Von der Vision zur Innovation

Wandel ist überall zu spüren, aber was macht ihn eigentlich aus? Wann wird aus einer Innovation eine Disruption? Professor Sven Schimpf vom Fraunhofer-Verbund Innovationsforschung sagt: Es ist eigentlich ganz einfach. Man muss nur eine Idee haben und sie dann konsequent umsetzen.

Illustrationen: Sophia Hummler
Illustrationen: Sophia Hummler
Julia Thiem Redaktion

Herr Prof. Schimpf, ganz grundsätzlich: Passen der deutsche Perfektionismus und Innovationen überhaupt noch zusammen, denn die derzeit innovativsten Unternehmen finden wir eher in anderen Regionen?
Ich glaube, es gibt mehr als nur den einen Weg. Wir können uns natürlich an anderen Innovationskulturen orientieren, stärker in mutige, risiko-affine Strukturen gehen und machen dafür Abstriche beim Perfektionsgrad. Oder aber wir bauen unsere Kompetenzen weiter als Alleinstellungsmerkmal aus. Das erfordert eine bewusste Entscheidung und auch das Umfeld spielt eine Rolle. Stichwort Digitalisierung: Hier gelten andere Regeln und Geschwindigkeiten als bei der Entwicklung physischer Produkte. Die Grundlagenforschung rückt hier näher mit der Anwendung und Umsetzung zusammen.

Das ist interessant, denn Innovation wird heute ja fast immer in einem Atemzug mit Digitalisierung genannt. Es gibt also auch jenseits der digitalen Welt noch Innovation?
Die Digitalisierung ist ein Technologie-Feld, das sehr prominent ist – auch in der öffentlichen Wahrnehmung, weil sich dort sehr viel tut. Und immer, wenn in einer Technologie ein derart großes Entwicklungspotenzial steckt, strahlt das in viele andere Bereiche aus. Das kann man ähnlich der Kondratieff-Zyklen als eine Art Basisinnovation in der Technologie sehen, die alle anderen Bereiche beeinflusst. Solange in der Digitalisierung und der IT-Entwicklung solche Fortschritte gemacht werden wie in den letzten Jahren, wird das auch so weitergehen. Aber Innovation ist selbstverständlich nicht nur an die Digitalisierung gekoppelt. Der Inhalt einer Innovation kann alles sein, also auch die Umsetzung von Ideen auf gesellschaftlicher Ebene.

Gibt es eine Definition für Innovation, die das Konzept greifbarer macht?
Natürlich, denn auch komplexe Dinge müssen einfach erklärt werden. In der Historie der Innovationsforschung spielen zwei Elemente eine wichtige Rolle. Das eine ist der Neuheitsgrad, also beispielsweise eine neue Idee. Und das zweite ist die erfolgreiche Umsetzung, respektive Einsatz dieser Idee. Ein Geistesblitz, eine Idee und selbst ein Patent sind noch keine Innovation. Erst die Umsetzung macht sie zu einer solchen. Denn nur so wird der Status Quo verändert, vorwärts gebracht.

Warum ist die Veränderung des Status Quo so erstrebenswert, warum können wir nicht mit dem zufrieden sein, was wir bereits erreicht haben?
Am leichtesten lässt sich das erklären, wenn wir zu den Ursprüngen der Menschheit zurückgehen. Könnten wir uns vorstellen, nach wie vor in Höhlen zu leben? Bei der Veränderung des Status Quo geht es darum, unsere Situation aber auch die unseres Umfelds verbessern zu wollen und zu können. So sind große Fortschritte im Lebensstandard, im Zusammenleben entstanden. Klar ist, dass es dabei immer auch Nachteile oder Kompromisse gibt. Weil sich ein Aspekt verbessert, müssen sich nicht alle Aspekte verbessern. Im Gegenteil: Oft geht eine Verbesserung auf Kosten anderer Dinge. Dafür gibt es allerdings auch wieder eine Lösung: Innovation. Fortschritt, Veränderung wird es also immer geben.

