Willkommen im selbstbestimmten Leben!

Ob auf dem Land oder in der Stadt: Immer mehr Menschen träumen von der Autarkie. Sie wollen sich möglichst selbst versorgen, mit Lebensmittel aus dem Garten, gesund leben, unabhängig sein von fossilen Energien, von steigenden Preisen, minderwertigen Lebensmitteln. Nachbarn tun sich zusammen, gründen Netzwerke, pachten Gärten, abonnieren Bio-Gemüsekisten und versorgen sich mit erneuerbaren Energien, grüner Wärme und nachhaltigem Wasser.

Illustration von Carina Crenshaw
Illustration von Carina Crenshaw
Mirko Heinemann Redaktion

Mit der Landwirtschaft hatten die beiden Hamburger Jungs bislang eher wenig am Hut. Dominik Otto und Jonas Köhler sind Mitte 20, Otto hat Speditionskaufmann gelernt, Köhler ist Steuerfachangestellter und studierter Betriebswirtschaftler, außerdem semiprofessioneller Fußballer. Aufgewachsen sind die beiden Freunde in Hamburg-Bramfeld. Das ist nicht ganz City, aber auch nicht Stadtrand. Ihre Kindheit war eher geprägt durch Backstein und Benzin als durch Dung und Deich.

Das hat sich geändert, und zwar mit mit „GröGo“, Abkürzung für das plattdeutsche Grööngood, vulgo Grünzeug, zu deutsch Obst und Gemüse. Die beiden jungen Männer haben einen Lieferdienst für Bio-Grööngood übernommen, eine Art Lieferando für Ökos, wenn man so will. Solche regionale Gemüsekisten für urbane Abonnenten gibt es schon seit 1980er Jahren, aber bislang stecken sie in einer Nische fest. „Viele Internetauftritte sind auf dem Stand von vor 15, 20 Jahren“, sagt Jonas Köhler. „Wir wollen da raus, indem wir einen attraktiven Online-Shop mit gutem Service anbieten. Wir wollen Lust auf frische Bio-Lebensmittel machen und neue Käuferschichten ansprechen, etwa Berufstätige, die es nicht auf den Wochenmarkt schaffen. Ihnen liefern wir stattdessen frische, bio-zertifizierte Lebensmittel von lokalen Erzeugern direkt nach Hause.“

So geht das: Früher öko, heute Trend. Der Wertekompass im Leben von immer mehr Menschen dreht in Richtung Klimagerechtigkeit, Nachbarschaft und Individualität, und das sind exakt die Werte, mit denen Köhler und Ott ihren Bio-Frischdienst bewerben. Diese Entwicklung belegt auch der „Glücksatlas“ der Deutschen Post, eine repräsentative Studie, die alljährlich die Deutschen nach den Lebensumständen fragt. Dabei ergibt sich regelmäßig, dass Konsum zwar Glücksgefühle auslöst, aber bei weitem nicht so sehr, wie sich das die Menschen davon erhoffen: Je mehr die Menschen für Konsum ausgeben, desto geringer ist der Zuwachs an Zufriedenheit.

» Früher öko, heute Trend. «

2020 fragte der Glücksatlas erstmals nach dem Effekt von Konsum, wenn er mit dem Faktor Nachhaltigkeit verknüpft wird. Heraus kam: 70 Prozent der Befragten gab es ein gutes Gefühl, ein nachhaltig hergestelltes Produkt zu kaufen, auch wenn es teurer war. Die Forscher gingen noch weiter: Nachhaltige Shopper seien nachweislich glücklicher mit ihrem Leben, so deren Fazit. Das liegt vor allem an dem ideellen Zugewinn. Zum Beispiel eine Tasse Kaffee. Sie zu kaufen und zu trinken, löst Befriedigung aus. Dieses Gefühl vergeht schnell wieder. Entscheidet man sich aber bewusst für einen fair gehandelten Kaffee, steckt darin eine intrinsische Motivation. Man hat sich dafür entschieden, weil man will, dass die Plantagenbesitzer:innen fair entlohnt werden. Der Kaffee war entsprechend teurer. Und dieses Zufriedenheitsgefühl, verbunden mit der eigenen Motivation zur Entscheidung, bleibt längerfristig erhalten und wirkt sich auf die gesamte Lebenszufriedenheit aus.

