Gar nicht so selten

Bei der Erforschung seltener Erkrankungen werden Fortschritte gemacht. Wichtige Impulse gehen von neuen Möglichkeiten molekularer Diagnostik aus.
Illustration: Dirk Oberländer
Julia Thiem Redaktion

Es ist ein Leitspruch, den viele Ärzte vielleicht noch aus ihrem Studium kennen: Wenn du Hufgetrappel hörst, denke an ein Pferd und nicht an ein Zebra. Gemeint ist, dass man bei Symptomen zunächst immer an naheliegende, häufig vorkommende Erkrankungen denken soll und nicht an die Exoten. Und so kommt es, dass Zebras, die seltenen Erkrankungen, gar nicht oder nur sehr spät erkannt werden. Sechs Jahre dauert es im Schnitt, bis Menschen mit einer seltenen Erkrankung endlich eine Diagnose bekommen – oftmals nach einer Odyssee und vielen vermeidbaren Medikamentenverabreichungen. Dabei wären Ärzte gut beraten, öfter auch mal an das Zebra zu denken. Denn obwohl jede einzelne seltene Erkrankung tatsächlich nicht besonders häufig vorkommt, sind es allein in Deutschland immerhin rund vier Millionen Menschen, die unter einer der bisher etwa 8.000 bekannten seltenen Erkrankungen leiden.


Ein ähnlich unausgewogenes Zahlenspiel erlebt man auch mit Blick auf die aktuell vorhandenen Therapieoptionen für Menschen mit seltenen Erkrankungen: Bis Ende 2018 waren laut Verband der forschenden Pharmaunternehmen gerade einmal Medikamente für 131 der insgesamt 8.000 seltenen Erkrankungen zugelassen. Und das, obwohl ein Drittel aller Medikamente mit neuem Wirkstoff zwischen 2014 und 2018 in Deutschland sogenannte Orphan Drugs waren, also auch eine Zulassung für seltene Erkrankungen bekamen. Immerhin: 2018 kamen so 16 weitere Medikamente für seltene Erkrankungen hinzu. Weitere 1.900 Substanzen tragen laut Verband mit Stand Februar 2019 den Orphan-Drug-Status, sind aber noch in der klinischen Entwicklung.


Weitere wichtige Impulse für Menschen mit seltenen Erkrankungen kommen vom Verband der Diagnostica-Industrie (VDGH), der Teil des Nationalen Aktionsbündnisses für Menschen mit seltenen Erkrankungen (NAMSE) ist. „Die Erforschung seltener Erkrankungen mithilfe von molekularer Diagnostik und Life-Science-Research-Technologien nimmt an Fahrt auf“, sagt VDGH-Geschäftsführer Dr. Martin Walger und verweist neben neuen Medikamenten vor allem auf die sogenannte Gen-Schere. Gemeint ist das Enzym CRISPR-Cas9, das vereinfacht ausgedrückt eine Manipulation des Erbguts ermöglicht. „Der erstmalige Einsatz von CRISPR-Cas9 bei einem an Beta-Thalassämie leidenden Menschen im Rahmen einer Studie zeigt, wie schnell die Methode den Weg in die klinische Anwendung gefunden hat“, führt Walger weiter aus. Die Hoffnung ist, dass auf dieser Basis auch zukunftsweisende Therapien bei bislang nicht behandelbaren seltenen Erkrankungen möglich werden.


Forschung auf vielerlei Gebieten ist also entscheidend, will man den allein in Deutschland vier Millionen Betroffenen helfen. Entsprechend stark engagieren sich die zahlreichen Stiftungen, Aktionsbündnisse und Patientenorganisationen in diesem Bereich. So ging der mit 50.000 Euro dotierte Eva Luise Köhler Forschungspreis für seltene Erkrankungen 2019 gerade erst an Prof. Dr. Björn Schumacher vom CECAD Exzellenzcluster für Alternsforschung der Universität zu Köln. Er wurde für seine Forschung rund um angeborene Fehlfunktionen der DNA-Reparaturmechanismen ausgezeichnet, die eine Reihe von kaum erforschten, seltenen und komplexen Krankheitsbildern auslösen.

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