»Es ist ein außergewöhnliches Jahr«

Unsicherheit führt zu Schwankungen an den Kapitalmärkten und die sorgt bei vielen Anlegerinnen und Anlegern für schlaflose Nächte. Auch deshalb erfährt man im aktuellen Marktumfeld sehr viel über sich selbst, glaubt Professor Sebastian Müller von der TU München. Welche Strategien würde er jetzt empfehlen?

Prof. Dr. Sebastian Müller
Prof. Dr. Sebastian Müller
Interview: Julia Thiem Redaktion

Herr Professor Müller, die Kapitalmärkte werden immer wieder von Krisen beeinflusst. Ursachen und Dauer sind meist unterschiedlich, gemein ist ihnen hingegen, dass sie auch wieder vorbeigehen. Das im Hinterkopf: Gibt es in der aktuell unsicheren Lage am Kapitalmarkt überhaupt Handlungsbedarf für Anleger?
Grundsätzlich stimme ich Ihnen zu. Durchatmen und investiert bleiben ist für langfristig orientierte Anleger meist ein guter Rat. Allerdings ist dieses Jahr insofern ein außergewöhnliches Jahr, als dass die klassische Diversifikation zwischen Aktien und Anleihen in Zeiten steigender Zinsen nicht besonders gut funktioniert. Und das ist nachvollziehbar: Der Diskontfaktor, mit dem Gewinne im Aktienbereich abgezinst und Anleihen bewertet werden, verändert sich in beiden Fällen. Und doch ist es außergewöhnlich, da beispielsweise die 60-40-Regel – 60 Prozent Aktien und 40 Prozent Anleihen – als Diversifikation und damit Absicherung in einem Portfolio ausgehebelt wird. Das war in den vergangenen Krisen anders, sei es Dotcom, Lehman oder auch Corona.

Funktioniert Diversifikation als Instrument zur Risikostreuung im aktuellen Umfeld überhaupt noch?
Nur über Rohstoffe, die in diesem Jahr verhältnismäßig gut abgeschnitten haben. Ob das aber so bleibt, wenn wir wirklich eine Rezession bekommen, müssen wir abwarten. Die aktuell steigenden Zinsen haben also tatsächlich eine sehr außergewöhnliche Implikation für ein Portfolio.

Was können und sollten Anleger daraus ableiten?
Mit dieser Frage haben meine Kollegen und ich uns in dem Buch „Die genial einfache Vermögensstrategie: So gelingt die finanzielle Unabhängigkeit“ beschäftigt – obwohl die Voraussetzungen bei Erscheinen 2020 noch andere waren, da wir uns noch in dieser langanhaltenden Niedrigzinsphase befunden haben. Deshalb haben wir uns gefragt, ob man denn wirklich vorhersagen kann, wie sich die Zinsen entwickeln. Spoiler: Man kann es nicht. Die Tatsache, dass die Zinsen jetzt gestiegen sind, bedeutet nicht, dass die Zinsen auch weiter steigen.

Was gegen den Versuch spricht, jetzt den Markt zu timen…
Ganz genau. Jetzt hektisch umzuschichten, macht wenig Sinn. Allerdings glaube ich, dass Anleger in der momentanen Situation sehr viel über sich selbst lernen können. Jeder, der nun merkt, dass er oder sie die Schwankungen im Portfolio nicht aushalten kann, sollte dieses Gefühl nicht ignorieren, sondern das Portfolio schon an die aktuelle Risikobereitschaft anpassen, sprich, einen Teil des Portfolios verkaufen, das Geld auf einem Tagesgeldkonto parken oder in einen ETF investieren, der Staatsanleihen mit kurzer Laufzeit abbildet, also verhältnismäßig viel Sicherheit bietet.

ETFs sind vor dem Hintergrund ein spannendes Stichwort: Die großen Indizes sind zum Teil weit im Keller. Mit einem passiven, indexbasierten Fonds nehme ich diese Talfahrt als Anleger doch voll mit.
Die Alternative ist das Vertrauen in einen aktiven Fondsmanager, der das oben angesprochene Markttiming auch erst einmal schaffen müsste, um besser abzuschneiden als ein passiver Indexfonds. Hierzu gibt es zahlreiche Studien, die immer wieder belegen: Das gelingt nicht. Wenn überhaupt, gibt es vereinzelt Fonds, die sich auf kleine Werte, Märkte oder Wachstumstitel spezialisieren, die vielleicht einen gewissen Informationsvorsprung bei der Einzeltitelauswahl haben. Diese Fondsmanager müssen Sie als Anleger allerdings erst einmal identifizieren – und vergangene Performance ist kein Garant für zukünftige Performance.