Wandel verstehen


Das Wissen um die komplexen Wirkzusammenhänge innerhalb von Innovationssystemen ist erfolgskritisch für Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Gesellschaft. Die Veränderung von Branchen, Märkten und Technologien muss daher frühzeitig erkannt und verstanden werden, um die langfristigen Auswirkungen in ökonomischer, technologischer, sozialer, politischer sowie kultureller Hinsicht aktiv gestalten zu können. Und genau hier setzt der Fraunhofer-Verbund Innovationsforschung an. Es geht darum, Orientierung zu geben und bei der Zukunftsgestaltung im Innovationssystem zu unterstützen. Der Verbund setzt sich aus den fünf Instituten

• Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und
Organisation IAO
• Fraunhofer-Zentrum für Internationales Management und Wissensökonomie
• IMW Fraunhofer-Institut für Naturwissenschaftlich Technische Trendanalysen INT
• Fraunhofer-Informationszentrum Raum und Bau IRB
• Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI sowie dem Gastmitglied
• Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen, Arbeitsgruppe Supply Chain Services IIS-SCS zusammen. Diesen einzigen nicht-technischen Verbund bei der Fraunhofer-Gesellschaft gibt es jetzt mittlerweile seit 2017.

Illustrationen: Sophia Hummler
Illustrationen: Sophia Hummler

Innovation wird in der Regel als etwas Positives wahrgenommen. Muss sie nach Ihren Erklärungen aber nicht zwingend sein…
Ein aus meiner Sicht extremes Beispiel ist Alfred Nobel, der das Dynamit erfindet und kommerzialisiert. Der Mehrwert beispielsweise im Eisenbahn- und Bergbau liegt auf der Hand. Für den Erfolg von Entwicklung und Kommerzialisierung hat aber auch die weniger wünschenswerte, militärische Nutzung eine wichtige Rolle gespielt. Scharfe Trennlinien zwischen positiven und negativen Effekten von Innovationen zu ziehen, ist selbst bei einem solchen Beispiel nicht einfach. Das liegt nicht nur an der Natur der Innovation selbst, sondern auch an der Perspektive, aus der diese betrachtet wird.

Den Status Quo verändern zu wollen, geht vermutlich meist eine positive Intention voraus. Gibt es einen Punkt, an dem man merken kann, dass sich eine Innovation in die falsche Richtung entwickelt?
Hier bewegen wir uns jetzt stark innerhalb der Systemtheorie oder auch innerhalb der Soziologie. Denn ein positiver Effekt für eine Menschengruppe muss nicht zwangsläufig einen positiven Effekt für alle Menschen bedeuten. Oftmals geht es auch um einen Kompromiss zwischen Mensch und Umwelt. Einen festen Punkt gibt es dafür nicht. Denken Sie an Asbest, das jahrelang in der Bauindustrie zum Einsatz gekommen ist. Erst viel später, nämlich dann als Forschung und Wissenschaft, allen voran die Krebsforschung, schon viel weiter waren, sind die negativen Auswirkungen entdeckt worden. Das zeigt, dass es manchmal neuer Innovationen bedarf, um negative Auswirkungen von Innovationen überhaupt identifizieren zu können. Deshalb ist es auch ein Thema, das wir uns vom Verbund Innovationsforschung auf die Fahne geschrieben haben: sozio-ökonomische, sozio-technische Auswirkungen von Innovationen frühzeitig zu erkennen, zu analysieren und zu bewerten.

Das heißt, Innovationen können immer nur der Versuch sein, dringende Fragen einer Zeit zu beantworten, bevor wieder neue Fragen auftreten?
Das ist treffend formuliert, wie wir an der aktuellen Diskussion um nachhaltige Energie derzeit gut beobachten können. Ob Atomkraft als nachhaltig eingestuft wird oder nicht, entscheidet sich gerade an Landesgrenzen. Ähnlich verhält es sich mit Biogasanlagen, die je nach Art der Verwertung eine extrem positive oder auch sehr negative Ökobilanz aufweisen können: Bei der Verwertung von Reststoffen steht ein Verbrennungsmotor mit Biogas als Antriebskonzept im Lebenszyklus gleich oder besser da als ein Elektroantrieb mit Batterien, der mit erneuerbarer Energie betrieben wird. Bei einer Skalierung und einer umfangreichen Nutzung extra zu diesem Zweck angebauter Rohstoffe zur Herstellung von Biogas müssen die Auswirkungen anders bewertet werden.

