Wenn der Schmerz ein Eigenleben entwickelt

Schmerzen haben in der Regel einen Auslöser – aber nicht immer. Chronische Schmerz- erkrankungen können zur Extrembelastung werden.

Illustration: Olga Aleksandrova
Illustration: Olga Aleksandrova
Mirko Heinemann Redaktion

"Die ersten Kopfschmerzattacken hatte ich beim Fernsehen. Da war ich Anfang 30. Beim ersten Mal hatte ich keine Angst. Ich dachte, es wäre eine einmalige Sache. Ich hatte dann auch wochenlang Ruhe. Aber dann kam die nächste Episode. Die ersten Episoden waren nur kurz, mal zwei oder drei Attacken und dann war wieder Ruhe. Die ersten Episoden traten typisch im Frühjahr oder Herbst auf. Die Abstände wurden jedoch mit der Zeit immer kürzer.“ Soweit der Bericht eines Betroffenen von sogenannten Cluster-Kopfschmerzen, einer chronischen Schmerzerkrankung, den das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen auf seinem Portal veröffentlicht hat. Bei Cluster-Kopfschmerzen kommt es zu sehr starken Schmerzen im Bereich eines Auges oder einer Schläfe. Die Attacken treten phasenweise auf. Handelsübliche, rezeptfreie Schmerzmittel können akute Cluster-Kopfschmerzen nicht lindern.

Normalerweise sind Schmerzen ein Warnsignal des Körpers, das auf eine Verletzung oder eine Erkrankung hinweist. Doch Schmerzen können auch eine eigenständige Erkrankung sein, bei der keine Auslöser festgestellt werden können. Laut Schätzungen sind mindestens 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung von chronischen Schmerzen betroffen. Als chronisch werden Schmerzen bezeichnet, wenn sie entweder ohne erkennbare körperliche Schädigung in hoher Frequenz über mindestens drei Monate auftreten oder wenn sie deutlich länger anhalten, als dies durch eine vorangegangene akute Verletzung oder Erkrankung erklärbar wäre. „Der Schmerz hat sich quasi verselbständigt und von körperlichen Ursachen entkoppelt“, so Lars Neeb, Facharzt für Neurologie und medizinischer Direktor der Helios Global Health und Präsident des Schmerzkongresses der Deutschen Schmerzgesellschaft und der Deutschen Kopf- und Migränegesellschaft, der vergangenen Oktober in Mannheim stattfand.

Schmerzen können zum Beispiel eine Folge von Fehlfunktionen im Nervensystem sein, bei denen die Nervenzellen überempfindlich werden. Das gilt für Cluster-Kopfschmerzen genau wie für Migräne oder Spannungskopfschmerzen, das sind dumpfe, drückende Kopfschmerzen, die immer mal wieder auftreten können. Sie lassen sich mit rezeptfreien Schmerzmitteln lindern. Oder die Fibromyalgie, die sich durch Schmerzen auf der Haut, in den Muskeln und Gelenken zeigt. Dazu kommen häufig Schlafstörungen, Müdigkeit, schnelle körperliche wie geistige Erschöpfung und Konzentrationsprobleme.

Auch Rückenschmerzen sind häufig unspezifisch. Sie haben zwar in der Regel einen Auslöser. Nur: Welcher das genau ist, lässt sich häufig nicht klar diagnostizieren. In diese Kategorie gehören auch Erkrankungen wie die Achillodynie, die Plantarfasziitis oder der legendäre „Tennisarm“. Die Ursache bleibt oft unklar, die Schmerzen kommen, bleiben, gehen wieder. Bei den meisten Menschen lassen sie auch ohne Behandlung nach einigen Monaten wieder nach. Dabei können Physiotherapie und bestimmte Dehn- und Kräftigungsübungen helfen, wenn sie regelmäßig durchgeführt werden.


»Schmerzpatient:innen wurden lange nicht ernst genommen, ihre Symptome verharmlost.«


Die Diagnose und Behandlung von Schmerzerkrankungen ist schwierig. Bei vielen Betroffenen von Cluster-Kopfschmerzen beispielsweise hilft das Einatmen von reinem Sauerstoff oder bestimmte Migräne-Schmerzmittel. Wichtig bei allen Schmerzerkrankungen ist das soziale Umfeld. Schmerzpatient:innen wurden lange nicht ernst genommen, ihre Symptome verharmlost. Ein Umdenken hat erst in den letzten Jahren stattgefunden. „Schmerzen und deren Bewältigung hängen stark von der Anteilnahme ab, sei es durch die Anwesenheit vertrauter Personen oder durch einfache Gesten wie das Halten einer Hand“, so Dr. Judith Kappesser, Psychologin an der Universität Gießen. „Das Vorhandensein unterstützender Beziehungen kann Schmerzen subjektiv weniger intensiv erscheinen lassen, da emotionale Unterstützung Stress und Angst reduzieren kann“, ergänzt Professor Dr. Thomas Fischer, ebenfalls Präsident des Schmerzkongresses. „Umgekehrt kann soziale Isolation Schmerzen verstärken, da Einsamkeit die psychische Belastung erhöhen kann – wie wir es während der Corona-Pandemie vielfach erlebt haben.“ Chronische oder häufig wiederkehrende Schmerzen beeinträchtigen zudem die Lebensqualität und schränken nicht selten auch das Sozialleben und die berufliche Leistungsfähigkeit ein. Deshalb sollte die psychologische Betreuung von Patientinnen und Patienten ein zentraler Aspekt der Schmerztherapie sein. Doch derzeit herrscht ein gravierender Mangel an Therapieplätzen. Daher hat der Schmerzkongress einen Fokus auf Digitale Gesundheitsanwendungen gelegt. Solche DiGAs könnten helfen, diese Lücken zu schließen und die ambulante Therapie zu unterstützen, so Professor Dr. Axel Schäfer, Therapieforscher und Physiotherapeut an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst in Hildesheim. Die digitalen Möglichkeiten seien vielfältig und ihre Wirksamkeit zunehmend gut belegt. Etwa bei der Virtual Reality (VR). Hier wird über eine VR-Brille die Illusion eines virtuellen Körpers erzeugt, der in einer künstlichen Welt agiert. Das lenkt zum einen vom Schmerz ab. „Zum anderen kann der Nutzer vollständig in die virtuelle Umgebung eintauchen und den virtuellen Körper im Idealfall als real präsent erleben“, so Schäfer. Dieses Phänomen wird als „Embodiment“ bezeichnet und als einer der möglichen Wirkmechanismen von VR in der Schmerztherapie diskutiert. Denn durch die Illusion eines virtuellen Körpers verändere sich auch die Körper- und Schmerzwahrnehmung in der realen Welt.

Eine kleine, aber signifikante schmerzreduzierende Wirkung könne auch durch speziell entwickelte Smartphone-Apps erzielt werden. Mittlerweile sind elf solcher Apps für Schmerz vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte anerkannt und als erstattungsfähige DiGAs gelistet. Meist beinhalten sie Elemente wie Stressreduktion, Entspannung, Schlafhygiene, Ernährung oder ein Schmerztagebuch. Damit könnten die Apps eine ambulante Therapie unterstützen und helfen, das Erreichte in den Alltag zu übertragen.

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