»DIE WEICHEN FAKTOREN SIND ENTSCHEIDEND«

 Die Arbeitswelt wird immer flexibler. Remote Work, Digitalisierung, Künstliche Intelligenz verändern nicht nur Prozesse, sondern beeinflussen die Unternehmenskultur. Wie können Führungskräfte auf diese Veränderungen reagieren? Ein Interview mit Sabine Remdisch, Professorin für Personal- und Organisationspsychologie und Expertin für Digital Leadership.

Illustrationen: Nadine Schmidt
Illustrationen: Nadine Schmidt
Mirko Heinemann Redaktion

Frau Prof. Dr. Remdisch, Sie sind Gastwissenschaftlerin an der Stanford University und haben unter anderem im Silicon Valley über Führung und Arbeitsorganisation im Wandel geforscht. Wie sieht es mit den Kompetenzen in Digital Leadership im deutschen Mittelstand aus? 
Die Kompetenzen in Digital Leadership haben im deutschen Mittelstand in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen. Unternehmen müssen sich in einer immer komplexer werdenden, vernetzten, digitalisierten Welt behaupten, was spezifische Fähigkeiten von Führungskräften erfordert. In unserer Forschung haben wir in unserer Leadership-Garage das „Performance Leadership Model“ entwickelt, das aufzeigt, welche Führungsqualitäten für eine erfolgreiche digitale Transformation notwendig sind. Besondere Relevanz haben dabei Aspekte wie Kollaboration, Vertrauen und Empathie sowie Innovationskultur. Die sogenannten weichen Faktoren sind entscheidend, um die Mitarbeitenden mitzunehmen und die Organisation an die Anforderungen der digitalen Transformation anzupassen.

Können Sie das Modell umreißen? 
Wir haben vier zentrale Führungsbereiche identifiziert. Der erste Bereich ist die Vision. Der zweite ist die Interaktion, der dritte die Transformation, und der vierte Bereich heißt Preservation – das Bewahrende. Wenn ich eine Organisation voranbringen möchte – egal ob im Mittelstand, im Konzern oder im Start-up – benötige ich zunächst eine klare Vision. Dazu gehört eine Art „Inspirational Leadership“ und gutes Storytelling, um die Mitarbeitenden für die Ideen des Unternehmens sowie für Produkte oder Dienstleistungen zu begeistern. Familienunternehmen haben oft eine spannende Gründergeschichte und eine dynamische Wachstumsgeschichte, die ihnen ein einzigartiges Alleinstellungsmerkmal verleiht. Ein familiäres Umfeld, in dem der Chef oder die Chefin viele Mitarbeitende mit Handschlag begrüßt oder zumindest mit Namen kennt, spielt ebenfalls eine Rolle. Aber zur Vision gehört auch Innovation. Ich muss offen für Veränderungen sein. Die Welt verändert sich extrem schnell heute, und Unternehmen müssen in der Lage sein, rasch auf die vorherrschenden Bedingungen zu reagieren. Innovation wird somit zu einem wesentlichen Merkmal, um erfolgreich zu sein.

Was geschieht im Bereich „Interaktion“?
Das ist das klassische Führungsgeschäft: der Aufbau von Beziehungen. Führungskräfte müssen Vertrauen schaffen, und dafür ist es entscheidend, mit den Mitarbeitenden zu kommunizieren – besonders auch mit denen, die remote arbeiten, denn sie dürfen nicht vergessen werden. Hier kommen die digitalen Tools ins Spiel, die heute als zusätzliche Führungswerkzeuge dienen. Als Führungskraft sollte ich mit der Technik vertraut sein, sei es bei Videokonferenzen oder KI-Tools, und ich sollte auch wissen, wie ich ein digitales Brainstorming organisiere.

