Im Reich von Rübezahl

 Eine Wanderung auf den Gipfel des Riesengebirges ist kein Kinderspiel.

Illustration: Natascha Baumgärtner
Illustration: Natascha Baumgärtner
Mirko Heinemann Redaktion

Ich erinnere mich an die Werbung der 1970er-Jahre. An das Produkt von „Schneekoppe“ erinnere ich mich nicht. Nur an den Ruf „Schneeee-koppe“, dem das schönste Echo im deutschen Fernsehen folgte. Und an das Logo, ein Berg mit einer weißen Kuppe. Seitdem ist die Besteigung des höchsten Gipfels im Riesengebirge mein Traum. 

Endlich war es so weit: Eine Wanderung auf die Schneekoppe, und zwar im Winter. Die Wetterprognose war gut, klares Winterwetter war angesagt. Der Gipfel des Berges war vom Tal aus gut sichtbar. Die Antennen der Funkstation hoch oben auf der Kuppe, auf 1.603 Metern über dem Meeresspiegel, blitzten in der Sonne. Ein Katzensprung. Dachten wir. 

Die Schneekoppe steht auf der Grenze zwischen Polen und Tschechien, man kann sie von beiden Ländern aus besteigen. Vom polnischen Wintersportort Karpacz führt eine Route herauf, wie auch vom tschechischen Špindleruv Mlýn, zu Deutsch Spindlermühle. Unsere Entscheidung für Spindlermühle war Zufall, wir hatten dort in der Nähe eine schöne Unterkunft gefunden. Wir wanderten vom Marktplatz aus los. Um uns herum staksten bunt gekleidete Menschen in schweren Skistiefeln und mit Puschelmützen auf dem Kopf. Auf den Schultern trugen sie ihre Skier. Wir hingegen, mit dicken Winterjacken, Bergstiefeln und Fausthandschuhen, sahen aus, als wollten wir auf Arktisexpedition gehen. 

Zunächst war alles einfach. Wir wanderten in schönstem Sonnenschein durch einen Tannenwald, bis wir den Kammweg erreichten. Zur Rechten thronte der weiß beschneite Berg, ein Dreieck wie aus dem Pythagoras-Lehrbuch. Auf einem breiten Weg ging es den Grat hinauf. Der Schnee war fest, man konnte gut darauf laufen. Allmählich wurde es steiler. Zur Linken eröffnete sich uns ein atemberaubender Blick hinunter in die polnische Tiefebene. Die Schneekoppe bildet den nördlichen Abschluss des Riesengebirges, dahinter geht es steil hinunter. Unten sahen wir den polnischen Ort Karpacz liegen. 

Einige Wolkenfetzen zogen die Bergflanke hoch. Dann immer mehr. Plötzlich waren wir in dichtem Nebel. Wind kam auf. Dann verstärkte er sich zu Sturm. Woher kam das denn nun? Und nun? Umkehren? Es konnte nicht mehr weit sein bis zum Gipfel. Wir beschlossen weiterzugehen. Gegen den tosenden Gegenwind, in den sich bald Schneeflocken mischten. Eben noch darunter geschwitzt, waren wir jetzt dankbar für unsere arktistaugliche Kleidung.

Auf dem Gipfel erwartete uns eine Zauberlandschaft. Der Sturm war vorbei. Die Gebäude, die Wetterstation, Schuppen, auch die Radarstation, die an ein UFO erinnert, waren derart vereist, dass sie aussahen wie bizarre Skulpturen. Völlig verblüfft wanderten wir durch den dichten Schnee und konnten uns nicht satt sehen. Eiszapfen glitzerten in der Sonne. Überall gleißendes Licht. Bis wir an den Abstieg denken mussten. Hinunter ging es einfach. Aber am Ende waren wir sechs Stunden unterwegs. 

Gelernt haben wir: Wer sich in Rübezahls Reich begibt, muss sich rüsten. Dem Geist aus dem Riesengebirge wird nachgesagt, dass er das Wetter beherrscht und Wanderer in die Irre führt. Meteorologisch gesehen führen die exponierte Lage am Rand eines Gebirgsmassivs und die großen Höhenunterschiede zwischen Tälern und Gipfeln zu stark unterschiedlichen Temperaturen und Luftdruckverhältnissen. Dies begünstigt besonders rapide Wetterumschwünge. Was wir noch gelernt haben: Wir hatten Glück auf dem Gipfel der Schneekoppe. Denn der ist an fast 300 Tagen im Jahr in Wolken gehüllt.

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