In Berlin entsteht derzeit etwas ganz Großartiges: Nicht die Ampel-Koalition, sondern das Tesla-Werk in Grünheide. Hier will Elon Musks Unternehmen bis zu 500.000 Fahrzeuge im Jahr bauen – und zwar in einem Drittel der Zeit, die Volkswagen für seine Elektroautos benötigt. Dafür errichtet Musk in Windeseile eine Fabrik sondergleichen.
Das Besondere an dem Standort in Grünheide ist die hohe Digitalisierung und Automatisierung, um schnell Fahrzeuge zu bauen. Die umfassende Digitalisierungsstrategie reicht weit über die Produktion von Autos hinaus und ist durch ihre Effizienz besonders nachhaltig. Tesla kann die Autobranche das Fürchten lehren.
Doch auch die deutschen Automobilkonzerne sind den Paradigmenwechsel der Elektrifizierung und Digitalisierung angegangen. Volkswagen beispielsweise. Der zweitgrößte Autobauer der Welt hat mittlerweile einen beeindruckenden Ausstoß an Elektrofahrzeugen realisiert. Nun investiert er mit der „New Auto“-Konzernstrategie bis zum Jahr 2025 rund 27 Milliarden Euro in die weitere Digitalisierung des Unternehmens. „Nachhaltigkeit und Digitalisierung sind die zentralen Treiber im Volkswagen-Konzern“, sagt Beate Hofer, Chief Information Officer der Volkswagen AG. 12.000 IT-Experten arbeiten bei Volkswagen weltweit an diesem Projekt.
Eine Grundlage für die neue Autowelt ist die Industrial Cloud: das nach Volkswagen-Angaben weltweit wohl größte Cloud-Projekt seiner Art. „Innerhalb der Volkswagen-Gruppe wird die Cloud die Daten aller Maschinen, Werke und Systeme bündeln, da wir alle Standorte weltweit vernetzen“, sagt Nihar Patel, New Business Development Volkswagen. Zukünftig werden dort die Daten aller Maschinen, Anlagen und Systeme aus 118 Fabriken zusammengeführt und analysiert. Ziel ist, durch die digitale Transformation von Produktion und Logistik der gesamten Gruppe die Produktivität von Volkswagen um 30 Prozent zu steigern. Gleichzeitig will Volkswagen sich zum Tech-Konzern weiter entwickeln und seinen Kunden zukünftig alles aus einer Hand bieten – von Hardware über Software bis hin zu Services.
Das vernetzte Internet of Things
Vernetzte Produktionsanlagen und Systeme basieren auf dem Internet of Things: Werkzeuge, Maschinen und Bauteile befinden sich im stetigen Austausch miteinander oder vergeben über die Maschinensteuerung selbständig Aufträge, zum Beispiel für eine Wartung, eine Reparatur oder bestimmte Anpassungen in der Produktionslinie. Hochkomplexe Analyse-Programme wiederum berechnen die effizientesten Wege und Verfahren. In diese umfassenden Geschäfts- und Wertschöpfungsprozesse sind Zulieferer, Partner und Kunden eingebunden. „Die Daten, die wir mit der Industrial Cloud zusammenführen, schaffen durch intelligente Algorithmen und Software-Anwendungen mehr Effizienz. Einer der elf Pionierpartner hat beispielsweise einen Algorithmus entwickelt, der mithilfe Künstlicher Intelligenz den Einsatz fahrerloser Transportsysteme optimiert. Ein anderes Unternehmen verfügt über eine Anwendung, mit der sich die Wartungsintervalle von Maschinen simulieren lassen. Die Beispiele zeigen: Mit der Zahl der Partner wächst das Angebot an Lösungen, auf die unsere Werke zurückgreifen können“, sagt VW-Manager Patel.
Digitale Zwillinge für optimierte Abläufe
Auch viele kleine und mittlere Unternehmen oder Start-ups nutzen die Digitalisierung, um die Industrie voranzutreiben – hin zu mehr Digitalisierung und zu mehr Nachhaltigkeit. Zum Beispiel – um in der Autobranche zu bleiben – bei der Entwicklung von Motoren. Damit die künftigen Elektroantriebe auch möglichst ressourcensparend entwickelt und gefertigt werden, setzt das Start-up Alvier Mechatronics aus Bad Dürkheim auf einen sogenannten Digitalen Zwilling. Hierbei werden alle Komponenten des Produkts – maßgefertigte Elektromotoren – digital entwickelt, sogar der Testlauf des fertigen Motors findet digital am Rechner statt. Verbrauchsdaten, Temperatur, Vibrationen oder die Geräuschentwicklung können so schon vor der Herstellung ermittelt werden.
Damit nicht genug: Die Ingenieure simulieren bei Alvier Mechatronics nicht nur die fertigen Motoren am Rechner, sondern deren Entstehungsprozess in der Fabrik. So bilden sie den gesamten Produktionsprozess des Motors digital ab und planen dessen Fertigung möglichst energiesparend und ressourceneffizient. Und das ohne den realen Aufwand intensiver und langer Testphasen.
