Frau Ostermann, wie schätzen Sie die aktuelle Wirtschaftslage ein?
Die Lage ist ernst, sehr ernst. Wir befinden uns im dritten Jahr der Rezession beziehungsweise Stagnation. In Umfragen unter unseren Mitgliedern befürchten die meisten der befragten Familienunternehmer, dass sich die wirtschaftliche Lage und auch Auftragslage weiter verschlechtern werden. Die Folge: Investitionen fließen aus Deutschland ab, und damit verbunden auch Arbeitsplätze. Wir brauchen dringend die Wirtschaftswende.
Bringt die neue Regierung Aspekte ein, die Ihnen Hoffnung machen?
Es gibt Aspekte, die in die richtige Richtung gehen. Zum Beispiel die degressive Abschreibung für Anschaffungen von Ausrüstungsgütern in Höhe von 30 Prozent. Allerdings gilt sie nur für drei Jahre. Was die Wirtschaft wirklich braucht, sind Strukturreformen, auf die man sich langfristig verlassen kann. Wenn ich eine neue Fabrik bauen will, dann muss die Produktion darin sich über 20, 30 Jahre rentieren und nicht nur temporär. Deswegen ist dieser Anreiz nicht ausreichend. Es ist auch richtig, die Körperschaftssteuer zu senken. Aber was viel wichtiger ist: alle Unternehmenssteuern zu senken, also auch für Personengesellschaften, auch die Einkommensteuer. Und auch nicht erst ab 2028 in Trippelschritten, sondern deutlich eher, und zwar wenigstens auf europäischen Durchschnitt. Es braucht eine umfassende Steuerreform.
»Was die Wirtschaft wirklich braucht, sind Strukturreformen, auf die man sich langfristig verlassen kann.«
Marie-Christine Ostermann
Gibt es noch weitere Punkte?
Ja, zum Beispiel, dass die Verwaltungsdigitalisierung vorangetrieben werden soll durch ein Digitalministerium mit Expertise. Auch Personal in staatlichen Verwaltungen soll eingespart werden. Oder, dass die Arbeitszeit flexibilisiert wird. Und die Reform des Bürgergeldes. Deutschland wird sehr hohe Schulden machen. Zinsen und Tilgung gehen auf die jüngere Generation über, die das erwirtschaften muss. Das ist nur tragbar, wenn die Regierung die Rahmenbedingungen so verbessert, dass Wirtschaftswachstum aus eigener Kraft wieder möglich wird. Was in diesem Koalitionsvertrag fehlt, sind Strukturreformen.
Welche genau? Wo sehen Sie die größten Investitionshemmnisse für Unternehmer?
Laut Umfrage unserer Mitglieder ist die überbordende Bürokratie das größte Investitionshemmnis, weil damit wahnsinnig viel Arbeitszeit und Kraft und Geld verschwendet wird. Ein kleines Beispiel: Ich baue mit meinem Unternehmen gerade ein Gebäude um, also kein Neubau, sondern ein Umbau. Die Baugenehmigung für die Umnutzung des Gebäudes hat über anderthalb Jahre gedauert. Und jetzt habe ich gerade noch einen Bauantrag nur für ein Vordach unterschrieben. Allein dafür musste ich 30 Unterschriften leisten. Also: Die Planungs- und Genehmigungsverfahren müssen stark beschleunigt und vereinfacht werden. Und es muss natürlich auch alles deutlich digitalisierter vonstatten gehen. Dass ich hier Hunderte von Seiten ausgedruckt vorfinde und dann nur für ein Vordach 30 Mal unterschreiben muss, ist absurd.
In diesem Zusammenhang werden immer wieder auch die zunehmenden Berichtspflichten genannt.
Es ist richtig, das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz abzuschaffen. Allerdings ist es nur Symbolpolitik. Denn auch, wenn das deutsche Gesetz abgeschafft wird: Das europäische Gesetz wird bald folgen. Und da ist es wichtig, dass es praktikabel ausfällt, auch für den Mittelstand. Bei den Gesetzen, die aus Brüssel kommen, habe ich oft den Eindruck, dass sie für Großkonzerne gemacht sind, mit Zehntausenden von Mitarbeitern, die eigene Rechtsabteilungen unterhalten. Da kann der Mittelstand nicht mithalten.
Wie ist es bei Ihnen im Unternehmen?
Mein Unternehmen ist ein Lebensmittelgroßhandel. Wir beschäftigen 240 Menschen. Bis vor kurzem haben wir an der Nachhaltigkeitsberichterstattung gearbeitet. Wir sollten 1.100 Datenpunkte dokumentieren. Das ist unfassbar viel. Wir hatten endlose Sitzungen, auf denen sich Führungskräfte abstimmen mussten, welche Daten wir erheben und liefern und auswerten und dokumentieren müssen. Man braucht Beratung von Spezialisten, weil man das allein nicht handhaben kann. Wirtschaftsprüfer müssen immer dabei sein. All das ist wahnsinnig teuer. Dann gab es Signale von der EU-Kommission, dass diese künftig nur noch für Firmen ab 1.000 Mitarbeitern gelten soll. Also haben wir den Prozess erst einmal gestoppt.
