Rechtsanwältin Angelika Meier (Name geändert) traute ihren Ohren nicht. Ihr Großonkel, dement und körperlich eingeschränkt, war nach einer Herzkatheteruntersuchung in einem Hamburger Krankenhaus verschwunden. Weder das Pflegepersonal noch die Damen in der Telefonzentrale wussten, wo er nach dem Eingriff abgeblieben war. Die Untersuchung war komplikationslos verlaufen. Doch nach dem Eingriff wurde Meiers Onkel in eine Kurzzeit-Rehabilitationsmaßnahme vor Ort verlegt. Meier wurde nicht informiert. „Das ist kein Einzelfall“, klagt die Rechtsanwältin. „Ich habe viel mit alten Menschen und daher auch mit unserem Gesundheits- und Pflegesystem zu tun. Häufig weiß in stationären Einrichtungen für Gesundheit oder Pflege die linke Hand nicht was die rechte tut.“ Ständig sei man als Betroffener mit Personalmangel und schlechter Organisation konfrontiert. Und ein Krankenhausaufenthalt berge diverse Risiken. Falls irgend möglich würde sie den vermeiden. „Seit einer kleinen OP unter Narkose vor einigen Jahren ist mein Onkel dement. Vorher war er quietschfidel.“
ARZTTERMIN: SCHWIERIG
Ein häufiges Problem, nicht nur hierzulande. Verschiedene Studien haben ergeben, dass eine Narkose bei älteren Menschen das Demenzrisiko verdoppelt. Bereits ab einem Alter von 60 Jahren steigt das Risiko für einen postoperativen Delir, eine schwere Verwirrtheit, die zur dauerhaften Demenz werden kann. Kein Wunder, dass laut einer Befragung der Krankenkasse KKH 30 Prozent der Patienten Angst vor einem Krankenhausaufenthalt haben. Sie befürchten falsche Diagnosen und Behandlungen sowie deren Spätfolgen. Generell sind laut Health Report des Arzneimittelherstellers Stada nur noch 64 Prozent der Deutschen, Patienten ebenso wie Beschäftigte, mit unserem Gesundheitssystem zufrieden. Sie bemängeln vor allem die Schwierigkeit, einen Arzttermin zu bekommen, sowie die mangelnde Kompetenz von Gesundheitspolitiker:innen.
Kein Wunder. So belegt Deutschland bei der Lebenserwartung im europäischen Vergleich mit 81,2 Jahren einen der letzten Plätze und liegt deutlich unter dem EU-Durchschnitt (81,5 Jahre). Sebastian Zirfas, Head of Policy & Public Affairs von Pfizer Deutschland, klagt: „Das deutsche Gesundheitssystem konzentriert sich noch zu sehr auf Heilung und zu wenig auf Prävention.“ Er fordert eine datengestützte Analyse, wie sie zum Beispiel der von Pfizer initiierte Präventionsindex biete. Dieser zeigt auf, wo und welche Präventionsmaßnahmen sinnvoll sind. Doch oft wird ein gutes Angebot auch nicht in Anspruch genommen. Eine aktuelle Umfrage im Auftrag von Pfizer hat ergeben, dass Deutsche ihr Auto häufiger überprüfen lassen als ihre eigene Gesundheit. Während 81 Prozent der PKW-Besitzer:innen ihr Auto im letzten Jahr zur Inspektion gebracht haben, nahmen lediglich 59 Prozent aller Befragten im selben Zeitraum eine der verschiedenen Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch.
MEDIZINER BEKLAGEN BÜROKRATIE
Nicht nur Patienten, auch Ärzte sind unzufrieden. Rund 82.000 Euro Jahresgehalt können Jungmediziner dank vieler Nacht- und Sonderschichten heute schon im Krankenhaus verdienen – fast doppelt so viel wie der Durchschnitt akademisch gebildeter Berufseinsteiger. Doch auch sie beklagen Bürokratie und schlechte Führung. „Die Arbeitgeber spielen auf Zeit und wollen von eigenen Versäumnissen in der Führung der Krankenhäuser ablenken“, schimpft Dr. Andreas Botzlar, 2. Vorsitzender des Marburger Bundes, der Berufsvereinigung der Krankenhausärzte.
»Die Deutsche Krankenhausgesellschaft fordert von der Politik die Entbürokratisierung und eine bessere Finanzierung.«
Dirk Köcher, Verhandlungsführer der kommunalen Krankenhausträger und Kaufmännischer Direktor des Städtischen Klinikums Dresden, hält dagegen: „In diesem Jahr erwarten 70 bis 80 Prozent aller Krankenhäuser in Deutschland einen Verlust, da die Refinanzierung der inflationsbedingt gestiegenen Personal- und Sachkosten der letzten beiden Jahre bisher nur extrem unzureichend erfolgt ist.“ Mit einem Defizit von sechs Milliarden Euro rechnet daher die Deutsche Krankenhausgesellschaft und fordert von der Politik vor allem eine Entbürokratisierung und bessere Finanzierung. Die ist dringend notwendig. Bereits 2020 beklagte der Bundesrechnungshof, dass die Krankenhausversorgung in Deutschland chronisch unterfinanziert sei, die Länder zu wenig investieren und am Bedarf vorbeiplanen würden. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach kritisiert zudem, dass es in Deutschland zu viele Krankenhäuser und unnötige Operationen gebe. Verbessern soll dies die von seinem Ministerium initiierte Krankenhausreform mit Abschaffung des Fallpauschalen-Systems und stärkerer Spezialisierung einzelner Häuser. Auch im Bereich Digitalisierung gibt es im Vergleich zu Ländern wie Dänemark Nachholbedarf.
STARKE MEDIZINTECHNIK-BRANCHE
Trotz bekannter Defizite und verbreiteter Jammerei über das Gesundheitswesen gibt es jedoch auch Lichtstreifen am Horizont. So zählt die industrielle Gesundheitswirtschaft (iGW) mit Produktion, Handel und Vertrieb von Medizintechnik und Medizinprodukten zu den wirtschaftlich stärksten deutschen Branchen, die im Jahr 2023 Produkte für mehr als 171 Milliarden Euro exportiert hat. Mit Siemens Healthineers ist zudem ein deutsches Unternehmen beim Umsatz auf Platz drei der weltweiten Spitzenreiter von Medizintechnikunternehmen und behauptet sich auch gegen die US-Riesen Medtronic und Johnson & Johnson. Doch China und weitere Schwellenländer holen auf. Heute schon melden chinesische Pharma-Forscher so viele Patente an wie die US-Forscher. „Deutschland braucht ein neues Geschäftsmodell“, sagt Han Steutel, Präsident des Verbandes forschender Pharmaunternehmen. „Der einzige Ausweg in einer solchen Situation ist es, auf Innovationen, Forschung und Entwicklung und auf das Wissen zu setzen. Wir müssen Veränderungen zulassen und fördern. Dies ist unsere wichtigste Ressource.“