Diabetes hat viele Gesichter

Die Dunkelziffer bei Diabetes ist hoch. Unter anderem deshalb, weil sich die Erkrankung ganz unterschiedlich äußern kann.
Illustrationen: Dieter Flüggen by Marsha Heyer Illustratoren
Illustrationen: Dieter Flüggen by Marsha Heyer Illustratoren
Julia Thiem Redaktion

Hermann R. ist 72 Jahre alt, als ihn sein Hausarzt mit Verdacht auf Schlaganfall ins Krankenhaus einliefern lässt. Seit Tagen fühlt er sich schlapp, nickt selbst im Gespräch immer wieder kurz ein und klagt über eine deutliche Muskelschwäche in Armen und Beinen. Seinen linken Arm kann er kaum noch heben. Nach einem Tag voller Diagnostik ist klar: Ein Schlaganfall ist es nicht. R. wird in das nahegelegene Universitätskrankenhaus überwiesen und dort von der Neurologie eine Woche lang gründlich auf den Kopf gestellt – wieder ohne eindeutiges Ergebnis. Tief im Entlassungsbericht vergraben steht etwas von Tetraparese, also einer Lähmung der Gliedmaßen, die unterschiedliche Ausmaße annehmen kann, sowie einer axonalen Neuropathie, eine Schädigung der Nervenfortsätze des peripheren Nervensystems. Auch eine Motoneuronerkrankung wie ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) können die Mediziner nicht ausschließen, weshalb sich R. regelmäßig ambulant vorstellen soll, um den klinischen Verlauf beobachten zu können.


Daran hält er sich. Eine deutliche Verschlechterung der Nervenleitfähigkeit wird in den bisher zwei Jahren, die seitdem vergangen sind, nicht festgestellt. Richtig gut geht es R. dennoch nicht. Zuletzt hat es ihn dieses Jahr im Urlaub an der deutschen Ostseeküste erwischt. Er kam morgens nicht aus dem Bett, hatte keine Kraft, sich mit dem Arm abzustützen und sich aufzurichten. Auch seine Aussprache war schlecht. Er bekam die Zähne buchstäblich nicht auseinander. Wieder wurde er als Notfall in die örtliche Klinik gebracht. Wieder wurde ein Schlaganfall ausgeschlossen. Ein junger Neurologe, der für den Fall zuständig ist, bringt es dann auf den Punkt: „Wir werden nicht abschließend herausfinden können, wo genau die Ursache Ihrer neurologischen Ausfälle liegt. Mit Sicherheit ist aber Ihr Diabetes mellitus Typ II für einen Großteil Ihrer Symptome verantwortlich.“

 

Die diabetische Polyneuropathie

 

Eine Neuropathie, unter der auch R. leidet, ist leider keine Seltenheit bei Diabetespatienten. Der Fachbegriff lautet deshalb auch diabetische Polyneuropathie, weil ein schlecht eingestellter Blutzucker zu Nervenschäden führen kann – und zwar gleich an einer Vielzahl an Nerven, was die Silbe „poly“ unterstreicht. Ursache sind in der Regel krankhafte Veränderungen an den kleinsten Blutgefäßen, die zu den Nervenschäden führen. Zudem leiden Diabetespatienten häufig auch unter Nährstoffmangel. Gerade die B-Vitamine, allen voran Vitamin B1 und Vitamin B12, fehlen den Betroffenen. Schuld sind zum Teil sogar die blutzuckersenkenden Medikamente, die gerade bei älteren Patienten einen Mangel auslösen können – auch hier wieder mit negativen Auswirkungen auf die Nerven. Auch bei R. wurde ein Vitamin-B12-Mangel festgestellt. Seitdem er diesen medikamentös ausgleicht, geht es ihm bereits deutlich besser.