Braucht es hier ein grundsätzliches Umdenken?
Ja! Und zwar, dass man Unternehmen nicht misstraut, sondern Vertrauen signalisiert. Der Fokus sollte nicht auf Dokumentation und Berichtspflichten liegen, sondern auf der Haftung von Unternehmen. Das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft: Risiko und Haftung gehören in eine Hand. Das müssen die Unternehmen leben, ohne dafür bis ins kleinste Detail alles dokumentieren zu müssen.
Nächstes Thema: Energiepreise. Die neue Regierung hat angekündigt, die Stromsteuer zu senken. Reicht das aus?
Nein, das reicht nicht aus, jedenfalls langfristig gesehen. Es ist wichtig, das Energieangebot in Deutschland wieder auszuweiten. Nur dann werden die Preise nachhaltig sinken. Es ist unverständlich, dass die klimaneutralen Atomkraftwerke abgestellt wurden. Jetzt werden viele neue Gaskraftwerke gebaut, weil erneuerbare Energien allein eben nicht ausreichend sind – gerade auch, um eine zuverlässige Grundlast hinzubekommen, wenn der Wind nicht weht, die Sonne nicht scheint.
Was halten Sie vom Industriestrompreis?
Das ist der völlig falsche Weg. Es ist wieder eine Subvention, die teuer bezahlt werden muss – durch die Steuerzahler, durch den Mittelstand, wahrscheinlich jetzt auch über gigantische neue Schulden. Aber er führt zu keiner Lösung des Problems, obwohl die staatlichen Kosten weiter hoch sein werden. Es hilft doch nicht, wenige große, energieintensive Unternehmen zu entlasten. Wir brauchen Entlastung für alle Unternehmen, egal welche Branche, egal welche Größe. Die wenigen Unternehmen, die vom Industriestrompreis deutlich profitieren würden, würden den künstlichen Wettbewerbsvorteil voll gegen ihre mittelständischen Konkurrenten ausspielen. Deswegen ist es jetzt richtig, die Stromsteuer und die Netzentgelte zu senken. Und wir brauchen zusätzlich eine marktwirtschaftliche Ausweitung des Angebotes bei völliger Technologieoffenheit – keine staatliche Kraftwerksplanung.
Sie sagten, der Standort Deutschland muss attraktiver werden, natürlich auch für Fachkräfte. Soll der Mindestlohn also möglichst schnell auf 15 Euro angehoben werden?
Das wäre eine Steigerung von 17 Prozent und würde das ganze Lohngefüge verändern. Bei Tarifverträgen werden alle anderen Arbeitnehmer sagen: Wenn jemand, der zum Mindestlohn verdient, jetzt 17 Prozent Steigerung bekommt, dann ist es unfair, wenn ich die Steigerung nicht auch kriege. Das größte Problem an der Mindestlohndebatte ist aber, dass Politiker immer wieder versuchen, Löhne politisch festzulegen. Bei der Einführung des Mindestlohns gab es die Bedingung, dass der Mindestlohn durch eine Mindestlohnkommission festgelegt wird. Und das ist mir wichtig: Dass Löhne durch Tarifpartner festgelegt werden, also Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter.
In Deutschland herrscht Tarifautonomie...
Ja, und nur, wenn die besteht und wenn Löhne nicht durch Politiker festgelegt werden, dann wird auch die Produktivität betrachtet. Denn Löhne müssen erwirtschaftet werden und können nur erhöht werden, wenn das Unternehmen entsprechend produktiv arbeitet und diese Löhne auch wirklich bezahlen kann. Wenn das nicht der Fall ist, verschwinden die Arbeitsplätze, die zu teuer sind. Und das erhöht die Einstiegshürden für Menschen, die nicht die entsprechende Ausbildung haben. Es sind insgesamt schon über drei Millionen junge Menschen bis 35 Jahre ohne Berufsabschluss. Es gibt aber in Deutschland gar nicht mehr viele Jobs, die man ohne Fachwissen ausüben kann.
Was tut denn der Mittelstand, um das Fachkräfteproblem anzugehen?
80 Prozent der Familienunternehmen in Deutschland sind Ausbildungsbetriebe. Allerdings haben in unserer Jahresausblicksumfrage in diesem Jahr 24 Prozent der Unternehmen gesagt, dass sie nicht mehr ausbilden werden. Das ist der höchste Wert, den wir jemals hatten. Darum ist es umso wichtiger, wirklich den Standort Deutschland wieder wettbewerbsfähig zu machen. Damit die Unternehmen hier eine Perspektive haben, optimistischer werden und hier auch ausbilden. Ich stelle aus eigener Erfahrung fest: Man muss sich um die jungen Menschen kümmern. Es gibt einige Herausforderungen, gerade wenn jemand nicht aus Deutschland kommt und Probleme beim Lesen und Schreiben hat. Da müssen wir schon mit eigenem Personal hinterher sein. Wir haben zusätzlich die App von SimpleClub eingerichtet für die Auszubildenden. Da kann der komplette Ausbildungsinhalt eines Ausbildungsberufes digital zusätzlich zum Schulunterricht gelernt werden. Aber man muss sich natürlich kümmern und dafür braucht man die Möglichkeiten und Kapazitäten.
