System oder Flickwerk?

Die Digitalisierung ist Top-Thema in der Energiewirtschaft und ein wesentliches Element der Energietransformation. KPMG-Experte Michael Salcher fragt jedoch kritisch, wie viel System hinter den Strategien steckt.
MICHAEL SALCHER, Regionalvorstand, Sektorleiter Energie & Rohstoffe, KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft
KPMG Beitrag

Herr Salcher, in kaum einem Sektor wird derzeit nicht über Digitalisierungsthemen gesprochen. Die Energie- und Versorgungswirtschaft ist da keine Ausnahme – im Gegenteil, die Branche scheint recht weit, oder täuscht das?
Ich glaube, das täuscht. Die Digitalisierung steht für die Energiewirtschaft absolut im Fokus und für eine große Anzahl an Themen und Technologien. Doch viele Studien und Prognosen zeichnen ein Idealbild eines Versorgers in zehn oder mehr Jahren. Dabei sei die Frage erlaubt, ob es nicht wichtiger wäre, sich bewusst zu machen, welche Themen mit Blick auf die nächsten zwei, drei Jahre auf die Agenda gehören.

 

Welche Themen gehören denn aktuell eher auf die Agenda?
Während bei den großen Versorgern und vor allem börsennotierten Energieunternehmen bereits zahlreiche Projekte sehr effektiv auf dem Weg und Digitalisierung sowie neue Technologien Basis der Unternehmensstrategie sind, hinken kleinere Versorger aus meiner Sicht hinterher. Dort fürchtet man die hohen Investitionen. Zudem sind viele Basisprozesse noch nicht standardisiert genug, um neue Technologien wie beispielsweise Robotic Process Automation zu nutzen. Dabei kommt der Digitalisierung der kleineren Versorger die Schlüsselrolle zu. Wenn man die wichtige Veränderung des Energiesystems in Ballungszentren betrachtet, werden Stadtwerke Verkehrs- und Infrastrukturlösungen, Wohnungswirtschaft und Versorgung verknüpfen. Im Zentrum stehen natürlich dabei die Kunden und eine digital gesteuerte Infrastruktur. Es gilt also vorrangig, unterschiedliche Geschwindigkeiten innerhalb des Sektors und im Vergleich zu anderen Sektoren anzugleichen.

 

Wie schwer ist es für kleinere Versorger, ihre Digitalisierung nachhaltig zu gestalten?
Mit einem systematischen Vorgehen ist es aus unserer Sicht nicht so schwer. Das wird es erst, wenn man an vielen Stellen am berühmten Flickenwerk „puzzelt“. Systematisch heißt dabei in erster Linie, Basisprozesse wie die Abrechnung weiter zu professionalisieren. Es gilt, die IT-Gesamtarchitektur an neue Technologien auszurichten und neue Lösungen flexibel, cloudbasiert und schnittstellenfähig zu gestalten. Das kann alles gleichzeitig geschehen.

 

Wobei für Versorger wie beispielweise Stadtwerke vor allem gilt, vorhandene Daten für sich zu nutzen.
Das ist absolut richtig. Die Energiewirtschaft verfügt über große Datenströme aus Einspeisung, dem Netzbetrieb und künftig auch aus dem Smart Metering. Solche Daten wollen gemanagt und ausgewertet werden. Denn nur so lässt sich mehr über die Bedürfnisse der Kunden erfahren, was im Idealfall für neue Produkte und Services genutzt werden kann. Energieunternehmen müssen zu echten Datenspezialisten werden.

 

Lassen sich ohne Smart Meter langfristig überhaupt verlässliche Daten im benötigten Umfang sammeln?
Smart Metering hat in der Tat einen hohen Stellenwert für die Digitalisierung der Energiewirtschaft. Denn der Rollout intelligenter Messsysteme ist die Schnittstelle für den Eintritt in eine neue, datenbasierte Energiewelt. Im Messwesen wird ein Smart Meter Gateway zur zentralen Kommunikationseinheit im Gebäude, über das eine Vielzahl neuer Geschäftsmodelle platziert werden könnte. Für ein integriertes Stadtwerk gibt es aber auch zahlreiche andere Möglichkeiten, mit Kunden in Kontakt zu treten. Marketingtechnologien wie CRM-Systeme gewinnen dabei an Bedeutung.

 

Sie sprechen von neuen Produkten, Services und nun von neuen Geschäftsmodellen. In welche Richtungen müssen Versorger künftig denken?
Daten können übergreifend gesammelt, aufbereitet und analysiert werden, um daraus Produkte und Services zu entwickeln. Aber nicht nur die Wertschöpfungsgrenzen verschwimmen im Zuge der Digitalisierung, auch die Branchengrenzen erodieren und die Zusammenarbeit mit neuen Teilnehmern gewinnt an Bedeutung. Beispiele sind insbesondere die Themen Elektromobilität und Energieeffizienz durch intelligente Haustechnik.

 

Das heißt auch, dass sich der Vertrieb neu aufstellen muss?
Abgeleitet aus den Erkenntnissen von Datenanalysen wird und muss der Vertrieb durch zielgerichtete Maßnahmen in der Wahrnehmung der Kunden steigen. Aus einer rein emotionalen Kundenperspektive betrachtet, werden Strom- oder Gasrechnungen heute doch eher wie eine Steuer oder Abgabe betrachtet. Das wird sich jedoch wesentlich ändern, wenn neue Haustechnik- und Komfortlösungen zusätzlich zu Versorgungsleistungen angeboten werden können, die es den Kunden ermöglichen, ihren Energieverbrauch zu steuern und zu überwachen.

 

Was bisher vor allem deutlich wird: Die Veränderungen sind umfassend. Können Versorger das mit bestehenden Ressourcen überhaupt schaffen?
Wie in den meisten Branchen wird auch für die Energiewirtschaft die Suche nach qualifiziertem Personal mit entsprechenden Business- und IT-Kenntnissen die große Herausforderung. Daher werden wir künftig wohl auch vermehrt Kooperationen erleben.

 

Kooperationen zwischen den Energieversorgern?
Ja, aber auch zwischen Versorgern und anderen Wachstumsunternehmen. Denkbar ist zum Beispiel, dass sich IT-Dienstleister umfangreicher als bisher an Projekten beteiligen – auch finanziell. Damit wird auch klar, dass die Digitalisierung der Energiewirtschaft auf Ebene der Geschäftsleitung umzusetzen ist.

 

Digitalisierung ist also weit mehr, als die reine Umsetzung technischer Aspekte?
Definitiv. Sobald sich ganze Geschäftsmodelle und Wertschöpfungsketten wandeln, ist ein ganzheitlicher Blick auf die Vielzahl an komplexen Themen unabdingbar. Das heißt unter anderem, dass die gesamte Transformation mit Change-Prozessen begleitet werden muss. Die Belegschaft muss abgeholt und mit entsprechenden Weiterbildungsangeboten für künftige Aufgaben vorbereitet werden. Geschieht dies nicht, landet man schnell wieder bei dem bereits angesprochenen Flickwerk.

 

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