»ES ENTSTEHT GERADE EINE EXTREME VIELFALT«

 Nachhaltige Karriere? Es gibt aktuell kaum einen Wirtschaftszweig oder Fachbereich, der nicht von ESG- Kriterien und Nachhaltigkeitsanforderungen betroffen ist. Entsprechend groß ist die Nachfrage nach Expertinnen und Experten. Prof. Cathrin Eireiner erklärt, was die Unternehmen brauchen und welche neuen Karrierechancen
hier entstehen.

Illustration : Chiara Lanzieri
Illustration : Chiara Lanzieri
Interview: Julia Thiem Redaktion

Frau Prof. Eireiner, Nachhaltigkeit ist längst kein reines Buzzword mehr, sondern findet mit zahlreichen Initiativen und neuen regulatorischen Anforderungen Einzug in nahezu alle Wirtschaftszweige. Entstehen hier neue Karrieremöglichkeiten?

Definitiv. Die Nachfrage nach ESG-Experten steigt vor allem auch deshalb, weil Nachhaltigkeit lange Zeit fast ausschließlich mit Umweltaspekten gleichgesetzt wurde. Mittlerweile gewinnen aber auch das S für Social und das G für Governance immer mehr an Bedeutung, was die Karrierechancen entsprechend verbreitert. Durch neue Richtlinien wie beispielsweise die zur Nachhaltigkeitsberichterstattung der EU müssen sich auch immer mehr Mittelständler mit dem Thema auseinandersetzen und benötigen entsprechende Expertise im Haus.
 

Wobei die reine Berichtspflicht ja erst der Anfang ist. Letztendlich müssen Unternehmen ihre Geschäftsmodelle dadurch viel stärker auf Nachhaltigkeit ausrichten, um nicht auf die eine oder andere Weise abgestraft zu werden.

Ganz genau. Wir sehen auch bereits in unseren eigenen Studien und Arbeiten, dass sich dadurch im Personalmanagement, aber auch in der Ausbildung etwas verändert. Aktuell gibt es in Deutschland über 70 Studiengänge, die sich wesentlich mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftigen. Allerdings findet sich auch hier ein starker Fokus auf das E, also den Umweltaspekt. Unternehmen fragen aber mit den oben beschriebenen, veränderten Anforderungen zunehmend Expertise aus den anderen beiden Bereichen nach. Während Nachhaltigkeitsexperten also bisher vor allem mit Wissen rund um den Klimawandel, erneuerbare Energien, Kreislaufwirtschaft und Ähnlichem ausgestattet sein mussten, gilt es heute, sich auch im Arbeitsrecht, mit Lieferketten, Gleichstellung, Stakeholder-Engagement, Finanzflüssen oder Mitbestimmung auszukennen.
 

Klingt, als müsste man als ESG-Experte entweder extrem breit aufgestellt sein oder aber sich deutlich spezialisieren. Wie lässt sich dieser Spagat in der Ausbildung lösen?

Die gute Nachricht ist: Wir müssen an sehr vielen Stellen das Rad nicht neu erfinden. Beispiel Governance. Hier gibt es bereits sehr viele Studiengänge genau wie Aus- und Weiterbildungen – also etwa die klassischen wirtschaftswissenschaftlichen Studiengänge, die nun mit den neuen regulatorischen Anforderungen ergänzt werden müssen. Denn Compliance- und Corporate-Governance-Experten wurden auch vor ESG benötigt. Aber auch hier werden die Anforderungen breiter, weshalb sich Absolventen schon überlegen müssen, welchen Karriereweg sie einschlagen wollen. Es ist also weniger der Spagat und mehr die sinnvolle Kombination von spezialisiertem Wissen, die künftig gefragt sein wird.
 

Mit Blick durch die Personalmanagement-Brille: Wie stelle ich als Unternehmen diese Future-Skills idealerweise zusammen?

Wir glauben, dass es vor allem eine crossfunktionale Aufgabe in der Organisation ist. Heißt, es braucht mehrere Perspektiven, die dann letztendlich zusammenwirken und auf die diversen ESG-Thematiken einzahlen. Auch wenn es einfacher wäre: Einen Nachhaltigkeits-Beauftragten zu bestimmen, löst die diversen Anforderungen nicht.
 

Und aus Ihrer Sicht als Expertin für Personalentwicklung: Was braucht es für Kompetenzen – vielleicht auch erst einmal unabhängig von Berufsbildern?

