Mein Tier, das unbekannte Wesen

Sie rammeln ungeniert Beine an oder springen ihren Besitzern unvermittelt auf den Kopf: Wenn Hunde und Katzen merkwürdige, lustige oder gar peinliche Verhaltensweisen zeigen, ist der Rat versierter Verhaltenstherapeuten und Tierpsychologinnen gefragt.

Illustration: Anne Reibold
Illustration: Anne Reibold
Natalie Decker Redaktion

Manchmal passiert es eben auch einem Vollprofi: Der geliebte Hund büxt während der Gassirunde aus und verschwindet spurlos. Masih Samin ist Hundeverhaltenstherapeut und Bestseller-Autor. In seinen Ratgebern „Sei höflich zu deinem Hund!“ und „Stadt-Wölfe“ hat er über die Kommunikation zwischen Zwei- und Vierbeiner geschrieben, in seinen Coachings berät er Hundehalterinnen und -halter bei Verhaltensproblemen. Er selbst lebt derzeit mit sieben Hunden und zwei Katern zusammen. Zu seinem Rudel gehört auch Rüde Fritz.

Masih Samin erzählt: „Fritzchen ist ein ehemaliger rumänischer Straßenhund. Er wurde in seiner früheren Heimat angeschossen und war daher sehr schreckhaft.“ Als der Hundeexperte sein Fritzchen an der Schleppleine in einem Park laufen lässt, geschieht es. Bei der Eröffnung eines nahegelegenen Restaurants wird ein Feuerwerk gezündet – lautes Knallen, Böllern und Zischen ertönt. Zu viel für den kleinen Fritz, der panisch das Weite sucht, die Schleppleine hinter sich herzieht und verschwindet. Sofort beginnt bei Masih Samin das Kopfkino: Hat sich Fritz vielleicht in einem Hasenbau versteckt? Oder wurde er überfahren? Ausgestattet mit einer Wärmebildkamera macht sich der Hundeverhaltenstherapeut auf die Suche nach dem Ausreißer. Fündig wird er kurze Zeit später auf Facebook, wo Fritzchens Finderin auf einer Seite für vermisste Hunde ein Foto des kleinen braunen Rüden postet. „Die Dame wollte ihn eigentlich behalten und hatte ihn ,Oswald‘ getauft, da sie ihn in der Oswaldstraße gefunden hatte“, erinnert sich Masih Samin. „Das ist jetzt einige Jahre her. Inzwischen ist er gut trainiert, deutlich weniger schreckhaft – und trägt seit diesem Vorfall den Namen Fritz Oswald.“

Nicht immer ist ein lauter Knall der Auslöser, wenn sich ein Hund während des Spaziergangs losreißt und davonläuft. „Manche Tiere sind auch einfach neugierig und wollen die Gegend erkunden. Wie ein Kind, das verträumt einem Schmetterling hinterherläuft“, sagt Masih Samin. Wenn beispielsweise einem Rüden der Duft einer läufigen Hündin in die Nase steigt oder ein Jagdhund ein Reh aufspürt, kann ein so starker Adrenalinrausch einsetzen, dass selbst ein wohlerzogener Vierbeiner alles andere um sich herum vergisst.

20 Kilometer weit gelaufen

Der Hundecoach berichtet: „Der Rüde einer Klientin ist regelmäßig stundenlang verschwunden. Nur wohin? Und warum? Ein GPS-Tracker am Halsband brachte schließlich Klarheit: Das Tier ist 20 Kilometer weit gelaufen, um eine Hundedame zu bezirzen. Der Rüde saß dann vor der Toreinfahrt und hat laut geheult. Und die Hündin saß drinnen am Fenster und hat mitgejault.“ Dieser Fall soll verdeutlichen, dass es immer einen Grund dafür gibt, wenn Hunde durchbrennen. Die Frage ist nur, ob wir Menschen die Motivation dahinter verstehen. Hier setzt die Arbeit von Hundeverhaltenstherapeut Masih Samin an. Er möchte helfen, die Kommunikation zwischen Hund und Halter zu verbessern: „Tatsächlich gibt es viele Parallelen zwischen den Beziehungen von Mensch zu Mensch und den Beziehungen von Mensch zu Tier. Die Hundeerziehung gleicht häufig der Kindererziehung. Kommt es zu Problemen, stecken dahinter oftmals Missverständnisse oder unbefriedigte Bedürfnisse.“