So reduziert Technik Emissionen
Solche Digitalen Zwillinge sind ein entscheidender Schritt in der Digitalisierung der industriellen Fertigung, weil sie die Fertigung so effizient machen. „Die Hoffnung in Sachen Effizienz besteht darin, frühzeitig, etwa bei der Planung und Konstruktion, mögliche Fehler zu erkennen und Prozessabläufe optimieren zu können“, erklärt Hendrik Grosser von der Managementberatung Detecon in Deutschland. „Neue Produkte, aber auch Geschäftsmodelle und sogar Partnerschaften können so digital erprobt werden, ohne sie aufwendig in der Realität aufbauen zu müssen.“
„Twins“ können dafür sorgen, den Treibhausgasausstoß von Unternehmen oder ganzen Ökosystemen zu verringern, und zwar nicht nur in der industriellen Fertigung, sondern über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg. Maschinenbauer optimieren mit dem Zwilling die Wartungszyklen teurer Anlagen, identifizieren Schwachpunkte in der Konstruktion und planen die Beschaffung neuer Anlagen. Und nur durch laufende Echtzeit-Datenanalyse aus der Produktion könnte mit dem Einsatz von Digital Twins die Effizienz des Maschineneinsatzes um 20 Prozent verbessert werden, schätzen Experten.
Chance zur Erneuerung
In der Digitalisierung industrieller Prozesse steckt also eine gewaltige Chance. Sie hilft, effizienter und nachhaltiger zu produzieren. Und sie sichert ganzen Branchen das Überleben, weil Effizienz und Nachhaltigkeit die Schlüssel für die Industrieproduktion von morgen sind. Drei Viertel der Industrieunternehmen in Deutschland sind davon überzeugt, dass Industrie 4.0 den CO2-Ausstoß verringert, sagt die Bundesregierung. Denn nur mit der Digitalisierung lässt sich der Weg der Industrie in die CO2-Neutralität erreichen.
Das kostet nämlich exorbitant viel Geld: Allein in Deutschland müssten bis 2045 fünf Billionen Euro in bereits bestehende Infrastruktur, Anlagen und Gebäude gesteckt werden, so die Unternehmensberater von McKinsey in ihrer Studie „Net-Zero Deutschland“. Hinzu kommen weitere Zusatzinvestitionen in sogenannte „grüne Sachgüter“ in Höhe von rund einer Billion Euro. Dieses Geld fließt in zusätzliche Anlagen, Fahrzeuge oder Wärmetechnik, um die Klimaziele zu erreichen.
Schon schlagen Experten Alarm. Die Attraktivität Deutschlands als Wirtschaftsstandort ist in Gefahr, haben die Wirtschaftsprüfer von KPMG gerade festgestellt. Für die Studie „Business Destination Germany 2022“ hat KPMG die CEO der größten deutschen Tochtergesellschaften internationaler Konzerne aus den wichtigsten Investorenländern zu den Standortstärken Deutschlands befragt. Und tatsächlich: Als größtes Investitionshemmnis zählen internationale Konzerne die unzureichende digitale Infrastruktur. Nur 13 Prozent bescheinigen Deutschlands digitaler Infrastruktur eine fortschrittlich-überzeugende Qualität. 35 Prozent bezeichnen sie dagegen als schlecht. „Die sich neu bildende Bundesregierung steht vor einer Mammutaufgabe, um den Wirtschaftsstandort Deutschland fit zu machen für eine Welt im Umbruch“, sagt Andreas Glunz, Bereichsvorstand International Business bei der KPMG.
Digitalisierung muss zur Erfolgsstory werden
Dabei könnte eines der Regierung und den Unternehmen helfen: Digitalisierung und nachhaltige Produktion kosten nicht nur viel Geld, sondern vermeiden hohe Kosten durch viele operative Ausgaben, zum Beispiel bei Kraftstoff- und Wartungskosten oder bei Energiekosten von Gebäuden. Energiemanagementsysteme können den Energieverbrauch eines Unternehmens um bis zu 10 Prozent senken und weltweit CO2-Emissionen in Höhe von 0,09 Gigatonnen verhindern, haben die Unternehmensberater von Boston Consulting ermittelt.
Und die Wende löst einen umfassenden Erneuerungsschub in den kommenden Jahren aus. Denn diese Erneuerung ist ein enormes Geschäft. Staat und Unternehmen investieren in neue Maschinen, Fahrzeuge, Gebäude und Technik – in Bereiche, in denen Deutschlands Unternehmen eine starke Position auf dem Weltmarkt einnehmen. Für Deutschland ist die Digitalisierung eine Chance, die Technologieführerschaft in vielen Exportbereichen zu erhalten. Und damit, so McKinsey, jeden fünften Arbeitsplatz und ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts sichern.
Wer den anstehenden Umbau der Wirtschaft erfolgreich durchführen will, der muss diese Vorteile vermitteln. Elon Musk hat das erkannt, als er sein Werk mitten in der gefürchteten brandenburgischen Provinz plante. Wie man es schafft, Politiker zu überzeugen und für sich zu gewinnen, Verfahren und Entscheidungsprozesse so fundamental zu beschleunigen – das sind vielleicht die wichtigsten Lehren, die andere Industrieunternehmen aus dem Tesla–Beispiel ziehen können, noch bevor der erste Wagen vom Band rollt.