Digitales Rückgrat

Die Vision klingt verheißungsvoll: digitalisierte und automatisierte Stromnetze. Quartiere, die Energie erzeugen, speichern und teilen. Elektroautos, die nicht nur laden, sondern zur Stabilisierung des Netzes beitragen. Technologisch ist das längst möglich, doch Deutschland bleibt oft im Pilotprojekt stecken. Warum?

Illustrationen: Nadine Schmidt
Illustrationen: Nadine Schmidt
Laura Puttkamer Redaktion

Um zu verstehen, was ein Smart Grid eigentlich ist, hilft der Blick zurück. „In der Vergangenheit waren gerade die Mittelund Niederspannungsnetze praktisch blind und nicht steuerbar“, sagt Simon Koopmann, CEO des Smart-Grid-Unternehmens Envelio. Die großzügig ausgelegten Netze waren in der Lage, immer genügend Strom zu transportieren. Überlastungen wurden erst bemerkt, wenn Sicherungen auslösten.
 

VOM „BLINDEN NETZ“ ZUM INTELLIGENTEN SYSTEM


Im Zuge der Energie- und Verkehrswende werden die Netze durch Elektroautos, Wärmepumpen und Photovoltaikanlagen jedoch immer stärker beansprucht. Hier kommt Smart-Grid-Technologie ins Spiel, die aus der bisher starren und passiven Infrastruktur intelligente und flexible Netze macht. Sensoren, digitale Zwillinge und Echtzeitdaten zeigen, wo Strom fließt, wo Engpässe entstehen und wo Erzeugungsspitzen auftreten. Erst diese Transparenz schafft die Grundlage für Steuerung: Lasten verschieben, Einspeisung drosseln, Ladepunkte priorisieren. Das wird dringend nötig. Eine Wallbox für E-Fahrzeuge bedeutet häufig eine Verdopplung der Lastspitze in einem Einfamilienhaus. Wärmepumpen erzeugen an kalten Tagen zusätzliche Spitzen. Und die Integration von Solarenergie führt zu hohen Einspeisemengen zur Mittagszeit. Wenn alle Komponenten starr einspeisen beziehungsweise Strom beziehen, droht das Netz stellenweise zu überlasten.

Da große Netzausbauprojekte oft mehrere Jahre dauern, ist es umso wichtiger, die bestehende Infrastruktur bestmöglich zu nutzen und die Netze gezielt dort auszubauen, wo in der kommenden Zeit Netzengpässe zu erwarten sind. „Je intelligenter Netze sind, desto mehr können wir in die bestehende Infrastruktur integrieren und den Netzausbau gezielt dort vornehmen, wo er nötig ist“, sagt Koopmann. Sonst droht der Ausbau der erneuerbaren Energien ins Stocken zu geraten. Gleiches gilt für die Mobilitätswende: Ohne flexible Netze lassen sich viele neue Ladepunkte schlicht nicht anschließen. Smart Grids sind damit keine technische Spielerei, sondern Grundvoraussetzung für jedes Klimaziel.
 

VEHICLE-TO-GRID: AUTOS ALS SPEICHER


Potenzial steckt ebenso in Vehicle-to-Grid (V2G). Dabei speichern Elektroautos nicht nur Strom, sondern geben ihn bei Bedarf zurück ins Netz. Das kann Lastspitzen abfedern, etwa an Winterabenden, wenn Heizungen laufen und viele gleichzeitig laden wollen. Eine Flotte elektrischer Transporter enthält mehrere Hundert Kilowattstunden nutzbare Energie. In Summe wird das zu einem dezentralen Speicher am Straßenrand. Dass es funktioniert, zeigen erste Projekte wie etwa ELBE in Hamburg: Dort testen Energieversorger, Stadt und Autohersteller, wie Ladepunkte dynamisch gesteuert werden können. Ladezeitpunkte verschieben sich um wenige Minuten oder Stunden – für Nutzer*innen kaum spürbar, für das Netz enorm wirksam. In Simulationen lässt sich die Belastung so um bis zu einem Viertel reduzieren. In ersten Flotten wird zusätzlich V2G erprobt: Fahrzeuge nehmen Solarstrom auf und geben ihn später wieder ab. Für die Skalierung fehlt jedoch einheitliche Technik. Ohne Datenstandards und klare Vergütungsmodelle bleibt V2G ein vielversprechender Prototyp.

V2G braucht ein intelligentes Netz, das erkennt, wann Energie wo fehlt und welche Fahrzeuge verfügbar sind. Und genau an dieser Intelligenz fehlt es vielerorts. „Zunächst einmal müssen wir den Smart-Meter-Rollout in den Griff bekommen und beschleunigen“, so Koopmann. Damit erhalten Netzbetreiber wichtige Daten und die Möglichkeit, bei Bedarf Erzeuger, wie beispielsweise PV-Anlagen, sowie Verbraucher, wie zum Beispiel Wärmepumpen und Ladestationen, zu dimmen. „Zurzeit haben wir hier noch einen Bottleneck, der sowohl Smart Homes als auch Smart Grids ausbremst.“ Nur rund 3 Prozent der deutschen Haushalte haben einen Smart Meter, während andere europäische Länder wie Schweden, Dänemark und Italien bereits eine fast vollständige Abdeckung erreicht haben.

Zersplitterte Zuständigkeiten sind ein weiteres Problem. Viele Stadtwerke, Netzbetreiber, Kommunen und Mobilitätsanbieter arbeiten nebeneinander statt miteinander. Gerade für funktionierende Ladepunkte müssen jedoch E-Fahrzeuge, Netzbetreiber und Stadt miteinander kommunizieren. 
 

SMART GRIDS FÜHREN MOBILITÄTS-UND ENERGIEWENDE ZUSAMMEN


Energie- und Mobilitätswende sind längst untrennbar miteinander verbunden. Jede Wärmepumpe, jede PV-Anlage und jedes Elektroauto greift auf dasselbe Netz zu und erhöht damit die Komplexität im Hintergrund. Smart Grids machen diese Wechselwirkungen sichtbar und steuerbar. Sie zeigen, wann zu viel Solarstrom ins Netz eingespeist wird, wann Wärmepumpen Spitzen verursachen und wie sich Ladebedarfe verteilen.

„Ohne intelligente Netze können wir die Mobilitäts- und Energiewende nicht parallel weiterführen“, sagt Simon Koopmann. „Unsere Netze sind voller als früher. Statt nur auf den Ausbau zu setzen, sollten wir sie intelligenter betreiben. Das geht jetzt schon und hilft dabei, bestehende Infrastruktur zu optimieren.“ 

Für die Verkehrswende ist ein massiver Umstieg auf elektrische Fahrzeuge essenziell. Smart Grids helfen dabei, eine Überlastung des Netzes zu vermeiden, Lastspitzen intelligent auszugleichen und das Netz zu stabilisieren, anstatt es auszulasten. Dafür sind digitale Zwillinge, intelligente Messgeräte, die Live-Transparenz im Netz bieten, und eine dann mögliche Steuerung des Netzes die beste Strategie.

Die Beispiele beweisen, dass das Smart Grid bereits funktioniert. Die Technik, die Software und auch die Expertise sind da. Um die Ziele der Energiewende zu erreichen, müssen wir Mobilität mit Unterstützung erneuerbarer Energien als Bestandteil des Stromsystems denken. Smart Grids bringen diese Stränge zusammen – jetzt fehlt noch der Mut, das Rückgrat, daraus Realität zu machen. Und das am besten so schnell wie möglich.

 

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