»Reisen, um ein Gefühl für die Welt zu bekommen«

Immer mehr Reisende wollen die Lebenswelten und Bedürfnisse der Menschen im Zielland besser verstehen. Das hat auch mit den unschönen Seiten von Tourismus zu tun, etwa wenn Ortsansässige gegen „Overtourism“ protestieren. Immer mehr Reisende möchten aber auch nachhaltig unterwegs sein, Umwelt und Ressourcen schonen. Und immer mehr möchten ihre Reise mit Arbeit verknüpfen. Ein Gespräch über aktuelle Trends mit Harald Pechlaner, Professor für Tourismus an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

Illustration: Natascha Baumgärtner
Illustration: Natascha Baumgärtner
Horst Schwartz Redaktion

Herr Prof. Dr. Pechlaner, vor zehn Jahren noch hat man sich in Albanien Gedanken darüber gemacht, wie man 50 Jahre Isolation abschütteln und den Tourismus im Land entwickeln könnte. Nun ist das Balkanland der Shooting-Star unter den Tourismus-Nationen und diesjähriges Partnerland der Tourismus-Messe ITB Berlin. Wird es dem Land gelingen, einen Tourismus zu entwickeln, der Land und Küste nicht verschandelt?
Albanien ist ein schönes Land mit einem hohen Maß an Authentizität und unerschlossenen Landschaften. Ich sehe die Chance, dass sich das wenig entwickelte Hinterland und die Albanischen Alpen nachhaltig entwickeln. Weniger Hoffnung habe ich, was den Sun-and-Beach-Bereich betrifft, dass sich alle Küstenabschnitte so entwickeln, dass sie sich von anderen Mittelmeerländern wie Spanien oder Griechenland abheben.

Abgesehen von dieser jungen Destination – welche aktuelle Reisetrends sehen Sie derzeit?
Ich denke, dass sich Nachhaltigkeit zunehmend durchsetzt. Ein bewusstes Reisen. Das geht einher mit jüngeren Zielgruppen, die immer wieder den Sinn des Reisens hinterfragen. Ich beschäftige mich sehr viel mit dem Thema Overtourism. Es entsteht derzeit an vielen Orten Widerstand gegen zuviel Tourismus. Gäste, die in diese Orte kommen und auch den Widerstand auf der einen oder anderen Seite bemerken, können zu Gästen werden, die bewusster reisen.

Wie das?
Bisher sprachen wir immer nur vom Widerstand gegen den Tourismus. Es wurden kaum die Reisenden und ihre Reaktion auf die Proteste betrachtet. Aber es reisen immer mehr Touristen zum Beispiel nach Barcelona, auf die Kanarischen Inseln oder in die Alpen, wo viel los ist und wo auch immer häufiger gegen den Tourismus protestiert wird. Gäste sehen vor Ort, wie sich die Bevölkerung Gedanken macht und Widerstand entwickelt. Und sie denken selbst nach und buchen beim nächsten Mal nachhaltigere Reisen und setzen damit nach und nach bewussteres Reisen durch.

Haben Sie das vor Ort erlebt?
Ich habe mir selbst die Proteste auf den Kanarischen Inseln angesehen und mit Menschen gesprochen, die protestiert haben. Ich will verstehen, warum sie das tun. Die Proteste beschäftigen die Gäste natürlich intensiv. Sie reagieren darauf nicht immer negativ und sagen: Da fahre ich nicht mehr hin. Es wächst unter ihnen die Tendenz zu fragen: Warum gibt es diese Proteste? Und so wird ihr Bewusstsein für nachhaltigeres Reisen geschärft.

Ein anderes Trendwort ist in aller Munde: Workation… 
…das Kunstwort aus Work, also Arbeit und Vacation, dem Urlaub. Die Idee dahinter ist, dass man an anderen, reizvollen Orten arbeiten und gleichzeitig Urlaub machen kann. Das ist eine neue Lebensqualität. Ich kann beispielsweise an dem Ort, an dem ich arbeite, mich mit anderen Menschen treffen oder neue Landschaften erkunden. Das ist schon eine sehr reizvolle Entwicklung, die zunehmend um sich greift.

