Vor genau 60 Jahren öffneten die ersten beiden Shoppingcenter in Deutschland ihre Türen und läuteten damit eine kleine Revolution ein: Erstmals konnten Shoppingerlebnisse für Kunden zielgenau konzipiert, gemanagt und eruiert werden. Heute gibt es in Deutschland über 500 Shoppingcenter. Allerdings ist die Zahl mittlerweile wieder rückläufig – eine Entwicklung, die zu erwarten war, wie Lena Knopf, Projektleiterin im EHI-Forschungsbereich Immobilien und Expansion, unterstreicht: „Dass die Zahl irgendwann nicht mehr steigt, war zu erwarten, da es vielerorts inzwischen sehr viel Verkaufsfläche gibt.“ Und natürlich, weil der Onlinehandel einen starken Wettbewerb darstellt. Entsprechend stellen sich viele Shoppingcenter mit Foodcourts oder Freizeitangeboten deutlich breiter auf, um neben dem reinen Einkaufsvergnügen Besucher auch mit anderen Highlights locken zu können.
Genau das ist die Konstante im Handel: der beständige Wandel, der mittlerweile gerade auch den Onlinehandel immer stärker erreicht. Nach langen Wachstumsphasen trüben sich die Aussichten in diesem Segment zunehmend, weshalb auch die Onlinehändler ihre Prozesse und Kostenstrukturen genauer unter die Lupe nehmen müssen. Als „Zeiten des regenerativen Wachstums“ beschreibt beispielsweise Handels-Zukunftsforscherin Theresa Schleicher die aktuelle Phase in der letzten Ausgabe ihres Retail Reports. Und in einer solchen Phase werde der E-Commerce konsequent entschleunigt, hochwertiger und damit auch wirtschaftlich fokussierter. „Om:line“ Retail nennt sie es in ihrem Report in Anlehnung an den Om-Laut aus dem indischen Sanskrit, der im Yoga und zur Meditation verwendet wird.
DATEN KI
Branchen, die ihre Prozess- und Kostenstrukturen konsequenter unter die Lupe nehmen müssen, landen fast automatisch bei Daten, auf deren Basis und mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz beides optimiert werden kann. Denn mit Hilfe von Daten und Analysen – etwa Nachfragevorhersagen – können vor allem der Bestand und das Fulfillment, also Logistik und Versand, optimiert werden. KI kann zudem auch im Kundendienst unterstützen. Gerade die generative KI ist mittlerweile so weit fortgeschritten, dass Chatbots und virtuelle Assistenten das Einkaufserlebnis der Kunden deutlich steigern und gleichzeitig die Kosten für die Händler senken können.
INDIVIDUELLE ERLEBNISSE
Es gibt aber noch einen weiteren Grund, warum vor allem Onlinehändler so stark in ihre Digitalisierung und den Ausbau Künstlicher Intelligenz investieren: Ihre Kunden erwarten zunehmend personalisierte Einkaufserlebnisse. Denn in einem immer größer und damit unübersichtlicher werdenden globalen Angebot das für sich passende Sortiment zu finden, ist mittlerweile eine regelrechte Kunst, die mit Unterstützung von Künstlicher Intelligenz deutlich schneller und einfach kultiviert werden kann. Anbieter wie Google bieten Händlern mittlerweile eine ganze Reihe KI-gestützter Lösungen. Ein Beispiel ist das im letzten Jahr eingeführte Product Studio, mit dem Händler KI-gestützte Inhalte erstellen können. Mit einer Beschreibung und einem Beispielbild werden dann passende Produktbilder generiert. Für 80 Prozent der Nutzer bedeutet das eine deutliche Effizienzsteigerung, heißt es von Google. Auch virtuelle Anproben gehören mittlerweile zum Repertoire. Damit können Kunden heute schon sehen, wie verschiedene Kleidungsstücke an unterschiedlichen Körpertypen aussehen. Bis jeder einzelne Kunde die Kleidung an sich selbst mit Hilfe der virtuellen Try-on-Technologie online ausprobieren kann, wird aber sicherlich noch etwas Zeit ins Land gehen.
REGIONALER UND NACHHALTIGER KONSUM
Und vermutlich muss die KI bis dahin auch noch nachhaltiger werden. Denn auch das ist ein Trend im Handel, der zunehmend stärker wird. „Regenerative Business Modelle sind die nächste Stufe von nachhaltigen und zirkulären Geschäftsmodellen“, analysiert Commerce-Expertin Theresa Schleicher in ihrem Report. Schon länger gehe es nicht mehr nur um den Ausgleich durchs Bäume pflanzen, sondern um Ressourcen und Materialien und auch um eine Produktion, die Ökosysteme im Kreislauf wieder aufbaut. Das reiche von der britischen Modemarke Sheep Inc., deren Produktionsprozesse nicht nur kein CO2 ausstoßen, sondern binden, bis hin zu Alltags- und Beautyprodukten, deren Bestandteile Ökosysteme wiederherstellen wie beispielsweise die Sonnencreme Reef Relief, deren Inhaltsstoffe die Regeneration von Korallenriffen unterstützt, weiß Schleicher.
Und auch regionale Produkte stehen immer stärker im Fokus der Konsumenten, weil sie längst keinen Verzicht mehr bedeuten, dafür aber für viele Kunden der Kern nachhaltigen Handelns sind. Regionalität würde zukünftig die Internationalität neuer Geschmäcker und innovativer Stile nicht mehr ausschließen, glaubt Zukunftsforscherin Schleicher. Mit steigender Diversität in Deutschland und Österreich auf dem Konsum- und Arbeitsmarkt wachse die Nachfrage nach einem internationalen Mainstream. So entstünden neue, nachhaltig regionale Einflüsse: Das neue Regional. „Dahinter steht Vielfalt statt Überfluss – in Herstellungsweise und im Produkt- und Serviceangebot. Ingwer aus Bayern oder Quinoa aus dem Rheinland sind vereinbar mit dem Anspruch an nachhaltigen und diversen Konsum. Und auch fernöstliche Techniken im Hausbau oder Ernte-Effizienz durch KI-Start-ups wie Seedalive ermöglichen nachhaltige Prozesse hierzulande“, erklärt Schleicher.
VIELE POTENZIALE NOCH NICHT GEHOBEN
Anstatt also den Abgesang auf den stationären und Onlinehandel anklingen zu lassen, können sich beide Bereiche auf ihre Stärken besinnen und den Wandel im Konsumverhalten nutzen, sich neu aufzustellen. Das können beispielsweise neue Abo- und Mietmodelle sein. Die Kölner Kleiderei macht es vor. Hier wird nicht nur Vintagemode verkauft, sondern auch nachhaltige Kleidungsstücke verliehen. Und auch beim Thema nachhaltige Verpackungen oder Slow-Delivery können Händler heute punkten. Was sich davon künftig wirklich durchsetzt, wird sich zeigen. Dass KI und Nachhaltigkeit die Entwicklung der Branche noch länger bestimmen werden, ist indes klar.