Wie mein Vater

Wie es ist, in ständiger Lebensgefahr zu schweben? Die Autorin Antje Mater schildert ihr Leben mit dem Marfan-Syndrom, einer angeborenen seltenen Erkrankung.

Antje Mater lebt mit dem Marfan-Syndrom, einer Seltenen Erkrankung.
Antje Mater lebt mit dem Marfan-Syndrom, einer Seltenen Erkrankung.
Antje Mater Redaktion

Ich renne. Verfolgt von zwei Kindern aus meiner Klasse erreiche ich meinen Hausaufgang, schlage die Tür hinter mir zu und weiß, dass ich gewinnen werde. Der Fahrstuhl ist auf dem Weg ins Erdgeschoss und sie werden sich erst durch das ganze Haus klingeln müssen, bevor sie reingelassen werden. Oh, wie meine Knie zittern, meine Lunge pfeift und mein Herz bis zum Hals schlägt, als ich den Summer höre und sich gleichzeitig die Fahrstuhltüren öffnen.

Meine Mutter erfasst die Situation sofort. Während sie mich hinter sich zwischen die Fahrstuhltüren schiebt, ruft sie: „Ihr dürft sie nicht jagen. Wisst ihr denn nicht, dass sie herzkrank ist. Wisst ihr denn nicht, dass sie sterben könnte wie ihr Vater?“

Metallende Wände vervielfältigten das Echo dreier Worte, die mein Leben in diesen einen Kontext stellen: Vater – herzkrank– sterben.


ICH BIN ACHT JAHRE ALT.

 

Einmal im Jahr gehen wir in die Charité: Und hier sehen Sie die Merkmale, die der französische Kinderarzt Antoine Marfan Ende des 19. Jahrhunderts erstmals beschrieb. Achten Sie auf die Skoliose am Rücken, die Übergröße für ein Kind dieses Alters und die Keilbrust. Der Kiefer ebenfalls. Da muss was gemacht werden. Fällt Ihnen auch auf, wie die Füße zum Knie und zum Becken stehen. So etwas sehen Sie nicht alle Tage. Das Mädchen sieht ihrem bereits verstorbenen Vater sehr ähnlich, die anderen Geschwister nicht. Bis auf einen Mitralklappenprolaps scheint sie die Herzdeformationen ihres Vaters bisher nicht geerbt zu haben. Sie hören den Prolaps, wenn Sie das Kind abwechselnd sitzen und liegen lassen. Sie wird einmal im Jahr bei uns vorstellig. Außergewöhnlich ist das zu schnelle Wachstum. Die Organe kommen nicht hinterher. Deshalb die beständigen Kreislaufprobleme. Wir haben errechnet, dass sie 1,96 Meter werden wird. Sehr problematisch. Eine Hormontherapie sollte angedacht werden. Umstritten? Nicht, dass wir wüssten.

 

ICH BIN 12 JAHRE ALT.

 

Wir müssen die Hormontherapie abbrechen. Ihre Tochter hat eine gefährliche Herzmuskelentzündung. Es sieht nicht gut aus.

Die Augen haben sich wieder verschlechtert. Minus 16 Dioptrien und steigend. Ob das mit Marfan zusammenhängt? Sie stellen Fragen. Der Vater blind. Netzhautablösung. Ja, wie bei ihm ist das nicht ausgeschlossen. Der Kiefer ist eindeutig zu schmal. Wir müssen ihn verbreitern und gesunde Zähne ziehen, um das Gebiss anzupassen.

Die Füße sind deformiert und wund. Kein Wunder bei der Länge und Dolichostenomelie. Hatte ihr Vater das auch? Da kann man nichts machen. Nähen Sie ihr Kleidung, wenn nichts so richtig passt! Sie wird in der Schule gehänselt, ja so sind nunmal Kinder. Das wird schon. Gut, dass sie nicht am Sportunterricht teilnimmt. Sie muss unbedingt mehr essen.

Illustration: Sascha Duevel
Illustration: Sascha Duevel

ICH BIN 14 JAHRE ALT.

