Um die spannende Frage zu klären, wie wir in Zukunft wohnen werden, könnte es genügen, sich Modelle futuristischer Gebäude und Inneneinrichtungen vorzustellen. Zum Beispiel von energeieffizienten Häusern mit begrünten Dächern und stilvoller Inneneinrichtung, die den Strom, den sie benötigen, selbst produzieren und uns im Haushalt durch allerlei intelligente Technik unterstützen.
Für Lars-Christian Uhlig ist dies allerdings der vollkommen falsche Ansatz. „Es gibt keine komplett neuen Welten. Innerhalb von 40 Jahren tauscht sich die Bevölkerung in einem Quartier mehrfach aus. Die Menschen verändern sich, die baulichen Strukturen bleiben hingegen weitgehend gleich“, so der Projektleiter beim Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Wer wirklich wissen will, wie sich unsere Wohnungen, Häuser und Städte in den nächsten Jahrzehnten verändern, so Uhlig, sollte sich Gedanken darüber machen, wie die Gesellschaft sich verändert. Dann könne man die gebaute Umwelt in diese Richtung weiterdenken: Wenn sich etwa immer mehr Menschen ein Auto teilen, braucht man in den Innenstädten weniger Stellplätze. Wenn sich ein Großteil der Bewohner Waren über Lieferservices bestellt, werden sich Einkaufsstraßen verändern.
Genau dies war das Ziel des Projektes „Baukulturatlas 2030/2050“, das Uhlig in den letzten fünf Jahren für das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) koordinierte. Zusammen mit dem Bundesbauministerium und dem Berliner Architekturbüro Raumtaktik wurden mögliche Szenarien für die räumlichen Transformationen erarbeitet, die Deutschland bis zum Jahr 2050 bevorstehen – immer abhängig davon, in welche Richtung sich gesellschaftliche Trends entwickeln. Dabei wurden Themenfelder wie Stadt und Raum, Gesellschaft und Demographie, Wirtschaft und Politik oder Technologie, Energie und Mobilität berücksichtigt.
Deutschland im Jahr 2050
In der Publikation „Spekulationen Transformationen“ (Lars Müller Publishers) sind die Ergebnisse zusammengefasst: Drei sehr unterschiedliche Zukünfte werden vorgestellt. In der Simulation „Netzland“ haben die wenigen Großunternehmen, die das Verkehrs- und Energieinfrastrukturnetz kontrollieren, neue Arbeits-, Wohn- und Schlafstätten errichtet und damit eine Superstruktur wachsen lassen, in der fast die gesamte Bevölkerung lebt. Rurale Räume und Kleinstädte wurden entweder verlassen, in Energielandschaften mit Solar- und Windparks transferiert oder bieten Zuflucht für Aussteiger, die ganze Dörfer erwerben und dort autarke Gemeinschaften aufbauen.
Die Simulation „Integralland“ beschreibt Deutschland als ökologisch-kommunitaritisches Einwandererland, das dem größten Teil seiner Bevölkerung Zugang zu hochwertigen Bildungsangeboten in einer stabilen und durch bürgerschaftliches Engagement geprägten Demokratie bietet. Es hat sich eine aktive Partizipationskultur herausgebildet, mit dem Ziel der Stärkung des Gemeinwesens. Im sogenannten „Wattland“ ist Deutschland eine Dienstleistungsökonomie und Wissensgesellschaft mit hohem Energiebedarf. Eine zweite – digitale – Lebenswelt hat sich über das Land ausgebreitet und bestimmt das Handeln seiner 75 Millionen Einwohner. Die zentrale Triebkraft der Gesellschaft ist nicht mehr der Euro, sondern das Watt.
Man mag sich über den konkreten Erkenntnisgewinn solcher Szenarien streiten – in all ihrer Science-Fiction-Haftigkeit. Wobei die Kernbotschaft vielleicht gerade die Ungewissheit ist, die solche Prognosen zum Ausdruck bringen. Man kann eben leider nie genau wissen, wie sich Trends weiterentwickeln, welche Faktoren dazu führen, dass sie sich am Ende zu einer Utopie formen oder in einer Dystopie münden.
Utopien …
So gilt es als sehr wahrscheinlich, dass unser Wohnumfeld immer digitaler wird. Und die großen Potenziale der Technik stehen außer Frage. Sie könnte zu einer Dezentralisierung führen, die unsere Wohnkultur nachhaltig verändern wird – und viele sagen, zum Besseren. Zum Beispiel, indem digitale Plattformen dazu beitragen, nicht mehr nur die einzelne Wohnung, sondern die Nachbarschaft als Handlungsfeld in den Fokus zu rücken. Auch wenn durch die zunehmende Verdichtung privater Raum tendenziell schrumpft, hilft die Digitaltechnik, den gemeinschaftlichen Handlungsspielraum auszuweiten. Schon heute haben sogenannte Nachbarschaftsvernetzer Konjunktur, digitale Plattformen, die dabei helfen sollen, die Anonymität der Stadt zu durchbrechen. Wer sich registriert, kann Kontakt zu den Mitgliedern herstellen und sich Hilfe und Tipps holen.
Man könnte die utopischen Potenziale auch noch weiter ausbuchstabieren, wie es etwa die vielzitierte Studie „Zukunft des Wohnens – die zentralen Trends bis 2025“ des Zukunftsforschers Matthias Horx macht. Darin ist unter anderem zu lesen vom Trend zu gesunden Baumaterialien, zur Rückbesinnung auf hochwertige Möbel, energieautarkem Wohnen, Urban Gardening und kollaborativem Wohnen. Freuen wir uns auf die Zukunft, suggerieren uns diese Berichte, denn sie hält so viele intelligente Lösungen für uns bereit!
… Dystopien
Allerdings sollte man sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass all jene positiven Trends in Wechselwirkung mit anderen oft gegenläufigen Dynamiken stehen. Gemeint ist beispielsweise die aktuelle Entwicklung des Wohnungsmarkts, die in vielen deutschen Großstädten zu Verdrängungsprozessen führen: Seit Immobilien immer lohnendere Investitionsobjekte sind, kommt es zur massiven Reduktion von Sozialwohnungen.
Wie verheerend sich dies auf die städtische Wohnsituation auswirken könnte, zeigt etwa der aktuelle Dokumentarfilm „Stadt als Beute“ am Beispiel Berlins. Er sucht nach der Antwort auf die Grundfrage aller sogenannter Gentrifizierungsprozesse: Was passiert, wenn genau diejenige Mischung aus Milieus, die die Stadt so lebenswert und letztlich auch begehrenswert für Investoren macht, am Ende durch einen überhitzten, viel zu wenig regulierten Markt zerstört wird? Dann, so die Antwort des Films, droht eine städtische Monokultur, in der jegliches urbane Flair verloren gegangen ist.
Dynamiken des Wohnens
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