»Die Hundeerziehung gleicht häufig der Kindererziehung. Kommt es zu Problemen, stecken dahinter oftmals Missverständnisse oder unbefriedigte Bedürfnisse.«

Diese Erfahrung hat auch Tierpsychologin Julia Blüher (tierpsychologin-sinzig.de) gemacht: „In meinem Arbeitsalltag begegne ich hauptsächlich Vierbeinern, die Angst- oder Aggressionsprobleme haben. Auch Verständigungsschwierigkeiten zwischen Halter und Haustier oder ungenügende Kenntnisse der art- oder rassespezifischen Besonderheiten sind nicht selten.“ Ein Beispiel für solche speziellen Bedürfnisse ist der beliebte Border Collie, der ursprünglich gezüchtet wurde, um Schafe zusammenzutreiben. Die intelligenten, agilen Tiere lassen die Herzen vieler Hundefreunde höherschlagen – doch nicht jeder hat die Möglichkeit, einen Border Collie artgerecht zu halten.

Julia Blüher berichtet: „Border-Collie-Rüde Mäxchen lebt mit seinem gehbehinderten Frauchen in einem Mehrfamilienhaus. Ich wurde gerufen, da er häufig bellt und sich bereits die Nachbarn beschwert haben. Nebenbei wird dann erwähnt, dass Mäxchen oft auch in die Waden der Besitzerin beißt.“ Ausgelastet wurde der arbeitswillige Vierbeiner lediglich mit Spaziergängen und dem Apportieren von Spielzeug. Aber ein Hütehund zeigt eben auch angezüchtete Eigenschaften wie wachsames Bellen, wie die Tierpsychologin erläutert: „Das Wadenbeißen ist eine Folge der Unterforderung, es entspricht eben der Art eines Hütehundes zu hüten. Hätten die Besitzer sich vorher über die Eigenheiten eines Border Collies informiert, hätten sie gewusst, dass diese gerne bellen und dass das in einem Mehrparteienhaus zu einer Belastung werden kann.“

Schmerzen als mögliche Auslöser

Zeigt ein Tier eine kuriose Verhaltensveränderung, kann dies allerdings auch eine medizinische Ursache haben. Sehr häufig sind es Schmerzen, aber auch Schilddrüsenprobleme können als Auslöser infrage kommen. Julia Blüher rät deshalb allen Haustierbesitzern, bei plötzlichen Verhaltensauffälligkeiten rasch den Tierarzt aufzusuchen und etwaige Erkrankungen behandeln zu lassen. Kann der Tiermediziner keine körperliche Ursache feststellen, sollte schnellstmöglich ein seriöser Tierpsychologe zurate gezogen werden: „Handelt man zügig, wird verhindert, dass sich unerwünschtes Verhalten festigt und dann nur mit viel Mühe wieder abzustellen ist.“ Dies gilt selbstverständlich nicht nur für Hundebesitzer, sondern auch für Katzenhalter. „Katzen sind, wie die meisten Halter bestätigen werden, Meister der Beeinflussung. Sie können, um ihren Willen durchzusetzen, seltsames Verhalten an den Tag legen. Viele Halter sind erleichtert, wenn der Fachmann dann aufklären kann, was dahintersteckt,“ berichtet Julia Blüher.

