Tun wir genug?

 Seltene Krankheiten: Jede einzelne ist selten, aber insgesamt sind es viele. Und es werden immer mehr entdeckt. Sie zu erforschen, ist aufwendig.

Illustratorin: Olga Aleksandrova
Illustratorin: Olga Aleksandrova
Dr. Ulrike Schupp Redaktion

Manchmal betrifft eine Seltene Erkrankung nur sehr wenige Menschen, manchmal einige Tausend. Wegen Mukoviszidose, einem angeborenen Stoffwechselleiden, werden in Deutschland zurzeit etwa 8000 Patienten und Patientinnen behandelt. Die Krankheit gilt als nicht heilbar. Wie bei vielen anderen „Rare Diseases“ ist der Leidensdruck für die Betroffenen groß. In ihren Körperzellen entsteht aufgrund einer Genveränderung ein zäher Schleim, der dazu führt, dass ihre Organe nicht mehr richtig funktionieren können. Progerie hingegen, ein Alterungsprozess im Zeitraffer, der Kinder unter den Augen der Eltern innerhalb von wenigen Jahren zu Greisen werden lässt, wurde weltweit bisher nur bei etwa 200 Personen diagnostiziert. 
 

250 NEUE SELTENE ERKRANKUNGEN PRO JAHR


„Seltene Erkrankung“ – das bedeutet in der Europäischen Union, dass nicht mehr als fünf von 10.000 Personen davon betroffen sind. Obwohl jede einzelne Krankheit nur wenige Personen betrifft, leiden in Deutschland insgesamt über vier Millionen Menschen an einer dieser Krankheiten, es sind also sehr viele. Hinzu kommt eine Dunkelziffer, die all die Fälle umfasst, bei denen die Diagnose noch aussteht. Insgesamt gibt es rund 8000 Seltene Erkrankungen. Jährlich werden etwa 250 neue entdeckt. Weil sie von der Forschung lange vernachlässigt wurden, werden sie auch Orphan Diseases genannt, Waisen der Medizin. Patientinnen und Patienten erfahren erst spät, woran sie nun eigentlich leiden. Im Schnitt müssen sie etwa drei Jahre lang verschiedene Ärzte und Ärztinnen konsultieren sowie unterschiedlichste Therapien ausprobieren, bevor jemand der Ursache ihrer Symptome auf die Spur kommt. 

Künftig sollen sie schneller diagnostiziert werden, damit Patienten und Patientinnen besser versorgt werden können. Bereits 2003 begann das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) verstärkt in entsprechende Forschungsverbünde an verschiedenen Standorten in Deutschland zu investieren, um Grundlagenforschung und klinische Forschung zu fördern. Zusätzlich wird die internationale Zusammenarbeit von Forschenden unterstützt. Seit 2013 gibt es NAMSE, den nationalen Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen, der interdisziplinäre Akteure und Akteurinnen vernetzt, um eine bessere Versorgung und schnellere Diagnosen zu erreichen. Bis 2026 sollen neun Verbünde weitere 21,5 Millionen an Fördergeldern erhalten.
 

REICHEN DIE BISHERIGEN BEMÜHUNGEN?


Die Erforschung jeder einzelnen seltenen Erkrankung ist überaus komplex, zudem sind die Fallzahlen in einem Land oft nicht hoch genug, um zu aussagekräftigen Ergebnissen zu kommen. Das International Rare Diseases Research Consortium, dem über 60 Mitgliederorganisationen aus allen Kontinenten angehören, will bis 2027 erreichen, dass alle Patientinnen und Patienten mit einer seltenen Erkrankung innerhalb eines Jahres ihre Diagnose bekommen. Hier soll eine verbesserte Nutzung vorhandener Daten durch digitale Techniken helfen. Bislang gibt es nämlich noch keine nachhaltigen Strukturen für ein digitales Netzwerk zum Datenaustausch. Die Medizininformatik Initiative Collaboration on Rare Diseases (CORD_MI), der auch etliche Universitätskliniken in Deutschland angehören, will hier Abhilfe schaffen. Außerdem sollen etwa 1000 neue Therapieansätze zugelassen werden.

ACHSE, die deutsche Patienten-Dachorganisation Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen, der mehr als 140 Selbsthilfeorganisationen angehören, lobt die Fortschritte der letzten 20 Jahre, zum Beispiel die 36 Zentren für seltene Erkrankungen, die bundesweit an den Universitätskliniken entstanden sind und ihre Arbeit. Gleichzeitig kritisiert die Organisation, das Gesundheitssystem sei vor allem für Menschen mit Orphan Diseases „unzureichend aufgestellt“.
 

»Bis 2027 sollen alle Patientinnen und Patienten mit einer seltenen Erkrankung innerhalb eines Jahres ihre Diagnose bekommen.«
 


Für die Zentren sei eine „stabile und transparente Finanzierung“ erforderlich und auch die ambulante Versorgung müsse noch stärker unterstützt werden. Es sei darüber hinaus nötig, die Entwicklung neuer Medikamente durch gezielte Anreize und Förderungen voranzutreiben. Da Patientinnen und Patienten auf eine ambulante spezialfachärztliche Versorgung (ASV) angewiesen sind, müsse auch hier die Finanzierung verbessert und das Verfahren entbürokratisiert werden. Außerdem solle die Bundesregierung unter anderem mehr Mittel bereitstellen, um über Hilfsangebote für Betroffene und die Erkrankungen selbst zu informieren, um hier nur einige der Forderungen der ACHSE zu nennen.

Hoffnung geben Forschungsprojekte und Initiativen. Unter dem Dach von „Zukunft Niedersachsen“ fördern zum Beispiel das Land und die Volkswagenstiftung Grundlagenforschung zu Rare Diseases. Seit 2024 können Patientinnen und Patienten mit Seltenen Erkrankungen vom sogenannten Modellvorhaben Genomsequenzierung profitieren, das an 27 Zentren der Universitätskliniken durchgeführt wird. Genomsequenzierungen sind Analysen des individuellen Erbguts einer Person, die helfen, problematische Veränderungen zu erkennen und daraus Diagnosen und Therapien abzuleiten. Beim Modellvorhaben werden klinische und genomische Daten in einer gemeinsamen Dateninfrastruktur zusammengeführt und gleichzeitig für Ärztinnen und Ärzte sowie Forschende auswertbar gemacht.
 

INFORMATIONEN ÜBER SELTENE ERKRANKUNGEN


Informationen für Betroffene und Angehörige bietet die deutsche Patienten-Dachorganisation Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen e.V. (ACHSE) 

se_ATLAS – Der medizinische Versorgungsatlas für Seltene Erkrankungen gibt einen Überblick über Versorgungsmöglichkeiten in Deutschland.

Orphanet – Die europäische Datenbank für Seltene Erkrankungen informiert über Seltene Erkrankungen und medikamentöse Therapien.

ZIPSE – Das Zentrale Informationsportal für Seltene Erkrankungen bietet Wissen für Betroffene und ihre Angehörigen sowie für medizinische Fachkräfte, Ärztinnen und Ärzte.

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