Gute Nächte

Wohnen heißt auch schlafen, rund ein Drittel unserer Lebenszeit verbringen wir ruhend im Bett. Trotzdem wird Schlaf oft unterschätzt und ist gestört.
Illustration: Josephine Rais
Axel Novak Redaktion

Der Job in der Werbeagentur klang super: Leitende Position, gute Bezahlung – und Homeoffice als fester Teil des Jobprofils. Zum Schluss standen zwei Favoriten im Rennen, zwei Bewerberinnen aus dem Berliner Umland. Exzellente Referenzen, fachlich top, hoch motiviert – und ganz im Thema. Dass am Schluss eine von den beiden das Rennen verlor, lag nur an einem winzigen Detail, an einer kleinen Aussage, der sie selber vermutlich kein großes Gewicht beigemessen hat: „Ich schlafe so gut wie nie“, hatte sie gesagt. Das hatte den Agenturchefs Angst gemacht.


Was die Bewerberin als Zeichen hundertprozentigen Einsatzes meinte, stieß bei der Agentur an. Einer der Geschäftsführer hatte drei Jahre zuvor einen Burn-out und sich nur langsam erholt. Und der Kreativdirektorin war die Beziehung in die Brüche gegangen, weil sie vor lauter Job die Familie nicht mehr sah.


Irgendwie wollte die Bewerberin, die nicht mehr schlief, da nicht mehr in das Unternehmen passen ...
Und damit steht die Agentur nicht allein: Was hat sich alles geändert in den letzten Monaten und Jahren! Wer früher abschätzig sagte, „das mache ich im Schlaf“, der bemüht heute andere Vergleiche.


Denn Schlafmangel ist nichts mehr zum Angeben. Vorbei die Zeiten, als Napoleon das Vorbild war, weil er angeblich nur vier Stunden seines Tages dem Schlaf opferte. Zwar prahlen auch heute noch Menschen damit, dass wenig Schlaf sie besonders produktiv mache. Doch für Fachleute ist das häufig nur vorgespielt. „Die angeborenen Kurzschläfer, die mit vier Stunden Schlaf auskommen, die sind ganz selten“, sagte der Schlafwissenschaftler Professor Dr. Ingo Fietze vom Interdisziplinären Schlafmedizinischen Zentrum der Charité Berlin jüngst in einem Podcast.

 

Schäden durch Schlafmangel

 

Schlafmangel kann zu ernsthaften Schäden führen, das hat sich mittlerweile herumgesprochen. Studien belegen Hirn- und Organschäden. Die Menschen sind in ihren kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigt, können sich nicht konzentrieren und erinnern, können keine Probleme mehr lösen – und um ihre Kreativität ist es auch schlecht bestellt.


Wer zu wenig schläft, der schadet nicht nur sich selbst. Wegen des Schlafmangels ihrer Mitarbeiter verlieren Unternehmen hierzulande jedes Jahr 200.000 Arbeitstage. Müde Arbeitnehmer kosten die Wirtschaft jedes Jahr rund 53 Milliarden Euro, hat die Forschungsorganisation RAND Europe herausgefunden. Schlimmer noch ist es in den USA: Mehr als 411 Milliarden US-Dollar verlieren die Firmen durch Übermüdung und Schlaflosigkeit. Denn wer zu wenig schläft, bringt es auf mehr Fehltage und ist längst nicht so produktiv wie der ausgeschlafene Kollege am Nachbarschreibtisch.


Schlafstörungen sind weit verbreitet und laut Gesundheitsreport der DAK bei den Berufstätigen in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren um 66 Prozent gestiegen. Ein Viertel aller Deutschen klagt heute darüber. Jeder Zehnte empfindet seinen Schlaf als nicht erholsam. Schlafapnoe – „Atemstillstand im Schlaf – ist das häufigste medizinische Phänomen“, so Schlafforscher Fietze. Jeder zweite Erwachsene leide darunter. Erstaunlich, dass das Schlafverhalten gerade in den industrialisierten und hochentwickelten Gesellschaften so viel schlechter geworden ist. Heißt das, je wohlhabender wir werden und je besser es uns geht, desto weniger schlafen und entspannen wir?

 

Rund um die Uhr aktiv

 

Die Gründe für die nächtliche Unruhe haben jedoch weniger mit unserem Wohlstand zu tun, als mit unserem Lebensstil. Die Aktivitäten einer Gesellschaft, die rund um die Uhr funktioniert, sorgen dafür, dass die Nächte immer kürzer werden. Hoher Alkoholkonsum, Rauchen, zu wenig Bewegung und eine exzessive Nutzung von elektronischen Medien lassen den Schlaf immer mehr als Einschränkung unserer Freiheit erscheinen. Schlafkiller Nummer eins ist Stress.


Wer einmal im Bett liegt und sich seinen Sorgen überlässt, der bleibt oft lange schlaflos. „Denk ich an Deutschland in der Nacht / so bin ich um den Schlaf gebracht“; schrieb schon Heinrich Heine 1843 im Gedicht Nachtgedanken. Abschalten tut also not.

 

Auftanken und aufräumen

 

Denn Schlaf ist wichtig. Der Körper benötigt Schlaf, um sich zu regenerieren, beschädigte Zellen zu reparieren und das Immunsystem zu stärken. Schönheitsschlaf heißt es, weil sich Schafmangel bald auf der Haut bemerkbar macht. Menschen, die regelmäßig weniger als sechs Stunden schlafen, haben ein um 13 Prozent erhöhtes Sterblichkeitsrisiko.