Nachhaltig leben
 

Wenn man sich umhört, gewinnt man den Eindruck, dass inzwischen eigentlich jeder und jede gern nachhaltig leben würde. Das schlechte Gewissen, mit seinem Konsum Krieg, Kinderarbeit, Umwelt- und Klimazerstörung oder Tierleid zu unterstützen, lastet auf immer mehr Menschen. Das Gegenteil würde bedeuten, sich gesund und möglichst naturnah zu ernähren, am besten Nahrungsmittel selbst anbauen, Energie selbst erzeugen. Dieser Wunsch ist zwar durch die Corona-Pandemie befördert worden, aber nicht erst mit ihr entstanden. Russlands Überfall auf die Ukraine hat nur noch einmal den Finger in die Wunde gelegt.

Es gibt ihn schon länger, den Wunsch nach einem umweltgerechten und selbstbestimmten Leben: Er wuchs in den Graswurzelbewegungen der 1970er und 80er-Jahre und zeigt sich in Bestrebungen zu Unabhängigkeit in jeglicher Hinsicht. Ein Prototyp für diese Haltung war der Fernsehmoderator Peter Lustig, zuhause im Bauwagen und stets mit Latzhose unterwegs. In seiner TV-Sendung „Löwenzahn“ führte er in den 1980ern und 90ern Kinder an Natur- und Gartenthemen heran, und man darf wohl die These wagen, dass ein Gutteil des heutigen Landlust-Kults auf die Einflüsterungen des Mannes mit der Nickelbrille und dem schelmischen Blick zurückgehen. Öko und Bio, Guerilla Gardening und Tiny House, Selbstversorgung und grüne Energie, Obst und Gemüse, Bürgergärten, Nachbar-Netzwerke und Do-it-Yourself – all diesen Trends ging Peter Lustig voraus.

» Die Vision: eine möglichst nachhaltige Wertschöpfungskette, von der Erzeugung bis zum Konsum. «

Auch Dominik Otto und Jonas Köhler wurden von ihm beeinflusst. Klar kenne er Peter Lustig, sagt Jonas Köhler. Und wird sofort nostalgisch: Keine Folge „Löwenzahn“ habe er verpasst, schwärmt er. Landwirtschaft, Tierhaltung, Ernährung sind bei ihm schon lange wichtige Themen, über die Frage nach dem Tierwohl wurde er zum Veganer. Für ihn – auch für seinen Geschäftspartner – war klar, dass die beiden die Idee, sich selbstständig zu machen, mit diesen Themen verknüpfen wollten. Bei den Kontaktaufnahmen zu Landwirten rund um Hamburg lernten sie die Betreiberin der Öko-Gemüsekiste kennen, die altersbedingt auf der Suche nach der Nachfolge war.

Das Potenzial des kleinen Unternehmens hat sich Jonas Köhler und Dominik Otto sofort erschlossen. „Die Produkte stammen aus kontrolliert ökologischem Anbau und artgerechter Tierhaltung“, so Köhler. „Und bei der Lieferung ist uns wichtig, den Weg des Produkts vom Feld bis auf den Teller möglichst kurz zu halten.“ Um Emissionen zu vermeiden, haben die beiden Entrepreneure sich einen elektrisch betriebenen Lieferwagen angeschafft, der an der heimischen Wallbox geladen wird. Die Vision der beiden ist, eine möglichst kurze, CO2-neutrale und emissionsfreie Wertschöpfungskette aufzubauen, von der Erzeugung über den Vertrieb bis zum Verbrauch.

Nachbarschaft und Gemeinsinn
 

„Act locally“, so lautet das aktuelle Motto in Sachen Ernährung. Die Nahrungsmittel aus der Nachbarschaft beziehen, sie dort verteilen. So wenig wie möglich wegwerfen. Netzwerke wie Nebenan.de unterstützen diese Ideen. Das Portal verknüpft Nachbarn dort, wo man sich nicht aufgrund gewachsener Dorfstrukturen sowieso schon kennt: in Innenstadtvierteln, Kiezen oder in der Vorstadt. Dort finden sich Sportler:inne zu gemeinsamen Aktivitäten zusammen, Lesezirkel entstehen, Katzenliebhaber:innen organisieren die Ferienbetreuung ihrer Stubentiger.

In Deutschland werden etwa ein Drittel aller Lebensmittel weggeworfen. Food Sharing könnte das ändern. Damit ist dies ein Beitrag zur Nachhaltigkeit, zur Effizienz und fördert den sozialen Zusammenhalt. Auf Nebenan.de erzählt Janina, wie das in Bergisch Gladbach funktioniert. Wie sie Lebensmittel aus den örtlichen Supermärkten holt, die eigentlich auf den Müll wandern sollen. Etwa, weil Stellen oder welke Blätter am Gemüse sind oder das Ablaufdatum naht.