Aber scheitern die modernen Nomaden nicht an dem Druck zwischen Arbeitspflicht und Urlaubsglück? 
Ja, aber es sind wenige. Zeitmanagement ist essentiell. Selbstdisziplin, ja, die braucht es. Aber es braucht auch ein gutes Leadership in den Unternehmen. Die Firma muss ihre Mitarbeitenden draußen gut führen, perfekt informieren, in Entscheidungsprozesse einbeziehen.

Workation ist also auch etwas für Angestellte, nicht nur für selbstständige IT-Fachleute? 
Selbständige bilden natürlich eine wichtige Gruppe. Zunehmend haben wir auch Mitarbeitende von Start-ups, diese Welt ist sehr stark internationalisiert. Aber es sind nicht nur IT-Fachleute, die Workation machen. Ein Unternehmen, das Workation zulässt, leistet ein Stück weit Vertrauensarbeit. Denn der Arbeitsdruck und der lockende Strand – das ist ein Dauerkonflikt. Aber das ist ja Teil des Konzepts.
 

»Ich habe den Eindruck, dass sich zunehmend die Idee durchsetzt, dass man vor Ort – egal ob in einem Tourismusbetrieb oder als Reisender – sinnstiftend zu einem guten Leben beitragen kann.«


Ist die Flaggentheorie ein ähnliches Konzept? Jemand wird Staatsbürger und verschafft sich einen Pass in einem Land mit liberaler Gesetzgebung, zum Beispiel ohne Wehrpflicht, die Passflagge. Er legt sein Kapital im zweiten Land mit stabilem Bankensystem an, die Bankflagge. Dann hat er seinen Geschäftssitz im dritten mit niedrigen Steuern, die Firmenflagge. Er wohnt im vierten Land mit niedriger Einkommensteuer und hoher Lebensqualität, die Domizilflagge. Und verbringt seine Freizeit im fünften Land mit ebenfalls hoher Lebensqualität und großem Freizeitangebot. Das ist dann die Spielwiese-Flagge. Das Konzept lässt sich noch erweitern, um eine Digitale Flagge oder die Bildungsflagge... 
Ich sehe das eher kritisch. Denn diese Menschen entziehen sich ein Stück weit dem staatlichen Zugriff. Das ist Steuervermeidung. Oder anders gesagt: Menschen profitieren von Infrastrukturen, ohne selbst einen finanziellen Beitrag dazu zu leisten. Das Ganze rührt schon an den Grundfesten unserer staatlichen Grundlogik.

Illustration: Natascha Baumgärtner
Illustration: Natascha Baumgärtner

Es entspricht aber den Strukturen der digital globalisierten Welt. 
Ja, und wir werden erleben, dass Menschen sehr schnell, aber nicht so schnell wie das Kapital, die Schauplätze wechseln. Es wird notwendig sein, dass die Staatengemeinschaft hier sinnvolle Regelungen findet – um einerseits diese Entwicklungen zuzulassen, denn sie sind nun mal Teil der Globalisierung, andererseits aber die einzelnen Staaten auch etwas davon haben.

Kommen wir noch einmal zum Thema Nachhaltigkeit. Ich bin da hin- und hergerissen. Bei den Programmvorstellungen der Reiseveranstalter wird immer auf die Bemühungen hingewiesen, die Reiseangebote nachhaltiger zu gestalten. Ist das nicht allzu oft Etikettenschwindel? 
Ich bin da – im Gegenteil – immer weniger hinund hergerissen. Ich arbeite viel rund um das Thema Nachhaltigkeit. Das allerdings ist ein recht schwammiger Begriff, was die Sache nicht einfacher macht. Aber ich habe den Eindruck, dass sich zunehmend die Idee durchsetzt, dass man vor Ort – egal ob in einem Tourismusbetrieb oder als Reisender – sinnstiftend zu einem guten Leben beitragen kann. Ich glaube, darum geht es eigentlich: um einen Beitrag zu einem Leben, in dem andere nicht zu kurz kommen. Und, dass man die Umwelt in den Blick nimmt. Zugegeben, das gelingt auf der individuellen Ebene besser als im betrieblichen Leben. Aber das Bemühen der Reiseveranstalter ist nicht zu übersehen.

