arbeit?

Materialnachhaltigkeit ist bei uns zentral. Wir betrachten sie unter ökologischen, ökonomischen und sozialen Aspekten. Ökologisch bedeutet, dass wir auf sekundäre oder biologische Rohstoffe setzen, aber auch darauf schauen, was am Ende des Lebenszyklus geschieht – sind die Werkstoffe kreislauffähig, kann man sie aufbereiten, trennen, welchen CO2-Fußabdruck hinterlassen sie? Ökonomische Nachhaltigkeit bezieht sich auf akzeptable Kosten und die Verfügbarkeit, woher und wie der Werkstoff bezogen wird. Ebenso wichtig ist die soziale Komponente. 

Materialmuster aus Polyester-Garn - gewonnen aus recycelter Arbeitskleidung
Materialmuster aus Polyester-Garn - gewonnen aus recycelter Arbeitskleidung
Timo Achtelik bewertet in der Lichtkammer die Oberflächenbeschichtung nach einer Kratzprüfung mit dem Erichsen-Kratzstab.
Timo Achtelik bewertet in der Lichtkammer die Oberflächenbeschichtung nach einer Kratzprüfung mit dem Erichsen-Kratzstab.
Kundenklinik IAA 2023 in München – nachhaltige Materialien stoßen auf großes Interesse und wurden den Besucher_innen detailliert erklärt.
Kundenklinik IAA 2023 in München – nachhaltige Materialien stoßen auf großes Interesse und wurden den Besucher_innen detailliert erklärt.

Auf der IAA hat Volkswagen verschiedene nachhaltige Materialien vorgestellt – welche kamen bei den Besucher:innen besonders gut an?

Für unsere Aktivitäten ist es wichtig, dass wir frühzeitig unsere Kund:innen mit einbinden. Sie sollen neue und nachhaltige Materialien akzeptieren, dafür brauchen sie Informationen. Deswegen haben wir auf der IAA 2023 zehn verschiedene Materialien vorgestellt. Sie sind kreislauffähig, biobasiert oder beruhen auf Recycling. Das Highlight war ein Material auf Hanfbasis, das in Zukunft herkömmliche Kunstleder im Innenraum ersetzen soll. Wir verwenden dafür überschüssige Reststoffe aus der Landwirtschaft. Daraus entsteht ein Material, das Kunstleder ähnelt. Es ist mehrfach nachhaltig, einerseits als Industriehanf an sich, zum anderen kann es regional angebaut und am Ende der Nutzungsdauer recycelt und kompostiert werden. 
 

Haben Sie weitere Beispiele?

Zukünftig wäre auch ein Sitzbezug denkbar, den wir aus neu hergestelltem Polyester-Garn aus recycelter Arbeitskleidung von Volkswagen gewinnen. Die Kleidung sammeln wir ein, sortieren und reinigen sie, anschließend wird die Altkleidung geschreddert und die Fasern neu zusammengeführt. Aus diesem Volkswagen-Garn können wir einen textilen Werkstoff produzieren, der künftig als Sitzbezug oder für Dekore verwendet werden könnte. Die Idee dahinter: Der Sitzbezug entspricht nicht nur unseren Qualitätsstandards, sondern in ihm steckt tatsächlich ein Stück Volkswagen. Ein drittes Beispiel sind Fußmatten, bislang ein Multimaterial aus PET und PVC, für das Recycling sehr ungünstig. Wir verwenden nun ausschließlich PET, aus dem bei der Entsorgung wieder neues PET wird.
 

Warum gibt es nicht viel mehr nachhaltige Materialien in Autos?

Volkswagen steht für nachhaltiges Denken und Handeln, jeder Fachbereich hat einen anderen Fokus mit eigenen Herausforderungen. Aber wir haben nicht alles allein in der Hand – wir sind wiederum auf die Neuerungen der Rohstofflieferanten angewiesen, die selbst gewaltige Investitionen für Innovationen aufbringen. Ein von uns identifiziertes Material muss bis zum Einsatz viele Tests absolvieren. Je nachdem, wo es im Auto verbaut wird, gibt es unterschiedliche Anforderungen. So werden an ein Material für einen Sitzbezug deutlich höhere Anforderungen gestellt, da Knöpfe, Reißverschlüsse, mitunter auch Schweiß, das Material belasten. Ein Oberflächenmaterial auf dem Armaturenbrett ist zwar weniger physischer Belastung ausgesetzt, muss dafür aber intensiver Sonneneinstrahlung standhalten.
 

Seit wann widmet sich Volkswagen diesen Themen?

Was wir heute an Nachhaltigkeit im Auto finden, hat seinen Ursprung vor Jahren genommen, als Nachhaltigkeit noch gar nicht so en vogue war, trotzdem hat Volkswagen schon damals intensiv auf Nachhaltigkeit gesetzt und sein Engagement immer weiter ausgebaut. 
 

Können die Prozesse bei Volkswagen nicht beschleunigt werden?

Wir tun alles, um schnell zu sein. Dennoch müssen manche Tests sehr lange laufen, um abzusichern, dass ein Material im Auto einsatzfähig ist. Letztlich ist für uns aber auch der Preis wichtig, damit unsere Modelle trotz gestiegener Nachhaltigkeitsanforderungen und Gesetzgebungen bezahlbar bleiben. Der nachhaltige Umgang mit Ressourcen ist in unseren Unternehmenswerten verankert. Nachhaltigkeit darf kein Exklusivrecht sein, sondern soll allen Kund:innen zuteilwerden.

www.volkswagen.de/de/elektrofahrzeuge/nachhaltigkeit.html

Nächster Artikel