Sensorik, Vernetzung, Datenanalyse

Das Zeitalter von Industrie 4.0 hat begonnen. Mittelständler können sich in so genannten „Mittelstand 4.0-Kompetenzzentren“ darüber informieren, wie sie ihre Produktion digitalisieren können.
Sensorik, Vernetzung, Datenanalyse
Illustration: Friederike Olsson
Interview: Mirko Heinemann Redaktion

Vor kurzem hat in Lemgo die Forschungs- und Demonstrationsfabrik SmartFactoryOWL ihre Türen geöffnet. Initiator Jürgen Jasperneite erläutert, wie der Mittelstand von der Digitalisierung profitieren kann.

 

Herr Jasperneite, die SmartFactoryOWL soll Mittelständlern die Vorteile der Digitalisierung aufzeigen. Ist das denn nötig?


Ich bin überzeugt davon, dass sich jeder Geschäftsführer bereits die Frage gestellt hat, was Industrie 4.0 für sein Unternehmen bedeutet. Doch je kleiner das Unternehmen ist, desto mehr ist es im Tagesgeschäft verhaftet und kann sich nicht intensiv damit auseinandersetzen. Viele Produktionsanlagen sind noch nicht durchgängig vernetzt – eine Voraussetzung für die Digitalisierung. Umso stärker sind sie auf Impulse von außen angewiesen.

In Sachen Digitalisierung gibt das Silicon Valley mit seinen IT-Weltkonzernen den Ton an. Wie schätzen Sie die Chancen für deutsche Unternehmen ein, hier mitzuhalten?


Wir sind nicht Weltspitze in der IKT, also der Informations- und Kommunikationstechnologie und werden sie sicherlich auch nicht neu erfinden. Jedoch sind wir sehr gut darin, komplexe technische Systeme zu bauen. Wir haben in Deutschland eine global führende Position im Maschinen- und Anlagenbau und in der Ausrüsterindustrie mit ihren eingebetteten Systemen. Daher glaube ich, dass wir beim Thema Industrie 4.0 durchaus auf Augenhöhe mit den Amerikanern sind. Zwar kommen die innovativen Geschäftsmodelle vor allem aus den USA. Aber am Ende des Tages muss man sie mit der physikalischen Welt verbinden. Und da sind wir wiederum stark, eben mit unserem Maschinen- und Anlagenbau.



Wie kann der deutsche Mittelständler von Industrie 4.0 profitieren?


Es gibt keine Blaupause für Industrie 4.0. Die Vielfalt an Technologien muss sehr zielgerichtet und individuell eingesetzt werden, um einem Unternehmen beim Übergang in die Digitalisierung zu helfen. Wir verstehen unsere Aufgabe so: Wir wollen eine Befähigungskette für den Mittelstand aufziehen. Sie beginnt mit speziellen Informationsangeboten zur Frage, was Industrie 4.0 überhaupt ist. Im nächsten Schritt können sich Unternehmer direkt bei uns in der Fabrik ansehen, was möglich ist.



Was können sie bei Ihnen sehen?


Wir zeigen in unserer Werkhalle verschiedene Funktionsbereiche einer typischen Produktion und demonstrieren, wie sie von digitalen Mitteln profitieren kann: von Sensorik, Vernetzung, Datenanalyse und Assistenzsystemen. Mittelständler können sich die Systeme live vor Ort ansehen und schauen, welche Wirkung die eine oder andere Technologie bewirken kann. Bei weitergehendem Interesse gehen wir dann in die Unternehmen hinein, bieten Prozessanalysen an, nehmen den Produktionsablauf auf und geben konkrete Handlungsempfehlungen.


Wie könnten die in der Praxis aussehen?


In hoch spezialisierten, produzierenden Unternehmen wird die Montage nach wie vor von qualifizierten Mitarbeitern durchgeführt. In Zukunft wird ein Unternehmen zunehmend individualisierte Produkte fertigen müssen, die Zahl der Varianten wird also weiter steigen. Hier stellt sich die Frage, wie man die Mitarbeiter möglichst schnell schulen kann, so dass sie in der Lage sind, diese Varianten effizient und qualitativ hochwertig zu montieren. Wie bekommt man die Informationen an den
Arbeitsplatz, um jetzt ein Produkt zu fertigen und im nächsten Moment ein ganz anderes?


Wie zum Beispiel?


Der Monteur kann über mobile Computer geschult werden oder hat an Handarbeitsplätzen die Option, seine Montageanleitung über Augmented Reality-Anwendungen, also in einer virtuellen Arbeitsumgebung, zu beziehen. Diese Montageanleitung kann jederzeit modifiziert werden, wobei dem Monteur die einzelnen Arbeitsschritte über eine Datenbrille oder andere Interaktionstechniken aufgezeigt werden. Auch solche Anwendungen zeigen wir in der SmartFactoryOWL.

 

Ein weiterer Anreiz für Unternehmer wäre, die Produktion effizienter zu machen. Wie kann hier die Digitalisierung helfen?