Je länger eine Diabeteserkrankung besteht – vor allem, wenn der Blutzucker schlecht eingestellt ist –, desto höher ist das Risiko, an einer Folge-erkrankung wie einer diabetischen Nervenstörung zu erkranken. Zusätzliche Risikofaktoren sind Rauchen, ein erhöhter Alkoholkonsum, Übergewicht, Bluthochdruck und erhöhte Blutfettwerte. Und das ist die Crux: Gerade Bluthochdruck und erhöhte Blutfettwerte sind Begleiterkrankungen von Diabetes mellitus Typ II. Und hier kommen wir zu einer interessanten Unterscheidung, nämlich zwischen Folgeerkrankungen – also zusätzlichen gesundheitlichen Einschränkungen, die durch den Diabetes überhaupt erst verursacht werden – und Begleiterkrankungen, die sich parallel zum Diabetes entwickeln und diesen sogar ankündigen können. Neben Bluthochdruck und erhöhten Blutfettwerten steht ein Typ-II-Diabetes den Betroffenen zum Teil sogar ins Gesicht geschrieben. Ist der Blutzucker über längere Zeit erhöht, führt das zu Schäden an der Netzhaut. Wer also beispielsweise Probleme beim Lesen hat, verzerrt oder verschwommen sieht oder Störungen beim Farbsehen hat, sollte dringend seine Blutzuckerwerte vom Hausarzt kontrollieren lassen. Auch hier werden wieder kleinste Blutgefäße im Auge geschädigt, die die beschriebenen Probleme beim Sehen nach sich ziehen. Neben Veränderungen der kleinen Gefäße der Netzhaut (Retinopathie) und des gelben Flecks (Makulopathie) werden auch Entzündungen an Ober- und Unterlid und grauer Star (Linsentrübungen, Katarakt) beobachtet.

 

Schlafapnoe:Hinweis auf Diabetes?

 

Die Liste der Folge- und Begleiterkrankungen eines Diabetes mellitus Typ II ließe sich an dieser Stelle noch weiter ausführen. So ist Diabetes mellitus in Deutschland beispielsweise die häufigste Ursache von Erblindung, Nierenersatzbehandlungen und Amputationen. Selbst eine Schlafapnoe, längere Atemstillstände im Schlaf, können ein Hinweis auf Typ-II-Diabetes sein, beziehungsweise das Risiko hierfür erhöhen. Das A und O ist deshalb eine gute Einstellung des Blutzuckerspiegels. Zahlreiche wissenschaftliche Studien belegen, dass so das Auftreten, respektive Fortschreiten von Schäden verhindert oder zumindest verzögert werden kann. Das heißt konkret, dass Diabetiker besonders auf ihren Lebenswandel achten müssen. Dazu zählt vor allem eine gesunde, ballaststoffreiche Ernährung, die idealerweise aus frisch zubereiteten Speisen und viel Gemüse besteht. Industrieller Zucker, leere Kohlenhydrate wie Weißbrot und zuckerhaltige Getränke sollten möglichst vermieden werden – eben alles, was den Blutzuckerspiegel zusätzlich in die Höhe treibt.


Wichtig ist außerdem, auf das Gewicht zu achten, weshalb ein gesundes Maß an Bewegung und Sport unbedingt in den Alltag integriert werden sollten. Hier sieht die DiabetesDE – Deutsche Diabtes-Hilfe aktuell übrigens ein großes Problem und befürchtet sogar einen Anstieg der Typ-II-Diabetes-Zahlen durch die Corona-Pandemie. „Mittlerweile fallen wieder seit Wochen Bewegungsangebote in Vereinen oder anderen Sporteinrichtungen aus. Soziale Kontaktbeschränkungen lassen die Moti­vation zu mehr Bewegung und gesunder Ernährung sinken“, warnt DiabetesDE-Vorstand Jens Kröger. Dieser Bewegungsmangel in Kombination mit Übergewicht könne in der Bevölkerung im Verlauf der Corona-Pandemie zunehmen – und damit auch das Risiko für einen Typ-II-Diabetes erhöhen.

 

 

Zu Kliniken, Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen für Betroffene: 
https://diabetes-selbsthilfe.com

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