Digital Leadership ist also zum einen durch den Umgang mit der Technik geprägt, zum anderen durch psychologische Kompetenzen: Wie schaffe ich eine Führungskultur, die in der digitalen Zeit auch verbindlich ist? 
Genau. Ich finde den Begriff Digital Leadership allerdings nicht ganz zutreffend. Digitale Führung bedeutet nicht, dass wir ausschließlich mit Online-Tools arbeiten, sondern es geht vielmehr um Führung in einer stark digitalisierten Welt. Die zentrale Aufgabe in dieser digitalen Welt ist, dass wir Distanz überbrücken müssen. Wir arbeiten in globalen, vernetzten Strukturen, auf Entfernung und in verschiedenen Zeitzonen. Wir sprechen hier zwar nicht von einer völlig neuen Theorie, die speziell für das Führen in der digitalen Welt gilt – Führung ist insgesamt ein gut erforschtes Thema. Wenn wir die Distanz als Variable einbeziehen, könnte man salopp sagen, dass wir von allem eine Schippe drauflegen müssen. Wenn ich aus der Ferne arbeite, ist es wichtig, intensiver zu kommunizieren. Ich sollte häufiger nachfragen, Feedback geben, Rückfragemöglichkeiten anbieten. Es geht darum, mich intensiver um die Menschen zu kümmern und ihnen das Gefühl zu geben, auch aus der Ferne erreichbar zu sein. „Being there when you are not there“, wie ein Kollege aus den USA einmal gesagt hat.

Being there when you are not there – wie lässt sich das praktisch umsetzen? 
Das bedeutet: Selbst wenn meine Mitarbeitenden nicht im Büro sind, sondern im Homeoffice arbeiten, bleibe ich als Führungskraft präsent. Ich kommuniziere viel und teile meine Geschichte, meine Vision und meine Qualitätsansprüche. Führung heißt, nah an den Mitarbeitenden dran zu sein, trotz der Distanz. Dafür braucht es gutes Storytelling und eine klare Vision. Wenn ich es schaffe, diese Geschichte im Kopf der Mitarbeitenden zu verankern und wenn sie aktiv an unseren Zielen mitarbeiten wollen, dann behalten sie auch die Regeln und gemeinsamen Vereinbarungen im Gedächtnis – selbst wenn sie sich in einer anderen Zeitzone befinden.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Von den Digitalkonzernen im Silicon Valley kann man lernen, wie effektives Storytelling funktioniert. In regelmäßigen Townhall-Meetings am Ende der Woche blicken die Teams gemeinsam auf die Erfolge des Unternehmens zurück: Was haben wir gut gemacht? Wo wurden Meilensteine erreicht? Diese gemeinsame Rückschau fördert nicht nur die Reflexion, sondern schafft auch Raum für Anerkennung und das Feiern von Erfolgen. Das verbindet.

Wie schafft man den Spagat zwischen der ständigen Präsenz mit vielen Meetings und Festivitäten und einer effizienten Arbeit? 
In der digitalen Welt ist es entscheidend, noch gezielter und intensiver zu kommunizieren als in der analogen, da Kommunikation auf Distanz anfällig für Missverständnisse ist und Nuancen oft schlechter wahrgenommen werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass ständig Meetings einberufen werden müssen. Für eine erfolgreiche Zusammenarbeit über Distanz ist es wichtig, Erreichbarkeit zu signalisieren und präsent zu sein, wenn Fragen auftauchen oder Gesprächsbedarf besteht. Als jemand, der regelmäßig in den USA ist und von dort aus mit meinem Team kommuniziert, habe ich festgestellt, dass meine Teammitglieder es als stressig empfinden, wenn sie nicht wissen, wie und wann sie mich erreichen können, um Entscheidungen zu klären oder Informationen zu erhalten. Um dem entgegenzuwirken, habe ich eine virtuelle Offene Tür eingerichtet, bei der ich jeden Tag für eine Stunde über Videokonferenz erreichbar bin. In dieser Zeit kann jeder vorbeikommen und mit mir sprechen. Zusätzlich können wir klare Vereinbarungen treffen, wie etwa, dass jeder innerhalb eines Tages eine Antwort erhält. Wenn ich morgens etwas an meine Führungskraft sende, erwarte ich, vor Feierabend eine Rückmeldung zu bekommen. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die Elemente der Kommunikation, die im persönlichen Austausch gut funktionieren, auch in digitalen Formaten erfolgreich umgesetzt werden können.