»Katzen sind Meister der Beeinflussung. Sie können, um ihren Willen durchzusetzen, seltsames Verhalten an den Tag legen.«


Als besonders kurioser Fall ist ihr Kater Fox in Erinnerung geblieben, vor dem seine Familie sogar Angst hatte: „Der stattliche Maine-Coon-Kater sprang seit einigen Monaten unvermittelt dem Mann vom Schrank aus auf den Kopf, wenn dieser dort vorbeiging. Nach Anraten eines tierärztlichen Checks stellte sich heraus, dass der arme Fox von Zahnschmerzen geplagt wurde. Nach einer erfolgreichen Zahnbehandlung ist ein weiterer Kopfsprung nicht mehr vorgekommen.“ Manchmal steht allerdings auch eine Fachfrau wie Julia Blüher vor einem Rätsel. Die Sinziger Tierpsychologin erzählt: „Ich war zu Besuch bei einer jungen Studentin, die gerade umgezogen war und eine Beratung bezüglicher ihrer Katzen wünschte. Während des Gesprächs erfuhr ich, dass Tapsi sehr gerne Kopfsalat frisst. Tapsi ist vollkommen gesund. Katzen sind normalerweise extrem karnivor – etwas anderes als Fleisch kommt ihnen selten in die Schüssel. Bis heute finde ich für diese Salatvorliebe keine sinnvolle Erklärung.“

Auch Hundeverhaltenstherapeut Masih Samin kennt schwierige Fälle, die viel Einfühlungsvermögen benötigen, um der Lösung näherzukommen. Dabei ist es hilfreich, die „menschliche Brille“ abzulegen und das vermeintlich verrückte Verhalten aus der Sichtweise des Hundes zu betrachten. Ein Beispiel, das wahrscheinlich viele Hundefreunde kennen, ist das Folgende: Der Vierbeiner wird alleine zu Hause gelassen und schnappt sich aus Frust Frauchens Schuhe, um darauf herumzukauen. „Die Halter glauben dann oft, es würde sich um einen Racheakt des Hundes handeln, der mit voller Absicht die teuren Designer-Pumps zerstört“, berichtet Masih Samin. „Das ist eine Vermenschlichung des Tieres. Der Hund bewertet Materielles nicht. Stattdessen sind es wohl eher die Gerüche am Schuh, die ihn anziehen und dazu veranlassen, seine Erregung daran abzubauen.“

Hunde werten nicht

So manche Hundehalterin und/oder Hobbypsychologe wird jetzt vermutlich einwerfen: „Aber der Hund weiß doch, dass er etwas falsch macht. Schließlich guckt er danach immer so schuldbewusst!“ Masih Samin räumt mit dieser Fehlinterpretation auf: „Ein Hund nimmt keine derartige moralische Bewertung vor. Wenn er in dieser Situation den Kopf schief legt oder andere beschwichtigende Gesten zeigt, versucht er lediglich, seinen Menschen zu beruhigen, weil er dessen Anspannung spürt.“ Als soziale Tiere stehen Hunde in ständiger Interaktion mit ihren Menschen. Dass die Vierbeiner ihre Besitzer besänftigen oder gar maßregeln wollen, kommt daher immer wieder vor – und kann zu kuriosen, lustigen oder gar peinlichen Momenten führen. Masih Samin fällt in diesem Zusammenhang die Geschichte von Hündin Ronja ein, die jedes Mal das Bein ihrer Halterin festhielt, wenn diese laut lachte. Dieses Verhalten, das Höggeln oder Aufreiten genannt wird, amüsierte Ronjas Besitzerin so sehr, dass sie noch mehr lachen musste: „Es entwickelte sich ein Teufelskreis. Dabei wollte Hündin Ronja ihren Menschen einfach nur beruhigen. Sie war eben ein sehr pflichtbewusstes Tier, das von ihrer Besitzerin auch als ,Kontrolletti‘ bezeichnet wurde.“

Illustration: Anne Reibold
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Illustration: Anne Reibold
Illustration: Anne Reibold

Warum miauen Siamkatzen so oft?

