Digital Health

Die Digitalisierung verändert die Gesundheitsbranche. Ein Gespräch mit Dr. Markus Müschenich, Vorstandsmitglied im Bundesverband Internetmedizin.
Illustration: Dirk Oberländer
Interview: Klaus Lüber Redaktion

Herr Müschenich, Deutschland verfügt über eines der leistungsfähigsten Gesundheitssysteme der Welt und trotzdem sind viele Patienten und Ärzte unzufrieden. Warum?
Vor allem darum, weil viele Ärzte sich nur wenig Zeit für ihre Patienten nehmen. Die Folge ist, dass sich die Patienten oft schlecht beraten fühlen und die Ärzte nicht die gute Medizin bieten können, die viele von ihnen gerne bieten würden.

 

Warum nehmen sich die Ärzte denn nicht mehr Zeit?
Das hat mehrere Gründe. Zum einen liegt das am Vergütungssystem. Im Augenblick sind Ärzte in der Situation, dass Sie nur dann gut verdienen, wenn Sie möglichst viele Patienten am Tag behandeln, weil die Kassen Pauschalbeträge für ein ganzes  Quartal zahlen – egal wie oft der Patient in die Praxis kommt. Wer als Arzt Zeit in ausführliche Beratungsgespräche investiert, macht ein Verlustgeschäft. Hinzu kommt, dass die Praxen regelrecht überschwemmt werden von Patienten. Das hat mit unserem niedrigschwelligen Zugang zu tun aber auch mit der Tatsache, dass momentan viele Menschen mit Problemen zum Arzt gehen, die durch einen einfachen Praxisbesuch gar nicht in den Griff zu bekommen sind.

 

Zum Beispiel?
Zum Beispiel chronische Leiden, die durch jahrelanges Fehlverhalten entstanden sind, wie etwa Rückenschmerzen oder durch Übergewicht ausgelösten Diabetes. Da gibt es einen großen Leidensdruck bei vielen Menschen, also strömen sie in die Arztpraxen. Weil die eigentlichen Ursachen ihrer Probleme aber wesentlich komplexer sind als die Behandlungsoptionen, die einem Orthopäden oder Internisten in einer überfüllten Praxis zur Verfügung stehen, sind die Patienten frustriert. Das ist nicht das, was ich unter guter Medizin verstehe.

 

Was ist gute Medizin?
Gute Medizin, das ist eine Kombination aus guter Information und Kommunikation. Ein gut ausgebildeter und über die letzten Erkenntnisse informierter Arzt kommuniziert mit einem ebenso gut informierten Patienten, der auch versteht, was der Arzt sagt. Genau hier haben wir im Augenblick ein Problem. Glücklicherweise sind wir in der Lage, es zu lösen. Wir müssen nur die Chancen ergreifen, die uns die Digitalisierung bietet.


Damit meinen Sie aber nicht „Dr. Google“, oder?
Nein, eben nicht. Beim berüchtigten „Dr. Google“ funktioniert das ja so: Sie haben Kopfschmerzen und das erste Ergebnis, das Sie dazu finden, ist ein Eintrag zum Thema Hirntumor. Warum ist das so? Weil Google von Klickzahlen lebt und das Schlagwort Hirntumor natürlich die meisten Klicks produziert – denn es erzeugt Angst. Das macht Google als medizinischen Ratgeber praktisch unbrauchbar. Für die US-Version von Google bietet Alphabet inzwischen eine Lösung an: ein Pop-up, das bei bestimmten Suchbegriffen einen Arztbesuch empfiehlt. Aber hierzulande ist das noch nicht implementiert.

 

Trotzdem googeln viele Menschen natürlich trotzdem.
Ja, und zwar ganz einfach deshalb, weil sich unsere Erwartungshaltung grundlegend geändert hat. Wir wollen eben, wenn wir Mitten in der Nacht Kopfschmerzen bekommen, die Möglichkeit haben, uns Rat zu holen. Bislang wurde der Rahmen für eine Arzt-Patient-Kommunikation vom Arzt vorgegeben. Er hat bestimmt, wann und wo kommuniziert wird: in der Praxis, beim Hausbesuch, am Telefon. Das reicht vielen Menschen aber nicht mehr.

 

Und die Digitalisierung könnte diesen Bedarf decken?
Genau diese Entwicklung erleben wir gerade, ja. Nehmen wir das Beispiel Kopfschmerz. Statt sich mit Horrorgeschichten über Hirntumoren zu quälen, könnte sich der Patient nämlich auch eine App herunterladen, die eine Einschätzung der Symptome vornimmt. Wir sprechen dabei von Digital Companions, die den Patienten begleiten und unterstützen. Für den Bereich Migräne gibt es beispielsweise bereits Programme, die den Auslöser einer Attacke genauer identifizieren können als jeder Arzt.

 

Wie funktioniert das?
Migräne ist eine hochkomplexe Krankheit. Im Augenblick sind nicht einmal Chefärzte der Neurologie, die selbst an Migräne leiden, in der Lage, die Auslöser ihrer eigenen Attacken exakt zu benennen. Aber ein Algorithmus kann das erstaunlich gut. Dafür sammelt die App alle möglichen Parameter, wie Bewegung, Wetter, Stress, Ernährung, Schlaf etc., die der Patient nach jeder Schmerzattacke dokumentiert. Nach einer bestimmten Anzahl von Attacken kann das Programm dann Wahrscheinlichkeiten für zukünftige Attacken errechnen und auch Faktoren eingrenzen, die die Attacken mit hoher Wahrscheinlichkeit auslösen.

 

Wollen Sie damit sagen, eine solche App ersetzt einen Arztbesuch?
Zumindest entzaubern solche Digital Companions ein Stück weit denjenigen Teil der traditionellen Medizin, der auf der mathematischen Analyse von Daten beruht. Sehr deutlich wird das zum Beispiel in der Diabetologie. Sie können sich als Diabetiker schon heute den Blutzucker von einer App mindestens genauso verlässlich einstellen lassen wie von einem Arzt.

 

Sie sagen, genauso verlässlich. Aber wer garantiert mir denn, dass ich mich auf eine solche App wirklich verlassen kann?
Das ist im Augenblick tatsächlich ein Problem. Nicht deshalb, weil die zitierten Apps nicht verlässlich wären. Das sind Anwendungen, in deren Entwicklung viele Millionen Dollar geflossen sind. Sondern deshalb, weil es im Augenblick noch keinen Standard in der Zulassung solcher Programme gibt.

 

Also haben Sie Verständnis dafür, dass im Augenblick noch viele Patienten nicht auf den Arztbesuch verzichten wollen?
Es geht ja auch gar nicht darum, auf den Arztbesuch zu verzichten. Entscheidend ist die Frage: Wer ist in welchem Bereich besser? Wenn es stimmt, was IBM sagt und seine KI Watson 200 Millionen Seiten Fachliteratur in wenigen Sekunden scannen kann, um ein medizinisches Problem zu lösen, dann ist das natürlich für keinen menschlichen Arzt zu leisten. Auf der anderen Seite ist völlig klar: Wer menschliche Zuwendung sucht, dem ist mit einer App nicht geholfen.

 

Perfekt wäre also eine Kombination aus Arzt und App?
Ja. Wenn Apps einen Teil der medizinischen Versorgung übernehmen, werden die Arztpraxen wieder leerer und Ärzte können endlich das tun, wofür sie studiert haben: Sich Zeit nehmen für Menschen, ihnen wirklich helfen, statt sie nach drei Minuten mit einem Rezept wieder aus dem Behandlungszimmer werfen zu müssen.

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