Stockende Revolution

Deutschlands Energiewende vollzieht sich zu langsam. Eine Ökostromlücke droht.
Illustrationen: Jasmin Mietaschk
Illustrationen: Jasmin Mietaschk
Axel Novak Redaktion

Der 31. März 2021 war ein guter Tag für Solarstromer: Den ganzen Tag schien die Sonne. Mehr als 37 Kilowatt Strom speiste Jesper Heinrichs in Deutschlands Stromnetz ein, frisch geerntet von der Photovoltaikanlage auf dem Dach. Wäre dieser Strom konventionell entstanden, wären 26 Kilogramm CO2 in die Atmosphäre gelangt. Nebenbei hat Heinrichs 4,31 Euro verdient. Soviel überweist der Netzbetreiber für diesen Tag.

 

Insgesamt 1,7 Millionen solcher PV-Anlagen
gibt es heute in Deutschland. Sie sind Teil der privaten Energiewende, die hunderttausende Hausbesitzer in Deutschland eingeleitet haben. Die Besitzer sind zu Protagonisten eines Systemwechsels geworden, der die gesamte Energiewirtschaft und die Wirtschaft durcheinanderwirbelt. Der Wandel des Konsumenten zum so genannten „Prosumer“, also zum Produzenten-Konsumenten, hat längst stattgefunden – nicht nur aus Idealismus, sondern auch, weil Energie ganz gutes Geld bringen kann.

 

Ein enormer Umbau

Die Energiewende in Deutschland bedeutet eine komplette Umstellung in der Energieversorgung – von fossilen Ressourcen auf erneuerbare Quellen. Dieser mächtige Umbau umfasst alle Lebensbereiche und ist so gewaltig, dass sich noch längst nicht abzeichnet, was alles geschehen muss. Große regulatorische und finanzielle Anstrengungen sind notwendig, auch wenn Förderprogramme, neue Gesetze, Steuern und Abgaben – sogar auf CO2 – heute dafür sorgen, dass die ersten zaghaften Öko-Pflänzchen mit den Jahren zu mächtigen Wirtschaftsfaktoren geworden sind.

 

Deutschland produziert immer mehr Erneuerbare Energie. Insgesamt wurden 455 Milliarden Kilowattstunden aus erneuerbaren Energieträgern gewonnen. 19,3 Prozent des deutschen Endenergieverbrauchs stammten 2020 aus erneuerbaren Energiequellen, so das Umweltbundesamt. Damit hat Deutschland sein mit der EU abgestimmtes Ziel von 18 Prozent übertroffen.

 

Also alles bestens auf dem Weg in die glückliche Welt der klimaneutralen Wirtschaftsmacht? Leider nein, denn es hakt an vielen Stellen: Längst nicht alle Sektoren sind so grün geworden wie die Stromerzeugung – und selbst da ist noch zu tun. Sicher hat sich der Anteil erneuerbaren Energien am  Bruttostromverbrauch im vergangenen Jahrzehnt mehr als verdoppelt. Und es soll noch mehr werden, dafür hat die Bundesregierung erst vor wenigen Tagen Deutschlands Ausbauziele angehoben. „Und doch laufen wir noch immer sehenden Auges in eine Ökostromlücke, da die Ausbauziele erneuerbarer Energien noch immer nicht ausreichen“, sagt Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin.

 

Die Solarenergie beispielsweise soll um 2,5 Gigawatt pro Jahr zunehmen – das Umweltbundesamt hält mehr als das Doppelte für nötig. Oder Windenergie: Ihr Ausbau liegt weit unter Plan, weil die administrativen Auflagen immer höher werden. Das ändert sich nur langsam: „Insgesamt zeigen die Zahlen zu den Genehmigungen, dass die Windbranche Schritt für Schritt auf einen positiven Ausbaupfad zurückfindet. Der zaghafte Anstieg von Genehmigungen und Ausschreibungsvolumen aus 2020 setzt sich 2021 fort“, sagt Hermann Albers, Präsident des Bundesverbands WindEnergie.