Wir konnten zum Beispiel bei einem mittelständischen Hersteller von elektrischen Antrieben die Energieeffizienz seiner Anlagen steigern. Man kann Anlagen zwar so entwerfen, dass sie in dieser Konfiguration möglichst effizient arbeiten. Aber sobald die Anlage verändert oder erweitert wird, entstehen wieder erneute Engineeringaufwände. Wir konnten beispielsweise auf Basis von intelligenter Vernetzung und Echtzeit-Modellen den Komponenten die Fähigkeit einhauchen, dass sie sich im Verbund selbstständig auf einen minimalen Energieverbrauch optimieren. Damit hat dieses Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil, der von den Kunden honoriert wird.



Wie viel Energie lässt sich grundsätzlich durch Industrie 4.0 in der Fertigung einsparen?


Das läßt sich nicht pauschal beantworten. Wir konnten bei uns in Lemgo für ein Regalbediengerät in Intralogistikanwendungen eine Energieeinsparung von mehr als 15 Prozent realisieren. Grundsätzlich sehen wir in bestimmten Anwendungen ein Einsparpotenzial von mehr als 30 Prozent.



Laut einer Studie des Weltwirtschaftsforums könnte die Digitalisierung weltweit fünf Millionen Jobs kosten. Werden die Fabriken menschenleer?


In der hoch spezialisierten Fertigung werden die Roboter den Menschen ergänzen und mit ihm zusammen arbeiten. Ersetzen werden sie ihn nicht, jedenfalls nicht in absehbarer Zukunft. Für den Monteur heißt das, dass die Anforderungen an ihn steigen werden – und damit auch die Qualität seiner Arbeit. Das bedeutet: weniger Taylorismus, mehr Eigenverantwortung und Flexibilität. Der vorgedachte Arbeitsauftrag von 8 bis 16 Uhr, und am nächsten Tag hat schon wieder jemand anderes vorgedacht – das ist vorbei. Ich bin überzeugt davon, dass die Art der Arbeit sich vom Verwalten und Abarbeiten immer mehr in Richtung Gestalten verändern wird. Das gilt in Zukunft eben nicht mehr nur für das Management, sondern auch für den Werker am Band.



Werden Menschen sich in der Fabrik von morgen wohl fühlen?


In der Tat gilt es jetzt, solche Fragen zu debattieren und im Sinne der Mitarbeiter zu beantworten. Während in den letzten Jahren viele Projekte auch bei uns vor allem technologisch geprägt waren, rücken jetzt zunehmend Aspekte der Arbeitsgestaltung in den Vordergrund. Wir haben zum Beispiel in die Fabrikhalle unserer SmartFactoryOWL deckenhohe Fenster eingebaut, durch die man direkt ins Grüne schauen kann. Damit wollen wir auch ein Signal setzen: Die Fabrik der Zukunft soll eine attraktive Arbeitsumgebung sein.

 

Prof. Dr.-Ing. Jürgen Jasperneite ist Leiter des Instituts für industrielle Informationstechnik (inIT) der Hochschule Ostwestfalen-Lippe in Lemgo. 2009 gründete er und leitet seitdem auch das Fraunhofer-Anwendungszentrum Industrial Automation (IOSB-INA).

 

HINTERGRUND

 

SmartFactoryOWL
Die Fabrik der Zukunft steht auf dem Innovation Campus Lemgo. In der Region OWL – für Ostwestfalen-Lippe – sind zahlreiche produzierende Mittelständler ansässig, etliche davon sind Weltmarktführer in ihrem Bereich. In der Demonstrationsfabrik können sie sich darüber informieren, welche Chancen die Digitalisierung für ihr Unternehmen birgt. Die Einrichtung des Fraunhofer-Anwendungszentrums Industrial Automation und der Hochschule OWL wird als Teil des „Kompetenzzentrums für den Mittelstand in NRW“ vom Bundeswirtschaftsministerium gefördert. Beispielhaft sollen zukünftig in der Halle unter anderem moderne Schreibtischlampen am Fließband produziert werden. Ultraweitband-Sensoren an der Decke verfolgen alle Bewegungen von Menschen, Produkten und Maschinen in der Halle und senden sie an einen Zentralcomputer. So kann jeder Fertigungsschritt erfasst und analysiert werden. In allen Werkstückträgern wurde ein Mikrochip implantiert. Sie kommunizieren also direkt mit den Maschinen. Im Leitstand, hinter einer Glasscheibe mit Blick in die Halle, kann der Ingenieur auf Knopfdruck jeden Schritt der Produktion überwachen. Eine Software berechnet, wie viel Zeit und Energie die Fertigung benötigt.


Interessierte, die in der SmartFactoryOWL die Produktion einer Schreibtischlampe live erleben möchten, können bald über eine eigene App ein Exemplar nach ihren Vorlieben konfigurieren. Der Befehl geht direkt an die Maschine, die automatisch das gewünschte Produkt herstellt. Dieses individualisierte Produkt kann dann direkt an den Kunden überreicht werden.  Die SmartFactoryOWL bildet damit Industrie 4.0 in der gesamten Wertschöpfungskette ab. www.smartfactory-owl.de

 

Mittelstand 4.0
Derzeit entstehen mit Hilfe des Bundeswirtschaftsministeriums bundesweit so genannte „Mittelstand 4.0-Kompetenzzentren“ und „Mittelstand 4.0-Agenturen“. Sie sollen kleine und mittlere Unternehmen bei der digitalen Transformation unterstützen, ihnen helfen, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und neue Geschäftsfelder im Kontext von Digitalisierung und Industrie 4.0 zu erschließen. www.mittelstand-digital.de

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