Adipositas braucht mehr als gute Vorsätze

 Die Forschung macht Fortschritte, doch die Versorgung hinkt hinterher. Ein Gespräch über Prävention, medizinische Verantwortung und den gesellschaftlichen Umgang mit Adipositas.

Lindsay Zeckel, Leiterin Cardiometabolic Health bei Lilly Deutschland
Lindsay Zeckel, Leiterin Cardiometabolic Health bei Lilly Deutschland
Lilly Deutschland Beitrag

Frau Zeckel, Adipositas ist weltweit auf dem Vormarsch. Was macht die Erkrankung so brisant?

Die Dynamik ist erschreckend. Laut World Obesity Federation könnten bis 2035 über vier Milliarden Menschen betroffen sein – das entspricht fast der Hälfte der Weltbevölkerung. In Deutschland lebt bereits mehr als die Hälfte der Erwachsenen mit Übergewicht, etwa ein Fünftel mit Adipositas. Die gesundheitlichen Folgen sind gravierend: Adipositas erhöht unter anderem das Risiko für Diabetes, Bluthochdruck und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Auch die volkswirtschaftlichen Auswirkungen sind enorm – allein in Deutschland belasten Adipositas und ihre Folgeerkrankungen das Gesundheitssystem mit über 60 Milliarden Euro jährlich. Und dennoch wird die Erkrankung häufig bagatellisiert oder gar ignoriert.
 

Woran liegt es, dass Adipositas trotz dieser Faktenlage oft nicht als ernstzunehmende Krankheit angesehen wird?

Weil tief verwurzelte gesellschaftliche Vorstellungen im Weg stehen. Viele Menschen glauben, dass Körpergewicht ausschließlich eine Frage der Selbstdisziplin sei. Doch wissenschaftlich ist längst belegt: Adipositas ist eine komplexe, chronische Erkrankung, die durch genetische, hormonelle und metabolische Faktoren beeinflusst wird. Der Körper verteidigt sein Gewicht oft mit erstaunlicher Hartnäckigkeit – selbst gegen den Willen der Betroffenen. Menschen mit Adipositas kämpfen nicht nur mit Vorurteilen, sondern auch mit biologischen Mechanismen, die eine langfristige Gewichtsreduktion erschweren. Es ist höchste Zeit, diese Realität anzuerkennen.
 

Wie wirken sich diese gesellschaftlichen Vorstellungen auf den Alltag der Betroffenen aus?

Vor allem durch Stigmatisierung – oft subtil, manchmal offen. Wer mit Adipositas lebt, wird nicht selten auf sein vermeintliches Verhalten reduziert, statt auf seine medizinischen Bedürfnisse. Noch immer zögern viele Betroffene, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen – nicht aus Mangel an Einsicht, sondern aus Angst vor Stigmatisierung. Die Sorge, als undiszipliniert oder selbst schuld abgestempelt zu werden, hält viele davon ab, überhaupt das Gespräch mit Ärztin oder Arzt zu führen. Dabei ist genau dieses Gespräch der erste Schritt in eine wirksame Therapie. 
 

Wie begegnet Lilly dieser gesellschaftlichen Tabuisierung?

Mit Aufklärung und Dialog. Bei Lilly setzen wir uns dafür ein, das Bewusstsein für Adipositas als ernstzunehmende Erkrankung zu stärken. Durch Studien, Informationskampagnen und die Entwicklung innovativer Versorgungskonzepte wollen wir dazu beitragen, dass Betroffene medizinisch begleitet und gesellschaftlich respektiert werden. Besonders wichtig ist es uns, den Stellenwert präventiver Maßnahmen in den Fokus zu rücken. Wenn Menschen mit Adipositas frühzeitig medizinische Unterstützung erhalten, können schwere Krankheitsverläufe und Folgeerkrankungen verhindert werden. Das erhöht die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten und reduziert gleichzeitig die Kosten für das Gesundheitssystem. 
 

Was bedeutet das konkret für die medizinische Behandlung?

Es reicht nicht, Menschen mit Adipositas zu sagen, sie sollen sich mehr bewegen und weniger essen. Lebensstiländerungen sind wichtig – aber oft nicht ausreichend. Ein nachhaltiges Gewichtsmanagement braucht medizinische Begleitung, vergleichbar mit der Behandlung anderer chronischer Erkrankungen. Schon eine Gewichtsreduktion von fünf bis zehn Prozent kann das Risiko für Folgeerkrankungen wie Bluthochdruck deutlich senken. Bei 15 Prozent weniger Körpergewicht ist sogar mit einem positiven Einfluss auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Herzschwäche zu rechnen. Doch viele Betroffene bleiben zu lange allein – ohne Zugang zu strukturierten Programmen oder ärztliche Unterstützung. Dabei wissen wir: Je früher die Therapie beginnt, desto besser sind die langfristigen Aussichten. 
 

Die Forschung hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Welche neuen Perspektiven ergeben sich daraus für die Behandlung?

Es gibt neue therapeutische Ansätze, die gezielt auf körpereigene Regulationsmechanismen wirken – etwa auf hormonelle Prozesse, die das Sättigungsgefühl beeinflussen und den Stoffwechsel stabilisieren. Diese Entwicklungen eröffnen neue Perspektiven für Menschen mit Adipositas, Gewicht zu verlieren und es auch langfristig zu halten. Das ist ein echter Wendepunkt, medizinisch wie gesellschaftlich. Wichtig ist dabei: Die Behandlung muss kontinuierlich begleitet und regelmäßig angepasst werden, wie bei anderen chronischen Erkrankungen auch. Es geht nicht um kurzfristige Erfolge, sondern um nachhaltige Veränderung. Essenziell ist hierfür ein Zusammenspiel aus Ernährung, Bewegung und medikamentöser Therapie.
 

Damit diese Fortschritte auch bei den Betroffenen ankommen – was muss sich politisch und im öffentlichen Diskurs ändern?

Wir brauchen einen Paradigmenwechsel. Die Anerkennung von Adipositas als chronische Krankheit im Rahmen des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) im Jahr 2020 war ein wichtiger Schritt. Doch solange die Erkrankung im Sozialgesetzbuch als Lifestyle-Thema geführt wird und eine Therapie damit auch nicht erstattungsfähig ist, bleibt sie unterversorgt. Das fördert nicht nur Vorurteile, sondern verhindert auch den Zugang zu wirksamen Therapien. Die medizinische Evidenz liegt vor. Jetzt braucht es den politischen Willen, Versorgungslücken zu schließen. 

Gesellschaftlich braucht es mehr Empathie, mehr Wissen und weniger Schuldzuweisungen. Menschen mit Adipositas verdienen eine Versorgung, die ihre Erkrankung ernst nimmt. Jeder Beitrag zählt: eine respektvolle Sprache, ein offenes Gespräch, das Hinterfragen von Vorurteilen. So schaffen wir gemeinsam eine Umgebung, in der Betroffene sich nicht verstecken müssen – sondern frühzeitig Hilfe finden. 

www.meinwegmitadipositas.de
 

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