Sollte der Reisemarkt im Sinne von Nachhaltigkeit und Klimaschutz stärker reguliert werden? 
Ich bin sicher, dass es noch zu einer stärkeren Regulierung kommen wird. Wenn immer mehr Menschen reisen, müssen wir Spielregeln finden. Wir können nicht einfach hinnehmen, dass es an einem Ort zum Overtourismus kommt, am anderen Ort zufällig aber nicht. Wir müssen den Tourismus so organisieren, dass alle, die möchten, reisen können, und zwar so, dass es eine Erlebnisqualität für die Gäste ermöglicht und eine Lebensqualität für die Einheimischen bewahrt.

Geht der Green Deal der EU in diese Richtung? Der Plan, bis 2050 klimaneutral zu werden, dabei aber Wohlstand und Wachstum nicht zu gefährden? Die EU hat ja zum Beispiel verfügt, dass Flugzeuge zu einem immer höheren Anteil mit nachhaltigen Treibstoffen betankt werden sollen. Auch Schweröl im Schiffsverkehr ist ein Thema. Wie werden sich solche Regulierungen auf den Tourismus auswirken?
Solche Regelungen, auch schon deren Ankündigung, lösen vielfach auch Innovationsbemühungen aus. Man sieht das sehr gut bei den Kreuzfahrtschiffen, da hat es große Innovationsschritte gegeben.

Dennoch ist Reisen weniger nachhaltig, als zuhause zu bleiben. Gibt es einen guten Grund, im Sinne der Nachhaltigkeit zu reisen? 
Ja. Denn der Tourismus gibt uns die Möglichkeit, ein Weltgefühl zu entwickeln. Die Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen, die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung, sind eine weltumspannende Idee. Ich kann nicht einfach zu Hause sitzen und diese Idee umsetzen. Ich muss reisen, damit ich ein Gefühl für die Welt bekomme.
 

»Wir müssen Spielregeln finden. Wir können nicht einfach hinnehmen, dass es an einem Ort zum Overtourismus kommt, am anderen Ort zufällig aber nicht.«


Reiseveranstalter beklagen immer wieder, dass ihre Gäste zwar nachhaltigere Angebote fordern, aber nicht bereit sind, dafür einen höheren Preis zu zahlen. 
Möglich, dass es früher einmal so war. Aber die Angebote von heute werden in der Tat immer nachhaltiger. Damit steigt natürlich auch die Glaubwürdigkeit der Anbieter. Andererseits ist die Sensibilität der Gäste und ihre Bereitschaft da, für umweltfreundlichere Reiseprodukte auch mehr zu zahlen. Es gibt durchaus Reiseveranstalter, die nachhaltige Angebote zu höheren Preisen vermarkten.

Aber das sind Einzelfälle. Wird es sich in Zukunft einspielen, generell für mehr Nachhaltigkeit bei den Reiseprodukten höhere Preise zu verlangen? 
Ich bin da sehr optimistisch. Ich sehe das Bemühen von Anbietern, das Thema ernst zu nehmen. Ich sehe vor allem, dass sich die Menschen aufgrund der vielen Krisen und den sich rasant ändernden Rahmenbedingungen schnell umstellen. Auf individueller Ebene passiert ja schon sehr viel, das spüren die Reiseveranstalter mit der Zeit und passen sich mit ihren Produkten dem Trend zu mehr Nachhaltigkeit an.

Wird auch die Politik für mehr Nachhaltigkeit einstehen? 
Es passiert vor allem einiges bei der Europäischen Union. Ich sehe, dass da eine Großregion der Welt wie die EU bemüht ist, sich um das Thema Nachhaltigkeit zu kümmern. Das wirkt wie eine Zange. Denn es gibt die politische Dimension und die individuelle Dimension bei der Forderung nach mehr Nachhaltigkeit beim Reisen. Beides verändert den Markt. Jetzt müssen die Veranstalter reagieren. 

Prof. Dr. Pechlaner 
ist Professor für Tourismus an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Sein Lehrstuhl behandelt die Herausforderungen des Tourismus aus wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Perspektive. Derzeit beschäftigt ihn die Frage, warum Menschen gegen Tourismus protestieren.

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