 

Auch im Wärme-Sektor bleibt noch viel zu tun: Obwohl der Energieverbrauch für das Wohnen – vor allem für die Erzeugung von Raumwärme und Warmwasser – mehr als ein Drittel des Endenergieverbrauchs und etwas weniger als ein Drittel der deutschen CO2-Emissionen ausmacht, stammen hier nur 15 Prozent aus erneuerbaren Energiequellen. Vor allem Holz liefert Wärme, weitere zehn Prozent stammen aus Geothermie und Umweltwärme.

 

Nun könnte man meinen, dass die günstigste und nachhaltigste Energie die ist, die nicht verbraucht wird. Doch da wäre wohl zu viel zu tun. Fast jedes siebte Wohngebäude in Deutschland wurde vor dem ersten Weltkrieg, zwei Drittel der Wohnungen vor 1980 errichtet. Moderne Technik, Fenster und Dämmung könnten die CO2-Emissionen je Quadratmeter Wohnfläche dritteln, ergaben Berechnungen des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme ISE. Grüne Fernwärme, Wasserstoff statt Erdgas und eine sektorübergreifende Vernetzung von erneuerbaren Energiequellen ließen sie sogar noch viel stärker schrumpfen.

 

Doch derzeit wird jährlich gerade mal ein Prozent der bestehenden Wohnungen saniert – notwendig wären drei Prozent. Neue Technik ist teuer, es fehlen Geld und Anreize für Besitzer und für Mieter.

 

Im Verkehrsbereich ist der Anteil an erneuerbaren Energiequellen mit 7,3 Prozent am geringsten. Der Grund: Zu viele Autos fahren mit einem Verbrennungsmotor. E-Mobilität dagegen ist weiterhin teuer und unattraktiv, die Lade-Infrastruktur rudimentär, die Anzahl der technischen Ladestandards entmutigend. Von der Notwendigkeit, die Anzahl der Autos in Deutschland für mehr Klimaschutz stark zu senken, spricht sowieso niemand.

 

Andere Verkehrsträger mit nachhaltigerem Antrieb kommen viel zu kurz: Der ÖPNV ist selten attraktiv genug, der Ausbau von Radwegen stockt und die Eisenbahn verliert als Transporteur im Güterverkehr immer mehr Marktanteile.

 

Und schließlich sind einige grundlegende Fragen noch nicht beantwortet. Wie bauen wir schneller leistungsfähige Stromnetze? Die sind heute oft so sehr überlastet, dass Ökostrom-Produzenten der Zugang gesperrt wird. Mehr Leitungen aber scheitern an komplizierten Genehmigungsverfahren und an politischem Unwillen.

 

Oder warum speichern wir überschüssige Energie nicht in anderen Sektoren – in den Batterien von Autos zum Beispiel, in Tiefkühltruhen oder in Hochöfen? Warum gibt es eigentlich keine günstigen Strompreise für Verbraucher, die den Verbrauch von Strom danach richten können, wenn er erzeugt wird? Und schließlich: Was machen wir eigentlich, wenn immer noch viel zu viel CO2 in der Atmosphäre geblieben ist, obwohl wir doch unsere Energieerzeugung auf Nachhaltigkeit umgestellt und längst die halbe Welt neu bepflanzt haben? Diese oft politischen Fragen werden zu selten gestellt und diskutiert.

 

Was den CO2-Anteil in der Atmosphäre betrifft, so ist zumindest Land in Sicht: Eben erst hat Multi-Unternehmer und Visionär Elon Musk einen Wettbewerb ausgeschrieben. 100 Millionen US-Dollar soll der erhalten, der ein Verfahren findet, um CO2 im industriellen Maßstab aus der Atmosphäre zu entfernen. Bei solch einem Anreiz sollte sich ein technisches Verfahren finden.

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