Herr Tenbieg, auf allen Ebenen und in allen Branchen ist der Umbruch derzeit enorm. Wie schlägt sich der Mittelstand insgesamt angesichts der aktuellen Herausforderungen?
Es gibt Verbesserungen in Sachen Geschäftserwartungen, aber leider ist die aktuelle Lage eher mäßig. Dass Deutschland in den vergangenen Monaten in eine technische Rezession gefallen ist, verwundert nicht wirklich. Wir haben immer noch Probleme bei der Materialverfügbarkeit, vor allem Bauvorhaben kommen deshalb nicht so schnell voran, wie es wünschenswert wäre. Auch im Einzelhandel sieht es nach der Corona-Zeit, in der alles zu Gunsten des Online-Handels lief, noch nicht wieder gut aus. Aber die Konjunkturerwartungen sind im Mittelstand niedrig. Ich hoffe, dass wir mit einer schwarzen Null aus dem aktuellen Jahr herausgehen.
Lassen Sie uns in die Details gehen: Viele bewerten den Fachkräftemangel als das derzeit größte Hemmnis für das Wachstum im Mittelstand. Wie sehen Sie das?
Natürlich, da ist ein schwarzes Loch entstanden. Das hat mit der Demografie zu tun, aber nicht nur. Es gab Abwanderungen von hoch qualifizierten Beschäftigten – gerade in Mangelberufen – außerhalb, aber auch innerhalb von Europa. Eine ebenso große Herausforderung ist derzeit die ungewisse Lage bezüglich der Energiewende und der Energiepreise. Nicht nur viele energieintensive Unternehmen überlegen sich, wie es weitergeht und ob sie im Land bleiben wollen. Somit gibt es Zukunftssorgen, die nicht nur mit dem Fachkräftemangel zu tun haben. Aber hier konkurrieren Unternehmen untereinander besonders stark. Zum Beispiel hat mir ein Gebäudereiniger kürzlich erzählt, er leide unter Abwerbungen seiner Leute von – Achtung – Krankenhäusern. Sie erhoffen sich in der Pflege klarere Arbeitsstrukturen, sind ortsgebunden, die Löhne sind interessanter. Und es gibt einen Tarifvertrag. Diese Wanderungen zwischen den Branchen sind derzeit intensiviert: Man schaut, wie man sich verändern kann, wohin man weiterziehen kann.
Steuern die Unternehmen ausreichend dagegen? Schaut man sich bei den KMU um, ist etwa Employer Branding wenig verbreitet. Woran liegt das?
Unter anderem an der Unternehmensgröße. Bei einem Unternehmen mit zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern können Sie eine Personalabteilung lange suchen. Das alles macht der Chef oder die Chefin nebenbei, also auch Personalentwicklung und Markenbildung und all das, was eine Bindung zum Unternehmen aufbauen und bestärken kann. Und vieles von dem, was heute von externen Dienstleistern als Employer Branding verkauft wird, wurde in kleinen und mittelständischen Unternehmen entwickelt: Mitarbeitergespräche, Teambuilding, soziale oder sportliche Events, Gesundheitsförderung und so weiter. Worauf ich hinaus will: Bei den meisten Mittelständlern ist Employer Branding nicht strategisch verankert, sondern wird sowieso und auch nebenher gemacht. Aber hier wird es in Zukunft wohl ein Umdenken geben müssen. Immer mehr von dem, was bereits in den Konzernen umgesetzt wurde, also strukturiertes und skaliertes Employer Branding, wird Eingang in den Mittelstand finden. Aber das braucht Zeit. Und Geld.
Sind die Strukturen im Mittelstand womöglich zu eingefahren?
Strukturen entstehen in vielen mittelständischen Betrieben über Generationen. Aber natürlich verändern sie sich, es sind ja nicht die gleichen wie vor 80 Jahren. Neben den veränderten Arbeitswelten müssen Unternehmen auch auf viele gesetzliche Themen reagieren. Der derzeitige und vorige Arbeitsminister Hubertus Heil hält die Mittelständler derzeit mit immer neuen Gesetzen auf Trab und sorgt für so manchen bürokratische Mehraufwand. Aber der Kern des Unternehmens bleibt derselbe. Und das Grundprinzip, nämlich, dass kleine und mittelständische Unternehmen nicht vom Shareholder-Value getrieben sind, sondern Eigentümer haben, die sich persönlich um ihre Beschäftigten kümmern. Aber auch hier hat sich viel verändert, was den Umgang miteinander angeht. Man ist lockerer und auf Augenhöhe. Die alten Hierarchien gibt es nicht mehr.
Wie können die Mittelständler ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter besser binden?
In den kleinen und mittelständischen Unternehmen treffen nicht Aktionäre unternehmerische Entscheidungen, sondern die Eigentümer. Aber das ändert sich gerade, und zwar genau durch die Frage der Mitarbeiterbindung. Wenn man schon für das Unternehmen lebt und kämpft und Innovationen einbringt, stellt sich irgendwann die Frage: Will man nur eine vertraglich festgelegte Gratifikation bekommen? Eine Prämie, derzeit vielleicht auch versteckt durch die Inflationsausgleichsprämie – übrigens zurecht, denn die Mitarbeitenden brauchen dringend Geld, um ihre höheren Kosten aufzufangen? Oder geht man einen anderen Weg?