Wie können Unternehmen mehr Fachkräfte aus dem Ausland gewinnen?
Die Lohnzusatzkosten hängen eng mit dieser Frage zusammen. Ich selbst habe in der Schweiz studiert und Menschen aus der Schweiz sagen mir: Der Standort Deutschland ist zu teuer. Wenn ich nach Deutschland komme, sind die Steuern und die Lohnzusatzkosten viel zu hoch. Was komplett fehlt im Koalitionsvertrag, sind strukturelle Reformen für die sozialen Sicherungssysteme. Wir haben jetzt schon Lohnzusatzkosten von 42 Prozent, die sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber teilen. Und wenn keine Reformen kommen, dann werden sie spätestens 2050 bei 50 Prozent liegen. Und wer hat dann noch Lust, in Deutschland zu arbeiten?
Wie können Lohnzusatzkosten gesenkt werden?
Die Frühverrentung muss unbedingt abgeschafft werden. Ich kann gut verstehen, dass ein Dachdecker nicht bis 70 auf dem Dach arbeiten kann. Aber ein gesunder Mensch, der in den Verwaltungen, in den Büros arbeitet – warum soll er mit 63, 64 in Rente gehen?
Sollte das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung gekoppelt werden?
Ja. Es ist auch richtig, die Aktivrente einzuführen. Und: Im Gesundheitssystem braucht es mehr Digitalisierung und mehr Wettbewerb unter den Krankenkassen. Es braucht eine Kontaktpauschale, wenn man zum Arzt geht. Die telefonische Krankmeldung muss wieder abgeschafft werden. Und mit Blick auf die Rente ist der Nachhaltigkeitsfaktor wichtig. Es soll keine Garantie geben, dass 48 Prozent an Rentner ausbezahlt werden, weil das aufgrund der demografischen Entwicklung einfach nicht mehr finanzierbar ist. Keine gute Idee ist, jetzt auch Beamte und Selbstständige in die Rentenkasse einzahlen zu lassen. Das würde nur kurzfristig Verbesserung bringen. Langfristig haben all diese Menschen dann auch Ansprüche – und wahrscheinlich recht hohe, weil sie hohe Gehälter verdienen. Das wird das Problem nicht lösen.
Was halten Sie von der Generation Z? Ist sie zu sehr auf Work Life Balance aus oder kann sie auch anpacken?
Ich habe ein sehr positives Bild von der jungen Generation, weil ich sehr viele junge Menschen in meinem Unternehmen ausbilde und fast alle Führungspositionen mit ehemaligen Auszubildenden besetzt sind. Sie sind motiviert und haben Lust zu arbeiten. Die Vier-Tage-Woche ist bei uns im Unternehmen kein Thema. Allerdings ginge das auch gar nicht: Wir sind ein Lebensmittel-Großhandelsbetrieb und beliefern auch Krankenhäuser und Altenheime. Aber ich glaube, das Hauptproblem ist nicht, dass einzelne Menschen zu wenig arbeiten oder faul sind. Sondern: Es braucht mehr Netto vom Brutto. Arbeit muss sich mehr lohnen. Dazu müssen die Lohnzusatzkosten runter. Darüber hinaus braucht es eine Reform der Einkommensteuer, gerade auch für mittlere und kleinere Einkommen.
Braucht es auch noch flexiblere Arbeitszeitmodelle oder Arbeitsmodelle? Also Stichwort Homeoffice oder hybride Arbeit?
Wo das möglich ist, ja. Es darf aber keinen gesetzlichen Zwang geben, sondern muss möglichst flexibel sein. Deswegen finde ich es auch gut, dass das Arbeitszeitgesetz sich dahingehend ändert, dass es eine Höchstarbeitszeit pro Woche geben wird und nicht mehr pro Tag. Wenn jemand einen Bürojob hat, vielleicht auch größtenteils remote und digital, kann er oder sie selbst entscheiden, ob man nun morgens um Acht oder lieber abends um Elf seine Arbeit erledigt. Ob man vielleicht mal Lust hat, einen Tag viel zu arbeiten, um dann ein längeres Wochenende zu haben. Eine Flexibilisierung bei der Arbeitszeit wird Erleichterung bringen und Jobs in gewissen Bereichen und Branchen mit Sicherheit attraktiver machen. Das kommt auch der jungen Generation entgegen, die digital aufgewachsen ist.