Auch das Gehirn braucht den Schlaf, um energetisch wieder aufzutankenund um aufzuräumen. „Nachts reinigt sich das Gehirn von schädlichen Stoffen“, so Fietze, „schlechter Schlaf ist ein absoluter Provokator für Demenzerkrankungen.“ Im Schlaf baue das Hirn beispielsweise das Eiweiß Beta-Amyloid ab, das für die Alzheimer-Erkrankungen verantwortlich gemacht wird. Gleichzeitig nutzt das Gehirn die nächtliche Entspannung, um Eindrücke und Erfahrungen zu verarbeiten, die während des Tages gewonnen wurden.

 

Individuelle Schlafmuster

 

Im Schlaf durchläuft der Schläfer verschiedene Zyklen, die für Außenstehende durch die rasche Bewegung der Augen unter den Augenlidern erkennbar sind: Rapid-Eye-Movement – REM-Phase bezeichnet den Teil des Schlafzyklus, in dem Gehirn und Nervensystem aktiv den Vortag verarbeiten. In der Non-REM-Schlafphase wiederum bewegen sich die Augen wenig. Diese Phase leitet den eigentlichen Schlaf ein: Zwei Leicht- und zwei Tiefschlafphasen wechseln sich dabei ab. Die Aktivität des Gehirns sinkt genauso wie der Herzschlag, die Muskulatur entspannt sich. In den Tiefschlafphasen erholt sich der Körper am meisten.


Im Durchschnitt dauert ein Schlafzyklus 90 Minuten, er läuft vier- bis sechsmal pro Nacht ab. Anfangs überwiegen die Tiefschlafphasen, erst gegen Morgen verlängern sich die REM-Schlafphasen. Jeder Schläfer durchläuft eine bestimmte Abfolge aus diesen Schlafstadien, die für ihn charakteristisch sind, der individuelle Schlafzyklus. „Schlaf ist ein Fingerprint und sehr individuell“, so Schlafforscher Fietze.


Wie viel Schlaf ein Mensch benötigt, hängt von vielen Faktoren ab, unter anderem vom genetischen Chronotypus, von den täglichen Aktivitäten und vom Alter: Jugendliche brauchen mindestens neun Stunden Schlaf. Eltern wissen, dass der Nachwuchs kurze Nächte in der Woche durch wochenendliches Langschlafen erfolgreich ausgleicht. Erst ab dem 30. Lebensjahr ändert sich das Schlafbedürfnis: Nun reichen bis ins hohe Alter sieben bis acht Stunden Schlaf.


Weil sich viele Menschen an zu wenig Schlaf gewöhnen, führt das zu einem paradoxen Phänomen: Je mehr die Menschen arbeiten, desto weniger schlafen sie. Und je länger sie arbeiten, desto häufiger klagen sie über Schlafstörungen, haben die Wissenschaftler der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin herausgefunden.

 

Schwere Decken gegen leichten Schlaf

Dieser Teufelskreis ist einigen Menschen schon bewusst. Mittlerweile hat sich langer Schlaf zu einer Art neuem Statussymbol entwickelt. „Wir wandeln uns derzeit von einer übernächtigten Always-on- zu einer ruhesuchenden Work-Life-Sleep-Balance-Gesellschaft“, schreibt Trendforscherin Corinna Mühlhausen im Health-Report des Hamburger Zukunftsinstituts. Ihr zufolge bestimmt das Thema Schlaf den Gesundheitsbereich der Zukunft. „Schlaf soll dabei helfen, gesünder und fitter, leistungsfähiger und kreativer, zudem schöner und schlanker zu werden, sodass wir ein sicheres und ausbalanciertes Leben führen können“, so Mühlhausen.


Das Power Napping im Büro ist in manchen Unternehmen längst nicht mehr anstößig. Kleine Nickerchen unter 30 Minuten gelten als akzeptiert.


Auch im Privatleben bieten sich neue Märkte für neue Produkte und Dienstleistungen, die den Schlaf optimieren. Melatonin-Sprays, Kräuterdrinks und -tees helfen, die Schlafhygiene zu verbessern. Der letzte Schrei gegen Schlafstörungen sind Gewichtsdecken, sogenannte Gravity Blankets. Wer erlebt hat, wie ruhig eingepuppte Babys schlafen, den kann die Wirksamkeit der bis zu 12 Kilogramm schweren Decken überzeugen. Apps mit einschläfernden Geräuschen und Musik sorgen für die ruhige Stimmung. Im „Einschlafen Podcast” liest der Informatiker Tobias Baier seit Jahren mit monotoner Stimme literarische Texte oder spricht über die unterschiedlichsten Themen.

 

Gut schlafen, besser entscheiden

 

Guter Schlaf braucht auch ein paar ganz klassische Voraussetzungen: Die Zimmertemperatur sollte idealerweise zwischen 17 und 22 Grad betragen. Das Zimmer ist durchlüftet und liegt ruhig. Bett und Matratze sind individuell abgestimmt auf den Schläfer und seine Liegeposition. Die Ausrichtung der Möbel entspricht dem Harmoniebedürfnis – und den Räumlichkeiten. Und am besten schläft es sich sowieso in natürlichen Materialien, heißt es in der Fachpresse, die die nächste Saison im Möbelwesen vorbereitet. Und natürlich: Vor dem Schlafen kein Alkohol und keine elektronischen Medien.


Wer dann gut schläft und erfrischt aufwacht, der hat eindeutig bessere Laune. Gut möglich, dass sich die Bewerberin, die wegen ihres Schlafmangels aus der Bewerbung flog, künftig an Amazon-Gründer Jeff Bezos orientiert. Der legt Wert darauf, jede Nacht mindestens acht Stunden zu schlafen, um tags drauf vernünftige Entscheidungen treffen zu können. Mangelnden Erfolg kann man ihm nicht vorwerfen.

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