Welchen Weg meinen Sie?
Jeder Mitarbeiter, jede Mitarbeiterin ist ja im eigenen Segment irgendwie unternehmerisch tätig, zwar nicht als Selbstständiger, aber sie treiben mit ihrem Einsatz den Betrieb voran. Deshalb halte ich Mitarbeiterbeteiligung für ein sehr probates Mittel, um Fachkräften eine Perspektive zu geben, um sie zu binden und ihnen zu sagen: Wir sind das Unternehmen, und zwar im besten Sinne des Wortes.
Wie könnte eine attraktive Mitarbeiterbeteiligung aussehen?
Eine attraktive Mitarbeiterbeteiligung ist ein wichtiges Mittel, mit dem Unternehmen Fachkräfte binden können. In vielen europäischen Ländern wurde dieser wichtige Faktor schon früher als in Deutschland von politischen Entscheidungsträgern erkannt und der Steuerfreibetrag deutlich heraufgesetzt. In den Eckpunkten des Zukunftsfinanzierungsgesetzes des Bundesministeriums für Finanzen wird die Erhöhung des Steuerfreibetrags auf 5.000 Euro genannt. Meiner Meinung nach sollte für eine mutige Standortpolitik der Freibetrag deutlich darüber hinaus erhöht werden. Des Weiteren muss endlich ein praxistauglicher Aufschub der Besteuerung bis zur Veräußerung der Beteiligung erfolgen.
Aber möchte die jetzt nachfolgende Generation Z wirklich mehr Verantwortung übernehmen? Oder lieber mehr Teilzeit, Freizeit, Familie?
Man spricht von den Generationen Z und Y, als wären alle Menschen gleich. Das ist doch Unsinn. Es hat sich viel in den Betrieben verändert, vor allem in der Kommunikation. Man hat sich amerikanisiert. Die Hemdsärmeligkeit und das Duzen im Betrieb sind üblich geworden. Dennoch ist vieles althergebracht geblieben, und damit ganz individuell: Die einen brauchen mehr Verbindlichkeit, Klarheit, Verständlichkeit, die anderen wollen stärker gefordert werden, die dritten arbeiten am besten unabhängig und selbstständig. Was man aber schon verzeichnen kann: Das Selbstbewusstsein der jungen Nachwuchskräfte, vor allem der angehenden Führungskräfte, ist ordentlich gestiegen. Da gibt es Bachelorabsolventen mit 21, 22 Jahren, die in ein Unternehmen kommen und glauben, sie seien jetzt Führungskraft. Sie sind nicht darauf eingestellt, dass das Lernen in der Praxis, im laufenden Betrieb, erst richtig anfängt. Und das sieht man auch an den immensen Gehaltsforderungen. Dabei ist die Einschätzung dessen, was man an Wertschöpfung ins Unternehmen einbringen kann, nicht wirklich berücksichtigt.
Wäre bei den Nachwuchskräften mehr Demut angebracht?
Nein, das meine ich nicht. Es muss einfach fair sein. Man geht eine Partnerschaft mit dem Unternehmen ein und sollte nicht nach dem Motto verhandeln: Ich bin eine Mangelware, und deshalb bin ich teuer. Gerade im Mittelstand muss man schauen, ob das Unternehmen die hohen Gehaltsforderungen auch stemmen kann. Es ist natürlich gerechtfertigt mehr zu zahlen, wenn man den entsprechenden Mehrwert auch leistet. Dazu kommt: Geld ist das eine. Man muss natürlich sein Auskommen haben. Aber das andere ist, einen guten Job zu haben. Man sollte überlegen, was einem das Unternehmen über das Gehalt hinaus bietet – im Sinne des Employer Branding, wie vorhin angesprochen. Wie sinnstiftend ist die Arbeit? Ich behaupte, dass sich der Sinn von Arbeit beim Mittelständler in der Regel viel direkter erschließt als im Großkonzern. Und das alles muss man im Einstellungsgespräch erörtern, wenn es um das Gehalt geht – außer natürlich, man arbeitet im Rahmen eines Tarifvertrags.
Apropos: Die Tarifpartner im öffentlichen Dienst haben enorme Abschlüsse vorgelegt. Inwiefern setzen sie den Mittelstand unter Druck?
Natürlich erhöht sich der Druck, denn jedes zusätzliche Geld will auch erwirtschaftet werden. Zugleich steigen ja auch die Preise und damit die Herstellungskosten. Aber man muss relativieren: Im europäischen Kontext waren die Preise in Deutschland bis vor der Corona-Pandemie vergleichsweise niedrig, wie auch die Löhne. Seitdem ist alles rund 20 Prozent teurer geworden, und natürlich müssen die Löhne dem angepasst werden. Wir müssen nur aufpassen, dass wir nicht in eine Lohn-Preis-Spirale geraten. Die würde uns alle massiv treffen.