 

Meine Mutter weint. Sie hat mich in die kinderkardiologische Ambulanz des Deutschen Herzzentrums Berlin bringen können. Drei erfahrene Ärzt:innen erklären: Das Marfan-Syndrom ist eine Seltene Erkrankung. Sie basiert auf einem genetischen Defekt, der bewirkt, dass das Fibrillin, das für die Stabilität des Bindesgewebes zuständig ist, nicht korrekt gebildet wird. Die Folge ist, dass es ausleiert und reißen kann. Überall im Körper kann das passieren, aber gefährlich wird es am Herzen und der Hauptschlagader (Aorta). Marfan wird autosomal-dominant vererbt, das heißt, es kommt immer zum Wirken. Dein Leben lang. Deshalb ist dein Vater erblindet, deshalb schlossen sich seine Herzklappen nicht mehr, deshalb ist er mit 31 Jahren an einem gerissenen Aortengefäß im Kopf gestorben. Wir werden auf dich aufpassen und dich rechtzeitig operieren.

Marfan operieren? Nähe zwei Schneekugeln aneinander, wird mir gesagt, dann weißt du, was es bedeutet. Uns zu operieren ist eine Gratwanderung und braucht unbedingt erfahrene, engagierte Mediziner:innen. Je früher Marfan diagnostiziert wird, umso rechtzeitiger kann ein Eingriff vorgenommen werden. Mehr Chancen für uns, zu überleben. Jedoch wer kennt sich mit dieser einen von 8.000 Seltenen Erkrankungen aus? Welche Kinderärzt:innen achten auf erste, sich manifestierenden Auswirkungen? Ich bin durch den Tod meines Vaters diagnostiziert und lebe mit der Überzeugung, nicht älter als er zu werden.

Also habe ich anderthalb Jahrzehnte, um das Leben auszukosten und tue es. Und dann ist es so weit: Als sie meinen Brustkorb öffnen und mich am Herzen operieren, bin ich 31 Jahre alt. Es ist der Geburts- und Sterbemonat meines Vaters.

Drei Jahre später – eine erneute lebensrettende OP an der Bauchaorta. Marfan zu haben, bedeutet, dass sich auch akut lebensbedrohliche oder lebenseinschränkende Auswirkungen in meinem Körper manifestieren. Entstehen Lecks im Rückenmarkskanal, so dass ein schmerzhafter Verlust von Rückenmarksflüssigkeit die Folge ist, reißt das Bauchgewebe, so dass sich Darm und Magen nach außen wölben, leiern die Bänder an den Gelenken aus und führen zu Stürzen, trüben sich die Augenlinsen frühzeitig durch Grauen Star und vor allem immer die Furcht: Werden neue Aneurysmen rechtzeitig gefunden?


HEUTE BIN ICH 46 JAHRE ALT.

 

Menschen mit Marfan-Syndrom bewältigen ihr Leben immer damit, dass kein Marfan dem anderen gleicht. Es gibt gemeinsame Schwerpunkte, jedoch auch viele nicht therapierbare Auswirkungen. Der frühe Tod begleitet uns. Chronische Schmerzen gehören für viele zum Alltag. Deshalb treffen wir uns durch die Selbsthilfe, verfolgen die Forschung und verbesserte Diagnostik, engagieren uns zusammen mit dem großartigen Verein ACHSE und sind im regen Austausch mit all den Spezialist:innen, die sich in den Ambulanzen für uns Betroffene einsetzen.

 

ICH KENNE EINE MARFAN-BETROFFENE, DIE ÜBER 74 JAHRE ALT IST.

 

Eine von vielen wunderbaren Personen, denen ich begegnen darf. Ein Grund mehr, füreinander da zu sein, Traurigkeit und Angst als existentielle Begleiterinnen anzuerkennen, zuzuhören und sich Gehör zu verschaffen und vor allem, das Vertrauen in all die pflegenden, operierenden und ärztlich begleitenden Menschen mit einem anerkennenden Lächeln zu stärken. Einem Lächeln, welches meinem Vater so ähnlich ist.

 

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