Aus wissenschaftlicher Sicht: Wie viel Zufall steckt in einer guten Performance aktiver Fonds?
Ich glaube, die meisten Anleger unterschätzen, wie viel Zufall tatsächlich in den Daten steckt. Aus wissenschaftlicher Sicht ist die Quintessenz deshalb klar: Der Durchschnitt der Fondsmanager schlägt auch aufgrund höherer Gebühren den Index nicht. Was Sie außerdem nicht vergessen dürfen: Mit einer Kapitalanlage beteiligen Sie sich an einem unternehmerischen Risiko und dieses Risiko wird in Form höherer erwarteter Erträge abgegolten. Das ist, was Sie bei den langfristigen Betrachtungen eines Aktienengagements immer wieder sehen. Zusätzliche Risiken, die nicht vergütet werden, gilt es, möglichst zu vermeiden. Und das managerspezifische Risiko, also das Risiko, den falschen Fondsmanager auszuwählen, gehört dazu – eben weil es dafür keine Kompensation gibt.

Illustration: Iza Buleczka
Illustration: Iza Buleczka
Illustration: Iza Buleczka
Illustration: Iza Buleczka
Illustration: Iza Buleczka
Illustration: Iza Buleczka

Was der Mensch nicht kann, kann vielleicht die Maschine: Wie schneiden Robo-Advisor in Sachen Markttiming und Rendite in Ihrer Bewertung ab?
In erster Linie müssen Sie sich das Modell des jeweiligen Robo-Advisors genau anschauen. Alleine im deutschen Markt gibt es mittlerweile über 30 Robo-Advisor, was förmlich nach einer Konsolidierung schreit. Die meisten dieser Robos zeichnen sich allerdings schon dadurch aus, dass sie in ETFs investieren, also aufgrund der Kosten auf aktives Fondsmanagement verzichten. Wie viel Computer im Robo-Modell enthalten ist, variiert dann jedoch stark – mit Blick auf die persönliche Beratung, aber auch, wie aktiv oder passiv ein regelbasiertes Modell verfolgt wird. Passiv kann in dem Zusammenhang beispielsweise heißen, die Gewichte – also etwa die 60-40-Regel – im Zeitverlauf beizubehalten. Alle paar Monate käme es dann automatisch zu einem Rebalancing. Es gibt aber auch Robos, die sich wesentlich aktiver am Markttiming versuchen, beispielsweise über ein Risikomodell, das versucht Risikospitzen herauszufiltern. An extremen Schwankungen scheitern diese Modelle jedoch oft, weil sie im Vergleich zum Markt zu langsam sind. Anstatt also frühzeitig zu verkaufen, besteht das Risiko, den Abschwung voll mitzunehmen, um dann im Aufschwung nicht mehr investiert zu sein. Das hat die Corona-Krise gezeigt: Aktivere regelbasierte Modelle können in der Vergangenheit gut funktioniert haben, müssen es in der Zukunft aber nicht zwingend.

Höre ich hier ein „keep it simple“ raus?
Davon bin ich in der Tat ein Freund. Denn mit einem Robo sind wir auch wieder beim Thema Kosten: Anleger zahlen die Gebühren für den ETF und den Robo-Advisor. Die Frage ist, ob Sie ein Modell wie die 60-40-Regel, etwa mit einem einzigen breit gestreuten Aktien-ETF und einem breit gestreuten Anleihen-ETF, nicht genauso weit bringt und das günstiger. Zudem bin ich ein Verfechter von Sparplänen. Die monatliche Sparrate wird automatisch abgebucht, in der Regel schaut man nicht weiter danach und über diese kontinuierlichen Investments diversifizieren Sie den Markteintritt.