Sie haben beschrieben, was passiert, wenn Führungskräfte oder Mitarbeitende nicht erreichbar sind. Das ist sicher auch ein Grund dafür, dass viele Unternehmen jetzt versuchen ihre Leute aus dem Homeoffice zurückzuholen. Ist diese Entwicklung zu begrüßen?
Unser Performance Leadership Modell zeigt, dass Mitarbeitende in hybriden Arbeitsverhältnissen bestimmte Kompetenzen benötigen, um erfolgreich zu sein. Besonders wichtig sind Fähigkeiten wie Selbstmanagement und Kommunikationskompetenz. Aber nicht nur die individuellen Fähigkeiten sind entscheidend – auch die organisatorischen Rahmenbedingungen spielen eine zentrale Rolle. Hier kommen moderne Tools und Technologien ins Spiel, die die Zusammenarbeit erleichtern. Darüber hinaus ist Transparenz ein Schlüssel zum Erfolg: Aufgaben sollten klar priorisiert werden, Verantwortlichkeiten sollten transparent kommuniziert werden, und regelmäßiges Feedback ist unerlässlich, um den Mitarbeitenden Orientierung zu geben. Die Persönlichkeit der Mitarbeitenden hat ebenfalls einen Einfluss auf ihre Arbeitsweise. Manche Mitarbeitende bringen eine hohe Selbstdisziplin mit und können eigenständig arbeiten, während andere auf soziale Kontrolle und klare Anweisungen angewiesen sind, um sich fokussiert zu halten. Ein weiterer Aspekt ist die räumliche Arbeitsumgebung. Ein gut ausgestatteter Arbeitsplatz kann die Produktivität fördern, während ein unangemessener oder ungemütlicher Arbeitsplatz störend wirken und die Konzentration beeinträchtigen kann. In der heutigen Arbeitswelt müssen Unternehmen flexibel sein, um den unterschiedlichen Bedürfnissen ihrer Mitarbeitenden gerecht zu werden. Insbesondere in globalen Teams ist hybrides Arbeiten wichtig, um das beste Expertenwissen zusammenzubringen und die Stärken aller Mitarbeitenden zu nutzen. Letztlich ist die durchdachte Gestaltung dieser hybriden Arbeitsstrukturen entscheidend für den Erfolg des Unternehmens.

Gibt es dafür ein Rezept?
Wir haben heute ein gutes Verständnis dafür, welche Erfolgsfaktoren für Führung auf Distanz oder in der digitalen Welt entscheidend sind. Dabei müssen wir zwei Ebenen bedienen: die Beziehungsebene und die Informationsebene. Auf der Beziehungsebene steht Vertrauen an erster Stelle. Das zeigt sich in fast jeder Studie: Vertrauen ist die zentrale Variable für den Erfolg. Damit hybride Arbeit, Distanzarbeit oder digitale Zusammenarbeit effektiv sein kann, ist ein Basislevel an Vertrauen unerlässlich. Auf der Informationsebene zählen Struktur, Transparenz und Klarheit von Rollen und Aufgaben. 

Was, wenn Mitarbeitende gerade neu im Team sind? Dann ist überhaupt noch kein Vertrauen aufgebaut.
Genau, der schnelle Aufbau von Vertrauen ist essenziell, stellt sich aber in der Distanz oft als langwierig und schwierig heraus. Das führt zu einem Dilemma: Einerseits benötigen wir ein hohes Maß an Vertrauen, andererseits ist es herausfordernd, dieses Vertrauen ohne direkten Kontakt aufzubauen. Ein effektiver Ansatz ist, regelmäßige Face-to-Face-Meetings zu organisieren. Diese persönlichen Treffen, bei denen man sich sprichwörtlich in die Augen schaut, sind äußerst wertvoll. Sie helfen nicht nur, die Distanz abzubauen, sondern fördern auch den Vertrauensaufbau. Wenn direkte Treffen nicht möglich sind, können kreative Lösungen helfen. Zum Beispiel könnten Mitarbeitende Fotos von ihrem Arbeitsplatz teilen. Solche kleinen Einblicke in die persönliche Arbeitsumgebung fördern das Verständnis füreinander und stärken die Verbindung, was wiederum das Vertrauen stärkt.

Worauf sollten Führungskräfte in der täglichen Routine achten?
Es ist wichtig, auf Signale zu achten und die Zwischentöne in der Kommunikation wahrzunehmen. Wenn jemand niedergeschlagen wirkt oder sich in seinem Verhalten verändert hat, ist es wichtig, nachzuhaken. Wenn wir die Person nicht direkt sehen und unsicher sind, wie es ihr geht oder ob sie überlastet ist, sollten wir nicht zögern, nachzufragen. Ein weiterer zentraler Aspekt der Beziehungsebene ist die reflektierte Kommunikation. Bevor ich eine E-Mail oder eine Nachricht verschicke, sollte ich kritisch überlegen, ob die Formulierungen klar und verständlich sind. Verstehe ich die verwendeten Begriffe klar, und könnten sie für den Empfänger vielleicht mehrdeutig sein? Besonders im interkulturellen Kontext muss ich auf mögliche Reizwörter achten, die Missverständnisse hervorrufen können. Es ist wichtig, auch die Möglichkeit einer Rückfrage einzuräumen. E-Mails müssen sorgfältig und gut strukturiert formuliert sein, vor allem wenn sie in eine andere Zeitzone gesendet werden. Jede Nachricht sollte so präzise und klar sein, dass der Empfänger darauf aufbauen und mit den gegebenen Informationen arbeiten kann.

