KI-Land Deutschland

Deutschland scheint bei weitem nicht so rückständig im Bereich Künstliche Intelligenz zu sein, wie aktuell immer behauptet wird. Besonders die Forschung zählt nach wie vor zur Weltspitze. Ein Überblick.
Illustration: Helena Pallaré
Klaus Lüber Redaktion

Als der junge mexikanische Mathematiker Raul Rojas vor über 30 Jahren seinen weiteren Weg als KI-Forscher plante, entschied er sich für Deutschland. „Der Professor konnte das nicht verstehen: Warum denn gerade Deutschland? Und nicht Chicago? Oder das MIT? Da spiele doch die Musik.“ Doch Rojas blieb bei seiner Entscheidung. „Ich fand Deutschland einfach spannender, vor allem wegen seiner wissenschaftlichen Tradition.“


Inzwischen ist Rojas Professor für Informatik an der FU Berlin und Leiter des Dahlem Center for Machine Learning and Robotics (DCMLR), eines der wichtigsten Forschungszentren für Künstliche Intelligenz in Deutschland. Seine Entscheidung hat er bis heute nicht bereut. „Ich denke, was wirklich Innovation auf dem Feld der KI angeht, gehört Deutschland nach wie vor zur internationalen Elite.“ Einen Schwerpunkt im DCMLR bildet das Forschungsfeld autonomes Fahren. Bereits seit acht Jahren steuert an der FU entwickelte Software selbstfahrende Autos durch den Berliner Stadtverkehr. Auch die Entwicklung sogenannter biomimetischer Roboter, die das Verhalten von Tieren wie Bienen oder Fischen nachahmen, gehören zu den Arbeitsgebieten der insgesamt vier Professuren am DCMLR. „Wir wollen Systeme entwickeln, die sehr gut funktionieren, dabei in ihren Handlungen nachvollziehbar bleiben und auch unseren ethischen Werten entsprechen.“


Damit beschreibt der KI-Forscher aus Berlin sehr genau das, was sich auch die Deutsche Bundesregierung in ihrer Nationalen KI-Strategie zur Förderung des Themenfeldes Künstliche Intelligenz überlegt hat. Ziel sei es, so heißt es dort, einen ganz eigenen, deutschen KI-Ansatz zu entwickeln: „KI Made in Germany.“ So stellt das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) bis 2025 drei Milliarden Euro für KI-Forschung bereit. Unter anderem auch dafür, aktuelle KI-Kompetenzzentren weiterhin zu unterstützen und zu einem größeren Netzwerk von mindestens zwölf Zentren und Anwendungshubs auszubauen.


Zu den größten und traditionsreichsten dieser Zentren zählt das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI), 1988 als gemeinnützige Public-Private-Partnership (PPP) gegründet und mit aktuell rund 1.100 Mitarbeitern das größte KI-Forschungsinstitut weltweit. Das DFKI unterhält Standorte in Kaiserslautern, Saarbrücken, Bremen, ein Projektbüro in Berlin, ein Labor in Niedersachsen und eine Außenstelle in St. Wendel. Forscher aus 60 Nationen arbeiten im Bereich Grundlagenforschung bis hin zur konkreten Produktentwicklung in direkter Zusammenarbeit mit Kunden aus der Industrie. Das DFKI forscht zu ziemlich allen denkbaren Anwendungsbereichen von KI, etwa im Bereich Agenten und Simulierte Realität, Industrie 4.0, maschinelle Übersetzung bis hin zu Smarten Assistenzsystemen.


Dass sich Deutschland sehr wohl auch im Bereich Maschinelles Lernen keinesfalls hinter Nationen wie den USA oder China verstecken muss, beweist der Forschungsverbund Cyber Valley im südlichen Baden-Württemberg. Dort haben sich Ende 2016 das Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme Tübingen, die beiden Universitäten Stuttgart und Tübingen sowie die Unternehmen Amazon, BMW AG, Daimler AG, IAV GmbH, Porsche AG, Robert Bosch GmbH und ZF Friedrichshafen AG zu einer Kooperation aus Wissenschaft und Wirtschaft zusammengeschlossen.


Tian Qiu leitet eine von aktuell zehn Forschungsgruppen im Cyber Valley. Seine neue, im Juli 2019 an der Universität Stuttgart gegründete Unit „Bio-medical Microsystems” forscht zu Sensorik und Steuerung von Mikrorobotern im medizinischen Einsatz. „Unsere Arbeit konzentriert sich auf die Entwicklung autonomer Systeme, die selbstständig durch Gewebe steuern können.“ Um die Roboter mit den notwendigen, aus rechtlichen Gründen aber nicht verfügbaren medizinischen Daten füttern zu können, arbeitet das Team mit einer Augmented-Reality-Umgebung, die auch für das Training von Chirurgen eingesetzt wird.
Zukunft von Arbeit, Gesundheit und Mobilität – so definiert die Munich School of Robotics and Machine Intelligence (MSRM), ein weiterer wichtiger Hotspot für KI-Forschung in Deutschland, ihre Schwerpunkte. Seit ihrer Gründung 2017 bringt das Institut mehr als 50 Professorinnen und Professoren der TUM aus Bereichen wie Informatik, Ingenieurwissenschaften, Physik und Medizin in Kooperation mit den Geistes- und Sozialwissenschaften zusammen. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf dem Bereich Mensch-Maschine-Interaktion. „Roboter sollten intelligente Werkzeuge für Menschen sein“, so MSRM-Direktor Prof. Dr. Sami Haddadin. „Durch kollektive Künstliche Intelligenz können sie sich schnell an neue Aufgaben anpassen – ob in den Fabriken der Zukunft oder als Serviceroboter im Haushalt.“


Auch für den Bereich Big-Data-Analytics, also dem Auswerten großer Datenmengen und damit genau dem Feld, in dem Deutschland gegenüber Playern wie den USA und China zurückliegt, gibt es in Deutschland erstklassige Forschungsinstitute. Eines davon ist das Competence Center for Scalable Data Services and Solutions Dresden/Leipzig (ScaDS). Konkret geht es darum, neue Infrastruktur-Architekturen zu entwickeln, um Daten noch effizienter verarbeiten zu können. „Im Frühjahr konnten wir ein System installieren mit einer Ein/Ausgabe-Pipeline, die so leis-tungsfähig ist wie die der größten beiden Supercomputer in den USA“, so Prof. Dr. Wolfgang E. Nagel, Direktor des Zentrums für Informationsdienste und Hochleistungsrechnen Technische Universität Dresden und wissenschaftlicher Koordinator von ScaDS Dresden/Leipzig.


Die Hauptherausforderung sieht er, wie so viele seiner Kollegen, im Management und der Bereitstellung der vielfältigen und für die Forschung massenhaft vorhandenen interessanten Daten. „Im Augenblick ist es so, dass ForscherInnen mit kleinen eigenen Datensätzen zu uns kommen und diese mithilfe externer Anbieter aufstocken müssen, um überhaupt zu guten Ergebnissen zu kommen.“ Das Perfide: Die eigenen Daten gehen damit häufig in den Besitz des Anbieters über. „Bereits seit mehr als fünf Jahren arbeiten wir an einer nationalen Infrastruktur für Forschungsdaten, um das in Zukunft zu vermeiden. Hier sollten wir dringend zu guten Ergebnissen kommen, die es erlauben, Daten über Community-Grenzen hinweg – nach akzeptierten Zugriffsregeln – verfügbar und mit moderatem Aufwand auch disziplinübergreifend auswertbar zu machen.“

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