Stadt zum Staunen

Die Olympischen Sommerpiele 2020 lenken den Blick auf Japan. Abseits der modernen Mega-Metropolen liegt die alte Kaiserstadt Kyoto – eine Kulturstadt mit sagenhaften Tempeln und Schreinen.
Illustration: Vanessa Chromik
Gaby Herzog Redaktion

Mit konzentriertem Blick hocken die beiden Gärtnerinnen unter dem Ahornbaum am Shisendo-Tempel in Kyoto und inspizieren den Waldboden. Mit kleinen Handbesen fegen sie behutsam und mit einem zarten Dauerlächeln auf dem Lippen einzelne Blätter, Nüsse und Steine weg. Wenn sie eine kahle Erdstelle entdecken, nehmen sie ein Stück Moos aus einer gelben Kiste, die neben ihnen steht und passen es in die Lücke ein. „Alles hier muss perfekt sein“, erklärt Frau Nakamura, die Ältere der beiden. Der Dolmetscher übersetzt gewissenhaft: „Die Perfektion hilft dem Betrachter, sich selbst zu vergessen und eins zu werden mit dem Wesen der Natur.“


Frau Nakamuras Beruf ist ihre Leidenschaft. Nie duldet die 61-Jährige Unkraut oder übersieht altes Laub. Ganz besonders pingelig ist sie im Herbst, wenn sich die Blätter bunt färben und im Frühjahr, zur Zeit der Kirschblüte. Denn sobald sich die rosafarbenen Knospen öffnen, steht die Stadt Kopf. Tausende strömen nach draußen, breiten ihre Picknickdecken unter den Bäumen aus, um den Frühlingsbeginn zu feiern.


Dabei ist die alte Kaiserstadt auch ohne den Blütenzauber ein Besuchermagnet. Über Jahrhunderte war sie das politische, kulturelle und religiöse Zentrum Japans. 16 Tempel, Schreine und Burgen in Kyoto stehen auf der UNESCO Weltkulturerbe-Liste. Eine Stadt wie aus dem Märchenbuch. Und auch an weniger geschichtsträchtigen Orten ist Kyoto so sauber und aufgeräumt, dass man immer den Eindruck hat, man wäre in eine perfekte kleine Spielzeugwelt geschrumpft worden. Der Stadtteil Gion ist berühmt, weil hier die letzten japanischen Geishas zu Hause sind. In der Dämmerung machen sich die Frauen im Kimono, schwarzer Echthaar-Perücke und den schneeweiß geschminkten Gesichtern auf den Weg zur Arbeit. Ihr Jobprofil lässt sich am ehesten mit Gesellschaftsdame übersetzen. Sie unterhält  Männer beim Abendessen, auf Partys und bei Cocktail Empfängen, animiert sie zu Trinkspielen, spielt die Langhalslaute. Das kostet bis zu 5000 Euro pro Person an einem Abend. Heute gibt es rund 200 Geishas in Kyoto, früher sollen es 18.000 gewesen sein. Eine aussterbende Zunft.


Zu den aus Stein gebauten Touristen-Attraktionen gehören der Goldene Pavillon, die Pagode von Ninna-ji, der Inari-Taisha Schrein und der Steingarten des Zen Tempels Ryoan-ji. Umgeben von einer Lehmmauer scheinen hier 15 Felsen in einem Meer aus geharktem, hellgrauem Kies zu treiben. Egal von wo man schaut – niemals kann man alle 15 Felsen gleichzeitig sehen. Ein Gartenkunststück, über das schon Queen Elizabeth besonders „amused“ gewesen sein soll.


Leider tummeln sich an all diesen sagenhaften Orten der Hochkultur viele Besucher. Die meisten von ihnen sind Einheimische. Denen macht der Trubel nichts aus. Während westliche Besucher sich gerne der Illusion hingeben, wie Robinson Crusoe als erste Reisende einen Ort zu entdecken, ist das bei den Japanern ganz anders. Die Anwesenheit besonders vieler Touristen ist für sie ein Zeichen dafür, dass es sich um eine besonders spektakuläre Sehenswürdigkeit handeln muss. Dass es voll ist, ist „tanoshii“, das bedeutet so viel wie „lustig“ und ist eine echte Auszeichnung.