Das schreit ja förmlich nach der nächsten Innovation. Heißt also, dass Druck ein wichtiger Treiber von Innovationen ist?
Hier müssen aus meiner Sicht die verschiedenen Phasen von Innovationen unterschieden werden. Denn Kreativität spielt immer eine wichtige Rolle und da gibt es konträre Untersuchungen, die zeigen, dass Druck die Kreativität fördert, während andere betonen, dass Ideenfindung vor allem Freiraum braucht. Stichwort: Serendipität. Man muss Zeit haben, die Seele baumeln zu lassen, damit neue Ideen entstehen. Das ist unter Druck schwer möglich. Aber: Innovationsbarrieren werden unter Druck schneller beseitigt. Die Covid-19-Krise ist ein gutes Beispiel. Technisch ist die Videotelefonie schon seit mehreren Jahrzehnten möglich. Aber erst die Krise und der damit verbundene Druck haben für ihre flächendeckende Akzeptanz gesorgt und die gesellschaftliche Barriere überwunden. Heute sind Webkonferenzen ein fester Bestandteil des beruflichen Alltags und haben sich als Alternative zu Geschäftsreisen und persönlichen Treffen etabliert.

Druck fördert also nicht unbedingt kreative Ideen, aber verringert den Widerstand gegen Veränderung?
So kann man es gut zusammenfassen, ja. Denn tatsächlich ist Veränderung ein bei der menschlichen Spezies nicht immer gerne gesehenes Phänomen, was vor dem Hintergrund der ständigen Status-Quo-Verbesserung paradox ist.

Als „Innovator“ braucht man also auch eine hohe Frustrationstoleranz, wenn meine Innovation vielleicht erst Jahre nach ihrer Erfindung erblüht?
Absolut! Wie heißt es so schön: Man muss viele Frösche küssen. Es gibt tatsächlich nur wenige Ideen, die es erfolgreich in die Umsetzung schaffen. Und genau hier liegt eine große Herausforderung auch für Unternehmen. Einerseits wollen und müssen sie Innovation fördern. Das braucht Freiraum, um möglichst viele Ideen an die Oberfläche zu spülen. Andererseits müssen es die „besten“ Ideen – und „beste“ ist hier ein sehr relativer Begriff – dann auch in die erfolgreiche Umsetzung schaffen.

Gibt es Maßnahmen, mit denen Unternehmen die eigene Innovationskraft fördern können?
Letztendlich zieht sich eine solche Förderung durch alle Bereiche, wobei die Mitarbeitenden klar im Vordergrund stehen. Wichtig ist, dass Innovation in der Unternehmenskultur verankert ist. Das klingt trivial, ist in Wirklichkeit aber ein sehr komplexes Feld, da sich eine Kultur nicht von heute auf morgen verändern lässt. Es gibt aber jede Menge konkreter Bausteine, wie etwa das Vorleben, eine Incentivierung, entsprechende Aktivitäten und Schulungen, die Kreativität und Innovation thematisieren.

Neben dem Tagesgeschäft, das möglichst effizient bewältigt werden muss, doch aber eine Mammut-aufgabe…
Richtig, weshalb entsprechende Strukturen geschaffen werden müssen. Teilbereiche müssen immer auf das Tagesgeschäft ausgerichtet sein, um die Wettbewerbsfähigkeit heute sicherzustellen. Sich aber nur darauf zu verlassen, ist fatal, wie viele Beispiele aus der Wirtschaft zeigen. Deshalb sind Unternehmen gut beraten, einen Teil ihrer Kapazitäten für die Wettbewerbsfähigkeit von Morgen, also für die Entwicklung und Umsetzung von Ideen, zu nutzen.