Zu schade, findet Janina und verteilt das gerettete Essen jetzt unter ihren Nachbarn. Dabei greift sie auf die Infrastruktur der Initiative „Foodsharing“ zurück: „Ich fahre mit dem Rad oder Auto zu verschiedenen Betrieben, zum Beispiel zu Supermärkten, Bäckereien oder Biomärkten, die mit der Initiative Foodsharing kooperieren. Dort bekomme ich dann meist Obst, Gemüse, Backwaren oder Molkereiprodukte, die vom Tag übrig sind. Diese kann ich entweder zu einem „Fair-Teiler“ bringen, öffentliche Kühlschränke oder Regale, wo andere Menschen sich bedienen können. Oder ich verteile die Lebensmittel unter Freunden und Bekannten.“ Für die Verteilung nutzt sie die Plattform nebenan.de.

Nachbarschaft ist In. Anstelle von urbaner Anonymität tritt immer stärker das Streben von Gemeinschaft und Verbundenheit. Die Stadt ist das neue Dorf. Hier nimmt auch das sogenannte Urban Gardening ordentlich an Fahrt auf. Inzwischen gibt es in den Metropolen großflächig angelegte Bereiche, die zum Anbau von Gemüse und Obst genutzt werden können. Begonnen hat es als „Guerilla Gardening“ von Aktivist:innen in New York, die aus Protest gegen die Versiegelung von Flächen und den die Verwahrlosung von abgehängten Stadtvierteln Samenkugeln auf städtische Grünflächen warfen, so dass darauf Blumen wuchsen.

Illustration von Carina Crenshaw
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Illustration von Carina Crenshaw
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Urban Gardening
 

Später wandelte sich der Trend zum Urban Gardening oder Urban Farming. Er wird von vielen Stadtverwaltungen gefördert. Auch in den deutschen Metropolen ist der Trend angekommen, wo deutsche Bürokratie es leider mancherorts Stadtgärtner:innen schwer macht, öffentliche Grünflächen legal zu nutzen. Es gibt Städte, die zu diesem Zweck Flächen zur Verfügung stellen, ungenutzte Orte wie einen Parkplatz in Nürnberg oder das Dach einer Tiefgarage in Hamburg. Sie werden zum Stadtgarten umfunktioniert.

2009 taten sich 18 Menschen in Kassel zusammen und gründeten den Verein „Essbare Stadt“. 2021 hatte er schon 130 Mitglieder. „Mit viel ehrenamtlichem Engagement und Freude am Gärtnern und Vernetzen betreiben wir die Gründung und Pflege von Gemeinschaftsgärten“, heißt es auf der Website. Dazu gehören Teilhabemöglichkeiten beim biologischen Gemüseanbau in der Stadt als Gemüse-Selbst-Ernte-Projekte und das Pflanzen von Obstbäumen in Abstimmung mit dem Gartenamt.

Ähnlich engagiert sind die Aktivistinnen und Aktivisten rund um den Garten Steinhöfel. Eine Stunde entfernt von Berlin baut eine Gemeinschaft – viele davon kommen dafür extra aus der Stadt her – selten gewordene Gemüsesorten an. Hier stehen marmorierte Feuerbohnen neben Gewächsen wie Melde, Filderkraut oder Topinambur. Mit der kommerziellen Landwirtschaft sind pflegeintensive und anspruchsvollere Gewächse vom Markt verschwunden. So sind zum Beispiel bei den Äpfeln von einst über tausend Arten nur einige wenige übrig geblieben. Doch manche der alten Sorten sind sogar resistenter gegen Klimaschwankungen und brauchen weniger Pflege.

» Die Stadt ist das neue Dorf. «

Den Selbstversorger-Trend spüren auch Heimwerker- und Gartenmärkte, der Verkauf von Saatgut und Anzuchtpflanzen steigt. Vor allem infolge des Kriegs in der Ukraine und angesichts steigender Lebensmittelpreise versuchen offenbar immer mehr Menschen, sich selbst ein Stück weit mit Obst und Gemüse zu versorgen, berichtete dpa jüngst. „Dieser Trend zieht sich durch alle Altersgruppen und geht oft einher mit der Rückbesinnung auf den eigenen Nutzgarten“, zitiert die Agentur Hauptgeschäftsführer Peter Wüst vom Handelsverband Heimwerken, Bauen und Garten.