 Trotzdem versuchen alle im Bambushain von Arashiyama, ein Foto zu machen, das märchenhafte Waldeinsamkeit suggeriert, obwohl sich die Besucher hier auf die Füße treten.


Wer eine Pause braucht, der findet Ruhe im Otagi Nenbutsu-ji-Tempel, nur zwei Kilometer entfernt. Hier gibt es kaum Touristen, aber dafür begrüßen dort 1200 steinerne Buddhas die Besucher. Dabei sieht eine Statue verrückter aus als die andere. Die kahlköpfigen Figuren gehen den unterschiedlichsten Hobbys nach. Der eine Buddha trägt einen Tennisschläger im Arm, der andere Boxhandschuhe, der dritte hat eine Brille auf der breiten Nase und liest, sein Nachbar daneben spielt Saxophon.


Die Grundmauern dieses Tempels sind schon zwölf Jahrhunderte alt. In den 1950er-Jahren wurde die Anlage von einem Taifun verwüstet, und die Ruine geriet in Vergessenheit. 30 Jahre später hatte Kocho Nishimura, ein buddhistischer Priester, eine verrückte Idee zur Finanzierung des Wiederaufbaus: Er bot Gläubigen an, gegen eine Spende Buddhastatuen nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Clever, herrlich schräg und damit ziemlich japanisch.


Dieses Land funktioniert nach seinen eigenen Regeln. Das mag auch daran liegen, dass Ausländer erst seit der Meiji-Ära, vor gut 150 Jahren, die Insel besuchen dürfen. In der Abgeschiedenheit vom Weltgeschehen haben sich unzählige Eigenarten herausgebildet.


Nur ein Beispiel: Gastgeschenke. Sie sind von höchster Bedeutung, wobei die Verpackung mindestens so wichtig ist wie der Inhalt. Nicht zuletzt deswegen, weil Geschenke nie vor den Augen des Gastes auspackt werden. Das wäre unhöflich. Verschenkt werden neben Süßigkeiten handgeschnitzte Zahnstocher, handgeschöpftes Papier und blank polierte Riesen-Äpfel, die umgerechnet 18 Euro kosten (ein Apfel, nicht eine Kiste). Gut zu wissen ist, dass Präsente nie in weißes Papier gepackt werden, die Farbe steht für Trauer. Auch Schleifen und die Zahl Vier bringen Unglück.


Manchmal kommt man ganz durcheinander von all den Vorgaben. Aber das macht nichts – wundern ist in Japan ein berauschender Dauerzustand. Herrlich bizarr ist auch ein Besuch in Tom’s Mr. Hedgie, einem der vielen Tier-Cafés in Kyoto. Während der Gast dort seinen Macha-Tee schlürft, darf er sich auch eine Schürze umbinden und einen kleinen Igel streicheln – oder anderen dabei zuschauen, wie sie einen Igel streicheln. 20 Minuten vorsichtiges Kraulen kosten umgerechnet sieben Euro, Getränke kommen extra.


Ein stolzer Preis. Und ob das dem Igel so recht ist? Wer politisch korrekt ist, macht vermutlich am Eingang kehrt. Aber auch das Maid-Café, ein paar Meter weiter, in denen junge Frauen in sehr, sehr knappen Fantasie-Uniformen Burger und Cocktails servieren, ist aus emanzipatorischer Sicht eher schwer zu ertragen. Doch während man sich noch wundert, hat einem die Bedienung auch schon ein paar rosafarbene Katzenöhrchen aufgesetzt und klatscht begeistert in die Hände.  Also beschließt man, die Sache japanisch zu sehen: „tanoshii“!

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