Hätten wir frühzeitiger gegensteuern müssen?
Wir müssen sehen: Deutschland hat in der Zeit vor Corona enorme Wachstumsjahre gehabt. Das Wachstum war derart enorm, dass es unsere europäischen Nachbarn fassungslos zurückließ. Da musste nichts hinterfragt werden, denn Geld war genug da. Dazu kam die erste Zinswende, die das Geld maßlos verbilligt hat: Kredite aufzunehmen, hat plötzlich nichts mehr gekostet. Oder sogar Geld gebracht, weil Einlagen negativ verzinst wurden, jedenfalls in Deutschland. Eigentlich waren die Voraussetzungen ideal, um zu investieren. Aber das ist unterblieben. Man hat nicht investiert, weder in die marode Infrastruktur noch die Optimierung der Sozialsysteme. Die Digitalisierung wurde nicht mit der notwendigen Vehemenz vorangetrieben. Das Thema sozialer Wohnungsbau wurde völlig missachtet, womit die Mieten zu einem der wesentlichen Kostentreiber geworden sind. Nach sieben fetten Jahren kommen sieben magere Jahre. Diese Weisheit wurde missachtet.
Der Fachkräftemangel hat sich ebenfalls längst abgezeichnet. Wie hätte man vorbeugen können?
Es wurde verpasst, eine Einwanderungspolitik mit einer damit verbundenen Willkommenskultur aufzubauen. Jeder weiß und wusste schon lange, dass wir durch die Alterspyramide Nachwuchs brauchen. In den Zeiten der Finanzkrise kamen dann aber viele binneneuropäische Zuwanderer, Deutschland ist gewachsen. Das war aber nur Zufall. Jetzt verschärft sich die Fachkräfteproblematik wieder, und wir stellen fest, dass wir unseren Standort schon längst hätten attraktiver in der Welt positionieren müssen. Dass wir längst Hemmnisse bei der Anerkennung von Universitätsabschlüssen und Ausbildungen hätten abbauen müssen. Dass wir verkrustete Strukturen hätten aufbrechen müssen, wie sie teilweise im Handwerk bestehen, mit Meisterpflicht und Handwerksrollen. Wir haben uns auf die neue Zeit nicht eingestellt. Und das führt zu den aktuellen Multikrisen mit heftigen gesellschaftlichen Diskussionen und handfesten Problemen: Energieversorgung, Infrastruktur, Wohnungsbau, Fachkräftemangel – alle Krisen müssen jetzt zeitgleich gelöst werden.
Dazu kommt die große Energiewende. Die Dekarbonisierung der gesamten Wirtschaft.
Ja, und zwar nicht nur in Deutschland. Die Klimaziele „Fit for 55“ gelten europaweit. Dabei wird vieles in Fragmenten entschieden, ohne dass ein Gesamtplan erkennbar wird. Deshalb ist vielen gar nicht klar, wie weitreichend diese Umstellung werden wird und in welchem Umfang sie welche Bereiche der Wirtschaft erreichen wird. Wie hoch die Kosten werden, wissen wir auch nicht. Immer wieder wird suggeriert, dass Erneuerbare Energien günstig sind: Solarstrom ohne Ende, unendliche Offshore-Energie aus der Nordsee, Wasserstoff aus der Wüste. Ich glaube, da ist viel Schönschreiberei dabei. Wir werden in den nächsten Jahren sehr viele Veränderungen erleben, die wir heute noch gar nicht absehen können. Niemand weiß, was auf uns zukommt. Und das verängstigt viele, nicht nur Unternehmen, sondern auch viele Menschen draußen im Land. Und das kritisiere ich an der aktuellen Politik: Was genau der Plan ist und wohin die Reise geht, wird nicht ausreichend kommuniziert. Bisher hat jede Krise dazu geführt, dass sich der Mittelstand neu aufgestellt hat. Das hat ein gewisses Durchhaltevermögen bewirkt. Sobald man weiß, was auf einen zukommt, kann man entsprechend planen. Und das wird der Mittelstand mit der ihm eigenen Resilienz tun.
Fakten zum deutschen Mittelstand
• Zu den kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) gehören die Kleinstunternehmen mit bis neun Beschäftigten und bis 2 Millionen Euro Umsatz, kleine Unternehmen (bis 49 Beschäftigte und bis 10 Millionen Euro Umsatz) und mittlere Unternehmen (bis 249 Beschäftigte und bis 50 Millionen Euro Umsatz.
• Die KMU sind in allen Wirtschaftsbereichen tätig: Industrie, Handwerk, Handel, Dienstleistungen sowie in den freien Berufen, etwa Architektur oder Steuerberatung.
• 3,5 Millionen Unternehmen in Deutschland gehören zu den kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU).
• 99,5 Prozent der Unternehmen in Deutschland sind KMU.
• 81,7 Prozent beträgt der Anteil der KMU bei der Ausbildung von Lehrlingen.
• 58 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland arbeiten bei KMU.
• 97,1 Prozent der deutschen Exporteure sind KMU.