Vor allem Stadtbewohner schafften sich Möglichkeiten: So habe sich etwa der Verkauf von Hochbeeten, die sich platzsparend auf dem Balkon unterbringen lassen, deutlich erhöht. Ein großes Handelsunternehmen habe einen Anstieg der Nachfrage um ein Drittel gegenüber dem Vergleichszeitraum 2021 festgestellt, so Wüst. „Ähnliche Effekte bemerken die Händler bei der Pflanzware – hier besonders bei Nutzpflanzen.“ Der Trend gehe zu hoher Qualität und zu biologischer Produktion.  

Hühner mieten – auch das geht
 

Neben dem Anbau von Obst und Gemüse betreiben immer mehr Städterinnen und Städter das „Urban Beekeeping“, sie halten Honigbienen in Hinterhöfen oder in Schrebergärten. Die Imkerei ist in den letzten Jahren geradezu zum Trendhobby unter jungen Hipstern avanciert. Noch nicht ganz so hip sind Eier von eigenen Hühnern, auch in der Stadt. Den Weg dorthin ebnen ideenreiche Unternehmer wie Ralf-Wigand Usbeck. Er vermietet in der Region Niedersachsen, Bremen und Hamburg Hühnerställe mitsamt Hühner. Wer ein frei zugängliches Grundstück mit mindestens 25 Quadratmeter Grünfläche oder Erde hinterm Haus hat, kann Wigand anrufen, und er rückt mit seinem mobilen Hühnerstall an. Der Stall wird aufgebaut, ein 25 Meter langer Steckzaun kommt außen herum, individuell an die vorhandenen Örtlichkeiten angepasst. Im Nu hat man jeden Morgen sein frisches Frühstücksei.

Eine Einweisung gibt es selbstverständlich auch. Aber mit Hühnern könne man nur wenig falsch machen, so Wiegand. Man dürfe sie streicheln, und wenn ein Huhn keine Lust mehr dazu hat, wird es weglaufen. Man könne die Hühner aus der Hand füttern, und alles was ein Huhn nicht fressen darf, werde es nicht nehmen. Die Motivation seiner Kunden muss gar nicht immer eine materielle sein, vielmehr geht es vielen um Entschleunigung im Alltag: „Den Hühnern können Sie den ganzen Tag zuschauen und dabei entspannen, ähnlich wie beim ins Feuer oder Aquarium schauen.“

Pflanzen beim Wachsen: Dass Selbstversorgung aus dem eigenen Garten ein durchaus realistischer Traum für viele werden könnte, das liegt vor allem am Internet. Das quillt geradezu über mit Tipps, wie man über Blumen und hübsche Sträucher, Gewächse und Gräser hinaus Obst und Gemüse zum eigenen Verzehr gewinnt. Die Autorin Marie Diederich aus dem nordhessischen Witzenhausen hat mit dem Thema sogar einen Bestseller gelandet. Ihr Buch „Selbstversorgung“ ist eine Anleitung, wie man sich aus dem eigenen Garten ernährt.

Diederich selbst hat erst vor einigen Jahren damit begonnen. Daraus ist ihr Blog „Wurzelwerk“ entstanden, eine Internetseite mit Tipps zum Gärtnern. Sie erklärt dort, wie man Gemüse einkocht oder fermentier, wann die beste Zeit ist, um Zucchini anzupflanzen, wie man eine Vorratskammer im Garten anlegt, in der Kartoffeln und Kohl überwintern können. Der Eindruck, den man gewinnt: Selbstversorgung ist viel Arbeit, aber selbstbestimmte Arbeit. Sie ist mühsam und kosten viel Zeit, aber sie bringt Erfüllung. Und entschleunigt das Leben.
 Der Wunsch nach Entschleunigung ist sowieso ein wichtiger Antrieb bei all dem Streben nach Autarkie. Der Wunsch, raus aus dem Büro zu kommen, weg vom Bildschirm, dem stressigen Job und dem Hamsterrad. Das alles hinter sich zu lassen, am besten mit dem emissionsfreien Elektroauto, das mit erneuerbarem Strom betankt ist. Dann den Blick über den eigenen Garten schweifen lassen, wo die Tomaten und Paprika rot leuchten, der Duft von Rosmarin und Thymian weht und die Sonnenblumen im abendlichen Windhauch freundlich nicken. Das ist das wahre Leben!

 

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