Wie schaffe ich als Unternehmer die Balance, einen hohen Innovationsgrad zu erreichen, der mich langfristig vielleicht sogar vor disruptiven Tendenzen schützt?
In der Innovationsforschung wird unter Disruption eine Innovationsart verstanden, die Investitionen etablierter Marktteilnehmer obsolet macht und damit zerstörerische Kräfte in den bislang vorhandenen Marktstrukturen entfaltet. Digitalkameras sind ein gutes Beispiel, weil sie eine auf chemische Prozesse spezialisierte Industrie zu einer technologie-basierten gemacht und damit ganz neue Akteure hervorgebracht haben. Der disruptiven steht die erhaltende Innovation gegenüber, die bestehende Marktstrukturen festigt. Neben der kontinuierlichen Weiterentwicklung gilt es daher, bestehende Produkte und Dienstleistungen sowie deren Verbindung zu bestehenden Strukturen und Entwicklungspfaden regelmäßig auf den Prüfstand zu stellen.

Mit den nötigen Investitionen in die eigene Innovationskraft kann ich mein Unternehmen also vor Disruption schützen…
Innerhalb eines gewissen Rahmens, ja. Aber natürlich haben es neue Marktteilnehmer in vielen Fällen immer etwas leichter. Das sehen wir an ganz vielen Beispielen, aber Tesla ist eines, das es wunderschön unterstreicht: Wir haben die Automobilindustrie, die langjährig mit der Zuliefererindustrie gewachsen ist.  Da haben sich Innovationspfade entwickelt, die aus heutiger Sicht technisch sinnvoller gelöst werden könnten – etwa die dezentrale Steuerung im Automobil. Bei Tesla gibt es hingegen eine reduzierte Anzahl von Recheneinheiten, die das ganze Fahrzeug steuern. Dadurch entsteht beispielsweise die Möglichkeit, dass Updates wie in der IT-Industrie viel schneller erfolgen können. Für die Automobilhersteller wird der Wechsel auf die Elektromobilität wohl eher keine disruptive Innovation darstellen – für den Zulieferermarkt rund um den Verbrennermotor und dessen Bestandteile zeichnet sich dagegen ein anderes Bild ab.

Es geht also nicht darum, dass Unternehmen nicht wissen, was auf sie zu kommt, sondern dass diese sich oftmals zu sehr in Sicherheit wiegen?
Ganz genau. Der technische Fortschritt muss bei einer Erwägung von Alternativen berücksichtigt werden. Gleiches gilt für den Einfluss begleitender Technologien und Entwicklungen in anderen Branchen. Zum heutigen Stand der Elektromobilität haben sowohl die Verbreitung neuer Batterietechnologien in mobilen Geräten als auch die Investition in Produktionskapazitäten und Ladeinfrastruktur beigetragen. Mit Blick auf solche Entwicklungen auch außerhalb des eigenen Tätigkeitsfeldes sollten daher auch Teile des Status Quo hinterfragt werden, die als sicher gelten. Dazu braucht es viele Innovationen und auch eine Vision, die deutlich über den aktuellen Status Quo hinausgeht.

Innovationen und der Zufall
 

Franz Miller ist seit 1988 Wissenschaftsredakteur bei der Fraunhofer-Gesellschaft. In seinem Buch „Die mp3-Story – eine deutsche Erfolgsgeschichte“ beschreibt er den Aufstieg der Technologie zum beliebtesten Musikformat, die einen Umsturz in der Musikindustrie verursachen sollte. Die Ursprünge des mp3-Projekts reichen bis in das Jahr 1982. Damals ging es darum, Musikdateien so klein zu machen, dass man sie in ordentlicher Qualität über eine digitale Telefonleitung (ISDN) übertragen konnte.

Die weite Verbreitung des mp3-Formats ist jedoch einem eher unschönen Fakt zu verdanken: ein krimineller Hack. Die Forscher der Fraunhofer-Gesellschaft hatten nämlich einen „Referenzencoder“ ins Netz gestellt, der die Fertigkeiten des Formats demonstrieren sollte. Er encodierte nur eine Minute Musik. Ein Student durchbrach jedoch die Spielzeitbeschränkung, stellte diese geknackte Version des Programms ins Netz und löste damit die große Welle aus, die dem Format weltweit zum Durchbruch verhalf.

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