Das klingt aber auch umständlich. Ist Distanz, also Remote Work, nicht damit auch ein Hemmnis für die Unternehmensabläufe, für Innovation und Transformation?
Das müssen wir im Detail anschauen. Innovation zum Beispiel funktioniert in der Regel besser, wenn wir uns persönlich gegenüberstehen. Zwar kann man auch digitales Brainstorming durchführen und Ideen generieren, doch sobald man gemeinsam in einem Raum ist, entwickelt das Meeting eine ganz eigene Dynamik. Die Diskussionen, die Energie und der Eifer, der entsteht, wenn jemand eine großartige Idee einbringt – das ist ansteckend und lässt sich nur schwer in virtuelle Formate übertragen. Daher empfehle ich, kreative Prozesse, bei denen man auch mit allen Sinnen dabei ist, möglichst persönlich zu gestalten.

Kann man Unternehmen also „remote“ weiterentwickeln, gar durch eine Transformation bringen?
Ich kenne Unternehmen, die komplett remote arbeiten und Mitarbeitende aus der ganzen Welt beschäftigen. Um die Distanz zu kompensieren, organisieren sie regelmäßig sogenannte Workation-Tage. Diese Auszeiten ermöglichen es den Teammitgliedern, sich zu treffen, kreativ zu arbeiten und Vertrauen aufzubauen. Ein Unternehmer erzählte mir, dass er sein gesamtes Team für eine Woche in die Toskana einlädt, um intensiv zusammenzuarbeiten. Das muss jedoch nicht immer eine ganze Woche sein. Man könnte auch jeden Monat einen Tag festlegen, an dem sich alle treffen – einen sogenannten Innovation Day.

Nun zündet mit der Künstlichen Intelligenz die nächste Stufe der digitalen Revolution. Was bedeutet dies für Führungskräfte?
Die durch KI vorangetriebene Transformation ist ein zentrales Thema für Unternehmen. Die Herausforderung besteht darin, die gesamte Workforce, also die Teams, umzustellen. Dies erfordert das Erlernen neuer Fähigkeiten für andere Aufgaben, also Reskilling, sowie die Erweiterung bestehender Fähigkeiten, also Upskilling. Außerdem müssen Schnittstellen für die Zusammenarbeit mit KI-Agenten geschaffen werden. KI wird sozusagen zu einem neuen Teammitglied. Diese Veränderungen können bei den Mitarbeitenden Widerstände und Ängste hervorrufen. Viele fragen sich, wie lange sie ihre aktuellen Jobs noch behalten können. Wenn die KI Aufgaben teilweise oder ganz übernimmt, die zuvor in ihren Verantwortungsbereich fielen, kann das das Selbstwertgefühl beeinträchtigen. Zudem stehen die Mitarbeitenden unter dem Druck, sich schnell in neue KI-Systeme einzuarbeiten. In dieser Phase des Wandels entsteht grundlegende Unsicherheit. Daher sind starke Führungspersönlichkeiten gefragt, die präsent sind und klar kommunizieren, dass sie gemeinsam mit den Mitarbeitenden durch die Transformation gehen und sie unterstützen werden. 

Prof. Dr. Sabine Remdisch
Prof. Dr. Sabine Remdisch

PROF. DR. SABINE REMDISCH 
ist Professorin für Personal- und Organisationspsychologie an der Leuphana Universität Lüneburg, Leiterin des dort angesiedelten Instituts für Performance Management und des MBA-Studiengangs Performance Leadership. In der LeadershipGarage, einer Forschungskooperation der Leuphana Universität mit namhaften Unternehmen aus verschiedensten Branchen, forscht sie unter anderem zum Thema Digitale Führung und ist als Gastwissenschaftlerin an der Stanford University, wo sie innovative Ansätze für die digitale und KI-gestützte Arbeitswelt entwickelt.

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