Sind wir Deutschen eigentlich verrückt geworden?“ – mit diesen Worten startete ein Stromkonzern aus dem Ruhrgebiet eine etwas verspätete Werbekampagne, mit der er seinen Beitrag an der Energiewende thematisieren wollte. Zwei Jahre ist das her. Seitdem ist einiges passiert in diesem Land der Verrückten. Nicht nur, dass selbiger Stromkonzern heute um sein Überleben kämpft. Auch ist die Energiewende immer weiter vorangeschritten. Beim End-energieverbrauch erreichten die erneuerbaren Energien 2013 einen Anteil von 12,4 Prozent. Ihr Anteil hat sich damit im Vergleich zum Jahr 2000 mehr als verdreifacht, so das Bundesumweltamt. Vor allem beim Strom werden immer mehr erneuerbare Quellen angezapft: Im vergangenen Jahr waren die Erneuerbaren Energien erstmals die wichtigste Stromquelle. Mit einem Anteil von 27,7 Prozent am Bruttostromverbrauch speisten sie mehr Strom ins Netz ein als Braunkohlekraftwerke.
Neue Akteure
Nicht nur der Mix der Energieerzeugung hat sich fundamental verändert. Auch die Akteure sind heute andere als noch vor wenigen Jahren. Beherrschten früher die großen Energiekonzerne über ihre zentralen Großkraftwerke und ihre Netze bis in den letzten Winkel der Republik den Energiemarkt, ist er heute dezentral – und äußerst unübersichtlich geworden. Längst schon haben sich die kleinen Erzeuger aus der Nische große Anteile gesichert, während die Energiekonzerne ihr Geschäftsmodell von heute auf morgen umstellen müssen.
Denn Privatleute, die Sonnenkollektoren auf ihre Hausdächer schrauben, Bauern, die Biogas- und Windkraftanlagen auf ihren Höfen betreiben und lokale Genossenschaften, die Energieversorgung ganzer Städte und Gemeinden übernehmen – das sind die Akteure, welche die Energiewende durch ihr Engagement und Kapital vorangebracht haben. „Die Bürgerinnen und Bürger haben das Oligopol der großen Konzerne auf dem Energiemarkt aufgebrochen“, postuliert Marcel Keiffenheim, Aufsichtsrat beim Bündnis Bürgerenergie. Unter diesem Namen haben sich 2014 lokale, regionale und bundesweit aktive Vereinigungen, Netzwerke, Unternehmen und Personen zusammengeschlossen. 4.000 Windräder und 1,2 Millionen Solaranlagen haben die Bürger mittlerweile in Deutschland errichtet oder sich in den 900 Energiegenossenschaften zusammengeschlossen.
Wettbewerb fördern
Das hat zwei Vorteile: Sie sorgten nicht nur für den Erfolg der Energiewende, sondern auch für wirtschaftliche Auswirkungen: So konnten Photovoltaik-, Windkraft- oder Biomasse-Projekte in Bürgerhand oder mit Bürgerbeteiligung mehr als 110.000 Vollzeitarbeitsplätze bundesweit sichern oder schaffen, hat der Verein berechnen lassen. Zum anderen bleibe das eingesetzte Geld zu großen Teilen im lokalen Wirtschaftskreislauf. Nun könnte das Geschäftsmodell der Kleinen scheitern: Die Bundesregierung will größere Projekte ausschreiben lassen. Die Gefahr: Die kleinen lokalen Akteure könnten durch die ungleich höhere Finanzkraft der großen Energiekonzerne oder Stadtwerke vom Markt ausgeschlossen werden.
Die Regierung will so den Wettbewerb unter Anbietern fördern und die hohen Subventionen, die in die Branche fließen, verringern. Denn dieses Geld wird an anderer Stelle benötigt. Wesentliche Ziele der Energiewende sind noch unerreicht. Zum Beispiel der Netzausbau: Um Strom aus den Gegenden, in denen er durch Windkraft erzeugt wird, dorthin zu bringen, wo er benötigt wird – in die süddeutschen und rheinischen Industriegebiete – müssen die Netze erweitert werden. Gleichzeitig müssen sie der neuen Erzeugerstruktur besser angepasst werden: Wenn viele Millionen Privatleute, Genossenschaften und Mittelständler auf einmal selbst Energie erzeugen und ins Netz einspeisen, dann muss das Netz mit der nötigen Kapazität flexibel reagieren können, wenn an einem Ort Flaute herrscht und am anderen die Sonne untergeht.
Oder bei der Elektromobilität: Die verspricht mehr Nachhaltigkeit durch erneuerbare Energieerzeugung. Noch allerdings ist Deutschland weit entfernt von den ehrgeizigen Zielen. Auch der engagierteste Bürger kann angesichts des langsamen Aufbaus der elektromobilen Infrastruktur verzweifeln.
Auch bei der Wärmeerzeugung bleibt die Wende aus: Rund 40 Prozent der Endenergie in Deutschland werden in Gebäuden verbraucht, meistens zum Heizen und Kühlen. Zwar sind seit 2006 nach Angaben der Bundesregierung 3,7 Millionen Wohneinheiten für fast 187 Milliarden Euro saniert oder neu gebaut worden. Doch noch sind 32 Prozent der Heizungen in Deutschland 20 Jahre oder älter, hat der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) jüngst in einer Studie feststellen lassen. „Eine forcierte politische Förderung des Austausches alter Heizungsanlagen könnte bis zu 20 Millionen Tonnen CO2 einsparen“, sagt BDEW-Hauptgeschäftsführerin Hildegard Müller.
Energiewende: Vorbild für andere
Und schließlich bei der Energieeffizienz. Diese sorgt dafür, dass weniger Energie ungenutzt verpufft. Bislang gingen Wirtschaftswachstum und steigender Energieverbrauch einher. Deutschland aber hat die so genannte Entkoppelung geschafft: Seit geraumer Zeit sinkt der Primärenergieverbrauch pro Kopf. „Deutschland ist innerhalb der letzten 24 Jahre um gut ein Drittel energieeffizienter geworden,“ erklärte Hans-Joachim Ziesing, Vorstandsmitglied der AG Energiebilanzen. Dennoch reicht diese Entwicklung nicht aus, um die Wende abzuschließen.
Allerdings steht Deutschland nicht allein vor solch gewaltigen Aufgaben. Auch die anderen Industriestaaten haben längst ihre nationale Wende geplant und setzen dabei auf ganz unterschiedliche Formen der Energieerzeugung, der Effizienz und der politischen Förderung. Dass der Umbau weltweit möglich ist, hat erst kürzlich Greenpeace mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) festgestellt. Demnach gibt es keine technischen oder wirtschaftlichen Hindernisse auf dem Weg zu vollständig Erneuerbaren Energien. Alles was benötigt wird, ist der politische Wille, ihn auch zu gehen. Vielleicht sind wieder „Verrückte“ gefragt, wie die, die vor 15 Jahren die ersten Solaranlagen auf ihre Dächer schraubten.