Sollten sich Anleger dann am besten auch um neue Themen wie Krypto gar nicht weiter kümmern – also zumindest nicht im Rahmen einer langfristigen Strategie?
Hier spielen natürlich sehr viele persönliche Präferenzen mit rein. Ich glaube, dass der Krypto-Markt von Narrativen lebt, beispielsweise, dass er das Geldsystem ersetzt, das neue digitale Gold oder der ultimative Inflation-Hedge ist. Ehrlicherweise habe ich meine Meinung hierzu noch nicht final gebildet. Das ist immer ein Prozess. Ich unterrichte an der TUM Digital Finance und beschäftige mich mit Kryptowährungen und Blockchain. Meine aktuelle Auffassung: Es ist vor allem auch ein Liquiditätsspiel. Solange viel Geld im Markt ist – von den Zentralbanken bereitgestellt –, sucht sich das Geld Wege zum Spielen. Und der Kryptomarkt war eine dieser Spielwiesen. Jetzt, wo das Geld durch eine restriktivere Geldpolitik eingesammelt wird, kommt auch der Kryptomarkt unter Druck. Das zeigt sich in diesem Jahr ganz besonders.

Gibt es aus wissenschaftlicher Sicht Argumente, dass sich eine Beimischung von Kryptowährungen im Portfolio auszahlt?
Wir haben in unserem Digital Finance Kurs eine Übung. Ausgangsbasis ist ein Portfolio mit 60 Prozent Aktien und 40 Prozent Anleihen, zu dem Bitcoin beigemischt wird. Damit gehen wir der Frage nach, wie viel Gewicht Bitcoin in einem diversifizierten Portfolio auf Basis seiner Wertentwicklung von 2011 bis 2020 optimalerweise haben dürfte, so dass das Rendite-Risiko-Verhältnis des Portfolios insgesamt maximiert wird. Das Ergebnis: vier Prozent – und das, obwohl der Bitcoin in diesem Zeitraum so unglaublich gut gelaufen ist. Grund sind seine wirklich extremen Schwankungen.

Ist die zugrundeliegende Technologie, also die Blockchain, aus Investorensicht dann spannender?
Das glaube ich schon. Ein Beispiel ist die Ethereum-Blockchain, über die sehr einfache Verträge in automatisierter Ausführung geschlossen werden können. Hier ist durchaus Potenzial erkennbar, dass in Zukunft etwa klassische Notarverträge auf diese Art und Weise den Weg in die digitale Welt finden könnten. Klar muss jedoch sein, dass es dafür noch extrem viele rechtliche Hürden zu nehmen gilt! Der Technologie hinter den Kryptowährungen räume ich aber generell in Zukunft eine größere Bedeutung ein – auch für die Finanzmärkte. Hier gibt es zumindest in verschiedenen Bereichen reale Anwendungsfelder. Ob Sie das jedoch zwingend in Ihr Portfolio übertragen müssen, lasse ich an dieser Stelle offen.

Krypto bleibt also eine persönliche Wette technologieaffiner Menschen, die sich darüber im Klaren sein müssen, dass sie mit dieser Wette auch falsch liegen können?
So kann man es zusammenfassen.

Wenn neue Technologien nicht der Heilsbringer sind, ist es dann vielleicht das ESG-Konzept – auf die Unternehmen zu setzen, die mit der richtigen Strategie für die Zukunft gewappnet sind?
Es gibt mittlerweile Metastudien, die sich den Zusammenhang zwischen Nachhaltigkeit und Performance mit einem positiven Ergebnis angeschaut haben. Allerdings gibt es da methodisch diverse Probleme: Zum einen könnte es sich um eine umgedrehte Kausalität handeln. Heißt: Ein Unternehmen hat Geld, weil es gut gewirtschaftet hat, und kann sich die Nachhaltigkeit überhaupt nur deshalb leisten. Das zweite Problem bei der Bewertung solcher Studien ist die Unschärfe beim Begriff Nachhaltigkeit, den jeder etwas anders auslegt und der sich im Zeitablauf auch immer wieder verändert. Aus meiner Sicht ist es schwierig, daraus Empfehlungen für die Zukunft abzuleiten. Wahrscheinlich ist es aber zumindest so, dass man mit einem ESG-Ansatz nicht schlechter fährt, wenn man zudem die Regeln der klassischen Portfoliotheorie befolgt. Denn die haben nach wie vor Bestand.

Prof. Dr. Sebastian Müller beschäftigt sich in seiner vielfach ausgezeichneten Forschung mit den Themen Asset Pricing, Asset Management, Investorenverhalten, Digital und Sustainable Finance. Er ist Professor für Finanzierung an der Technischen Universität München (TUM) School of Management am Campus Heilbronn, einer von fünf Außenstellen der TUM.

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