Digital – egal?

Die Digitalisierung wird anscheinend nur von jungen Unternehmen besonders ernst genommen. Bei den anderen haperte es in den Pandemiejahren an der Umsetzung.

Illustration: Laura Neuhäuser
Illustration: Laura Neuhäuser
Olaf Strohm Redaktion

Hatte die Corona-Pandemie für manche doch ihr Gutes? Wenngleich man sich sich gegen den Gedanken wehren mag, kommt eine Studie vom RKW Kompetenzzentrum Eschborn zu diesem Schluss. Die Mitarbeiterinnen Natalia Gorynia-Pfeffer und Julia Schauer hatten sich hierzu den Global Entrepreneurship Monitor (GEM) aus dem Jahr 2021 genau angeschaut. Demnach haben zahlreiche – und vor allem junge – Unternehmen als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie erstmalig digitale Technologien eingeführt.

36,5 Prozent der Gründenden und 31 Prozent der etablierten Unternehmen in Deutschland gaben demnach an, dass sie schnelle und effiziente Wege finden mussten, ihr Geschäftsmodell und ihre Geschäfts- und Produktionsprozesse an die neuen Anforderungen und Möglichkeiten der digitalen Wirtschaft anzupassen. Dabei habe ihnen die Pandemie neue Geschäftsmöglichkeiten eröffnet. 27 Prozent der Gründenden gaben sogar an, dass ihr Unternehmen als Reaktion auf die Corona-Pandemie sogar erstmals digitale Technologien genutzt hat, um Produkte oder Dienstleistungen zu verkaufen.

Bei den etablierten Unternehmen sieht das ein wenig anders aus. Jedenfalls verzeichnet das Institut der deutschen Wirtschaft IW „Stillstand statt Fortschritt“, so lautete die entsprechende Überschrift über die Meldung zum Digitalisierungsindex 2022. Demnach habe die deutsche Wirtschaft im Jahr 2022 mit einigen Krisen zu kämpfen gehabt. Das habe ihr anscheinend wenig Zeit gelassen, die Digitalisierung voranzutreiben, so das IW.  Der Digitalisierungsindex, der vom IW 2020 mitentwickelt wurde und seitdem jährlich fortgeschrieben wird, zeige, dass die meisten Branchen und Regionen digital stagnieren.

Demnach stieg der deutschlandweite Wert des Digitalisierungsindex gegenüber dem Vorjahr um lediglich einen Punkt auf 108,9. Gleich vier der zehn betrachteten Kategorien büßten im Vergleich zu 2021 Punkte ein, am stärksten zurück ging der Wert in der Kategorie Innovationslandschaft. Das liegt vor allem am sinkenden Anteil digitaler Start-ups in Deutschland. Innerhalb der verschiedenen Branchen zeigt sich nahezu kein Digitalisierungsfortschritt. Wie in den Vorjahren schneidet wenig überraschend jener Sektor am besten ab, zu dessen Kern digitale Produkte und Geschäftsmodelle zählen: Mit rund 276 Indexpunkten liegt die Informations- und Kommunikationstechnologie unter den Branchen vorn. Sie ist erneut in allen untersuchten Kategorien Spitzenreiter – mit Ausnahme der Kategorie Forschungs- und Innovationsaktivitäten, die der Fahrzeugbau mit großem Abstand für sich beansprucht.

Der große Industriezweig behauptet den zweiten Platz im Gesamtranking, dahinter folgen unternehmensnahe Dienstleister – das sind zum Beispiel Architektur- und Ingenieurbüros, Wirtschaftsprüfer und Unternehmensberatungen – sowie die Elektrotechnik und der Maschinenbau. Weiterhin unterdurchschnittlich digitalisiert sind demnach die Branchengruppen Tourismus, Handel, Verkehr und Logistik sowie das sonstige produzierende Gewerbe und das sonstige verarbeitende Gewerbe. Mit 205 Punkten erzielen die Unternehmen ab 250 Beschäftigten einen mehr als doppelt so hohen Indexwert wie Betriebe mit maximal 49 Beschäftigten, die 95 Punkte erreichen. Mittelgroße Unternehmen liegen dazwischen. Kleine Unternehmen laufen den anderen lediglich in der Kategorie „Produkte“ den Rang ab. Grund dafür kann die Branchenstruktur sein: Besonders viele kleine Unternehmen stammen aus der stark digitalen Informations- und Kommunikationstechnologiesparte.

Insgesamt unterstreichen die Ergebnisse die große Belastung der Unternehmen in Deutschland durch anhaltende Krisen wie die Coronapandemie, den Ukraine-Krieg oder die Inflation, so das IW. So sei es bereits eine gute Nachricht, dass die Wirtschaft in diesem Ausnahmejahr „nicht sogar Rückschritte bei der Digitalisierung“ gemacht habe. Es gilt nun allerdings umso mehr, die Rahmenbedingungen für die Digitalisierung in Deutschland zu verbessern – zum Beispiel, indem der Staat die Finanzierungsmöglichkeiten für Start-ups ausbaut und die öffentliche Verwaltung konsequent, bürgernah und unternehmensfreundlich digitalisiert wird.
Die jungen Unternehmen hingegen, so die Auswertung von Natalia Gorynia-Pfeffer und Julia Schauer vom RKW Kompetenzzentrum Eschborn, sind meist flexibel, innovativ und können häufig schneller auf geänderte Bedingungen reagieren. Bei den etablierten Unternehmen erschwerten komplexe interne Arbeits- und Entscheidungsfindungsprozesse, dass sie ihre Geschäftsmodelle und -abläufe digitalisieren und ihre Produkte und Dienstleistungen entsprechend anpassen und weiterentwickeln konnten.

Die Ergebnisse machen laut den Autorinnen deutlich, dass viele Gründende in Deutschland bezüglich der Digitalisierung gut aufgestellt sind, es jedoch auch noch Wachstumspotenzial gibt. Hier empfehlen sie Weiterbildungsprogramme und Schulungsangebote, durch die digitale und nachhaltigkeitsorientierte Kompetenzen vermittelt und aufgebaut werden. Gleichzeitig sei es wichtig, die Vermittlung digitaler sowie ökologischer und sozialer Schlüsselkompetenzen bereits in den Schulen zu fördern und auszubauen.

Ebenfalls zeigten Untersuchungen, dass damals bereits digitalisierte Unternehmen besser gegen Pandemie, Klimawandel und Risiken in den Lieferketten gewappnet waren. Etwa die Studie „Digitale Vorreiter im Mittelstand“ von Mind Digital, der 54 Tiefeninterviews mit Entscheidern und Verantwortlichen für Digitalisierung zugrunde liegen. Diese „digitalen Vorreiter“ werden als Repräsentanten des deutschen Mittelstandes gesehen, die frühzeitig erkannt haben, dass Digitalisierung notwendig für das eigene Überleben ist. Laut Studie erlebten 70 Prozent der digitalisierten Unternehmen einen Aufschwung trotz Pandemie sowie Engpässen bei Lieferwegen und Material. Jedes zweite Unternehmen verzeichnete zweistellige Wachstumsraten und wuchs damit schneller als der Markt. Und fast jedes zweite Unternehmen erzielte Wachstum durch digitale Geschäftsmodelle und Innovationen.

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