Neuerdings zählen auch die so genannten Kreidezähne bei Kindern zu den Volkskrankheiten. Zahnärzte beklagen eine massive Zunahme der so genannten Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH). Kreidezähne haben einen unvollständig ausgebildeten Zahnschmelz, die Symptomatik zeigt sich in schmerzempfindlichen Zähnen. Zehn bis 15 Prozent der Kinder leiden an MIH, bei den 12-Jährigen sind es sogar über 30 Prozent. Bei Kindern und Jugendlichen ist die MIH damit in bestimmten Altersgruppen bereits häufiger als Karies. Die Ursachen sind unbekannt. Der Zahnarzt trägt in der Regel hochkonzentrierten Fluoridlack auf, der die Zähne vor Karies schützen soll. Heilen kann er jedoch nicht.
Es gibt keine klare Definition für den Begriff „Volkskrankheit”. Im Allgemeinen werden damit Krankheiten beschrieben, die mit einer „signifikant überdurchschnittlichen Prävalenz und Inzidenz” einhergehen, so das Medizinlexikon. Gemeint sind Krankheiten, bei denen sowohl der Anteil der Erkrankten an der Bevölkerung (Prävalenz) als auch die Zahl der Neuerkrankungen (Inzidenz) besonders hoch ist. In der Konsequenz fallen Volkskrankheiten gesundheitsökonomisch häufig so deutlich ins Gewicht, dass sie im Fokus der öffentlichen Gesundheitsvorsorge und der Gesundheitspolitik stehen. In der Fachsprache der Mediziner taucht dieser Begriff nicht auf.
Der Mensch wird immer älter
Die Liste der Erkrankungen mit überdurchschnittlicher Inzidenz und Prävalenz wird aber immer länger. Das liegt vor allem daran, dass der Mensch dank verbesserter Lebensbedingungen und einer guten medizinischen Versorgung immer älter wird. Schätzungen zufolge wird in Deutschland im Jahr 2050 jeder Dritte 65 Jahre oder älter sein. Doch mit der wachsenden Lebenserwartung steigt auch der Bedarf an medizinischem Fortschritt. Und damit auch die Zahl der Menschen, die an Krebs, Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen leiden – alles Volkskrankheiten. Die medizinische Forschung und Versorgung stellt diese Entwicklung vor neue Herausforderungen.
Neben den genannten Erkrankungen werden gemeinhin auch Rückenschmerzen, Bluthochdruck und Übergewicht zu den Volksrankheiten gezählt. Und Depressionen: Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass die Depression bis zum Jahr 2030 zu den häufigsten Volkskrankheiten weltweit zählen könnte. Heute sind schätzungsweise 350 Millionen Menschen weltweit davon betroffen, gut 18 Prozent mehr als vor zehn Jahren. Depressionen sind der häufigste Grund für lange Fehlzeiten und Behinderungen, in Ländern wie Dänemark und die Niederlanden gehen bis zu 50 Prozent der langen Fehlzeiten auf psychische Störungen und hier in erster Linie auf Depressionen zurück.
Obwohl Depressionen gut therapierbar sind, wird die Hälfte aller schweren Depressionen nicht behandelt. Depressionen seien wichtigster Einzelfaktor für psychische Gesundheitsprobleme in Europa, so die WHO. Danach leidet jeder siebte Europäer im Laufe seines Lebens an schweren Stimmungs-störungen. Und jedes Jahr erleiden sieben Prozent eine schwere Depression. Rechnet man Angstzustände und leichtere Formen der Depression hinzu, sind es ein Viertel.
Doch die allergrößte Furcht weckt sicherlich die Diagnose Krebs. Bei rund 500.000 Männern, Frauen und Kindern wird jedes Jahr Krebs entdeckt. Dies geschieht manchmal bei einer Routineuntersuchung, oft aber auch nur durch Zufall. Aber: Krebs ist heutzutage nicht mehr zwangsläufig tödlich. Die Medizin hat auf dem Feld der Krebsforschung in den letzten Jahren zwar keinen sensationellen Durchbruch erzielt, aber vielversprechende Wege aufgezeigt. Die Weiterentwicklung der mikroinvasiven Chirurgie, die neuen Immuntherapien und die zielgerichteten molekularen Therapien haben dazu geführt, dass früh erkannter Krebs oftmals therapierbar geworden ist. Fünf Jahre nach einer Krebsdiagnose leben heutzutage noch mehr als die Hälfte aller Krebspatienten – so viele wie nie zuvor. Viele Patienten leben mit Krebs wie mit einer anderen chronischen Erkrankung. Bei manchen Tumorarten besteht sogar eine gute Chance auf dauerhafte Heilung.
Die Krebsforschung hat viele neue Erkenntnisse zur Vorbeugung, Vorsorge, Behandlung und Nachsorge gewonnen. Viele Krebserkrankungen sind auf beeinflussbare Risikofaktoren wie Rauchen, ungesunde Ernährung oder Infektionen zurückzuführen. Lange standen Patienten im fortgeschrittenen Stadium außer Chemotherapien und Bestrahlungen keine weiteren Therapiemöglichkeiten zur Verfügung. Dank der Fortschritte im Bereich der Genomforschung können nun mehr und mehr personalisierte Therapien zum Einsatz kommen. Diese setzen eine umfassende molekulare Untersuchung vor der Therapie voraus. Aber auch der Immuntherapie eröffnen sich immer mehr Ansatzpunkte. Bei der häufigen Form des nicht-kleinzelligen Lungenkrebs existieren mittlerweile für mehr als ein Viertel der Patienten in inoperablen Tumorstadien zielgerichtete Therapien.
Zugleich steigt die Zahl der Erkrankungen mit überdurchschnittlicher Inzidenz und Prävalenz aber auch aus einem anderen Grund: Die Weltgesundheitsorganisation WHO weist auf den ungesunden Lebenswandel hin, der sich mit dem wachsenden Wohlstand weltweit durchsetzt. Die Zahl der Raucher steige weltweit massiv an, der Konsum von Alkohol nehme zu. Die WHO fordert daher die Regierungen dazu auf, die Gesetze zur Regulierung des Konsums von Tabak, Alkohol und zuckerhaltigen Getränken zu verschärfen. Letzteres würde bei den Kleinsten schon Effekte zeigen, denn schon jedes siebte Kind in Deutschland ist übergewichtig.
Übergewicht kann schwerwiegende Folgen haben
Die Folgen können schwerwiegend sein. Übergewicht kann Bluthochdruck und andere Herz-Kreislauf-Erkrankungen auslösen, außerdem Gelenk- und Rückenschäden. Sogar auf die Entstehung von Demenz und Krebs, vermutet man, könnte ein zu hohes Körpergewicht in Kombination mit Bewegungsmangel Einfluss haben. Und auf jeden Fall kann es eine weitere Volkskrankheit auslösen: den Diabetes mellitus. Mehr als sechs Millionen Menschen sind hierzulande daran schon erkrankt. Die Tendenz ist leider steigend. Das Tragische an der Sache: Weil Symptome häufig diffus sind oder erst spät auftreten, wissen zwei Millionen noch nichts von ihrer Erkrankung.