Häufig sind es besonders sensible Tiere, die zu – nach menschlichen Maßstäben – skurrilem Verhalten neigen. Es gibt jedoch auch bestimmte Hunde- und Katzenrassen, die aufgrund ihrer Züchtung auffallend oft seltsame Verhaltensweisen an den Tag legen. Die Ursache ist dann oftmals ein zu kleiner Genpool oder eine Qualzüchtung. Ein Beispiel für eine solche Qualzucht ist die schwanzlose Manx-Katze, die wie ein Kaninchen hoppelt. In Deutschland ist die Zucht dieser Rasse verboten, da davon auszugehen ist, dass die Tiere unter schweren gesundheitlichen Problemen leiden. Etwas weniger besorgniserregend, aber dennoch auffällig ist das rassetypische Verhalten der Siamkatzen. Sie sind bekannt dafür, viel und laut zu miauen. Warum das so ist, ist bislang unklar. „Vermutungen gehen dahin, dass solches Verhalten den Tieren bei der Stressbewältigung hilft oder Aufmerksamkeit forderndes Verhalten ist, welches unabsichtlich durch den Besitzer belohnt und somit verstärkt wurde“, erklärt Tierpsychologin Julia Blüher. Dem Stressabbau dienen häufig auch wiederholte, rhythmische Bewegungsabläufe wie Kopfwackeln oder Schwanzjagen. „Wenn man diesen Hintergrund kennt, so sind die seit geraumer Zeit in den sozialen Netzwerken kursierenden – vermeintlich lustigen – Tiervideos für Fachleute eher qualvoll anzusehen“, gibt Julia Blüher zu bedenken. Was können Halter:innen also tun, die ihren Liebling besser verstehen und sein Verhalten nicht einfach als witzige oder liebenswerte Marotte abtun möchten? Masih Samin rät, sich eingehend mit dem eigenen Tier auseinanderzusetzen: „Mit dem Smartphone tragen wir das gesamte Wissen der Welt in der Hosentasche. Das sollten wir nutzen!“ Er selbst hat durch seine Arbeit mit Hunden auch viel über die Beziehungen zu seinen Mitmenschen gelernt: „Ich kommuniziere mehr. Statt einfach nur zu interpretieren, hinterfrage ich. Durch meine Hunde habe ich mich selbst besser verstanden.“

 

Tipps für Haustierbesitzer:innen

+ Wundern Sie sich auch manchmal über das Verhalten Ihres Lieblings? Ist Ihr Hund schon öfter während des Spaziergangs davongelaufen oder machen Sie sich Sorgen um Ihre Katze? Dann sollten Sie die folgenden Hinweise beherzigen:

+ Die Verbraucherzentrale rät allen Hundehaltern, eine Hundehaftpflichtversicherung abzuschließen. Denn wenn der Vierbeiner anderen einen Personen-, Sach- oder Vermögensschaden zufügt, greift die private Haftpflicht nicht. In einigen Bundesländern ist der Abschluss einer Hundehaftpflichtversicherung sogar verpflichtend.

+ Katzenhalterinnen und -halter brauchen keine eigene Haftpflichtversicherung für ihren Liebling. Richtet das Tier einen Schaden an, springt die private Haftpflichtversicherung des Besitzers ein.

+ Durch gezieltes Rückruftraining lernt der Hund, jederzeit zu Herrchen bzw. Frauchen zurückzukehren. Dies beugt gefährlichen Situationen bei der Gassirunde vor.

+ Schläft ein Tier deutlich mehr oder weniger als bisher, hat es mehr oder weniger Appetit bzw. Durst oder zeigt es sonstige plötzliche Verhaltensänderungen, sollte umgehend tierärztlicher Rat eingeholt werden. Kann der Tiermediziner nicht weiterhelfen, kann ein Tierverhaltenstherapeut hinzugezogen werden.

+ Tipps und Ratschläge aus Büchern, TV-Sendungen und dem Internet können nur erste Hinweise zur möglichen Ursache von Verhaltensauffälligkeiten geben. Um das konkrete Problem zu beheben, sind sie allerdings oft nicht ausreichend. Es ist daher immer empfehlenswert, speziell geschulte Fachleute um Rat zu fragen, die sich das betroffene Haustier in seinem Lebensumfeld ansehen.

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