Auf jeden Fall stehen die Themen Datenanalyse und -interpretation im Fokus, alleine schon aufgrund der steigenden Reporting-Anforderungen, über die wir bereits gesprochen haben. Wobei der Umgang mit Daten kein rein deskriptiver bleiben kann, sondern präskriptiv und prädiktiv werden muss. Diese Kompetenz brauchen Unternehmen eigentlich in allen Abteilungen, weil die ESG-spezifischen Daten vor der Analyse zunächst einmal generiert werden müssen, um dann wirksame Maßnahmen durch die jeweilige Fachexpertise anzustoßen. Das wiederum setzt quasi Digitalkompetenz voraus, weil derart große Datenmengen nur mit neuen Technologien ausgewertet werden können. Darüber hinaus werden interdisziplinäres Denken und Arbeiten aus unserer Sicht genauso an Bedeutung gewinnen wie die Themen Ethik und Integrität.
 

Welche Antworten haben die Ausbildungsinstitute und Universitäten, um dem Arbeitsmarkt verstärkt die gesuchten Kompetenzen zur Verfügung zu stellen?

Wir sehen beispielsweise, dass ESG in immer mehr Studiengänge einfließt. Nachhaltigkeit als Präfix finden Sie heute vor Management-, Marketing-, Design-, Bau-, Mobilitäts- oder Tourismus-Studiengängen. Weiterhin ist bereits zu erkennen, dass sich die ESG-Themen sozusagen in die verschiedenen Funktionsbereiche von Organisationen differenzieren. Das sehen wir im gleichen Ausmaß auch bei Ausbildungsberufen. Es entsteht gerade eine extreme Vielfalt, die vermutlich noch weiter zunehmen wird, sodass sich Absolventen irgendwann vielleicht gar nicht mehr fragen müssen, ob sie eine ESG-Karriere anstreben, sondern vielmehr in welchen Fachbereichen sie ihre Nachhaltigkeitsexpertise aufbauen wollen.

Cathrin Eireiner ist Professorin für Personalmanagement an der Hochschule Pforzheim. Sie lehrt in den Studiengängen BWL/ Personalmanagement (B.Sc.) und Master of Human Resources Management (M.Sc.). Sie ist stellvertretende Leiterin des Instituts für Personalforschung und ist Mitglied im Human Resources Competence Center der Hochschule Pforzheim (HRCC), in dem die Aktivitäten der Lehre und Forschung auf den Gebieten des Personalmanagements zusammengefasst sind.
Cathrin Eireiner ist Professorin für Personalmanagement an der Hochschule Pforzheim. Sie lehrt in den Studiengängen BWL/ Personalmanagement (B.Sc.) und Master of Human Resources Management (M.Sc.). Sie ist stellvertretende Leiterin des Instituts für Perso
Illustration : Chiara Lanzieri
Illustration : Chiara Lanzieri

Heißt das für die Vertreter:innen der jungen, nachrückenden Generation, dass sie sich auch weiterhin das Berufsfeld anschauen können, das sie ohnehin interessiert, und Nachhaltigkeits- genauso wie Digitalkompetenz quasi begleitend vermittelt werden?

Ja, das trifft es ganz gut. Wobei es natürlich auch weiterhin die Studiengänge geben wird, die Ressourcenschutz und Klimawandel zu ihrem Kern machen. Aber wie sie richtig sagen: Da alle anderen Wirtschaftszweige zunehmend durch Nachhaltigkeitsanforderungen geprägt werden, wird sich das analog in der Ausbildung auf allen Ebenen widerspiegeln. Oder anders formuliert: Nicht jeder wird ein Data Scientist, also ein absoluter Spezialist, dennoch brauchen wir alle einen gewissen Grad an Digitalkompetenz im Berufsleben. Und ich bin davon überzeugt, dass es sich mit dem Thema Nachhaltigkeit ähnlich verhalten wird. Beispiele sind sicherlich unsere HR-Studiengänge hier in Pforzheim, wo Nachhaltigkeit bereits eine große Rolle spielt – nicht zuletzt, weil wir zum Thema forschen.
 

Ist auch eine nachträgliche Spezialisierung denkbar, wenn ich entdecke, dass mich die Nachhaltigkeit in einem bestimmten Bereich doch stärker interessiert?

Absolut. Ich denke, dass wir in Zukunft viel öfter Kombinationen aus einem Bachelor-Abschluss in einem Funktionsstudiengang sehen werden – also Personalmanagement, Logistik, Marketing – und der Master im Anschluss dann mit einem Fokus auf Nachhaltigkeit folgt. Genauso, wie sich Menschen aus eher grundständigen Berufsbildern entscheiden, das Thema Digitalisierung obendrauf zu setzen.
 

Brauche ich für eine Karriere im ESG-Umfeld auch bestimmte Charaktereigenschaften?

Die jeweiligen Charaktereigenschaften bestimmen vielmehr, welche Richtung ein Karrierepfad in dem sich ausdifferenzierenden Feld ESG nimmt. Unternehmen brauchen die Vielfalt – sowohl im Hinblick auf fachliche als auch auf persönliche Kompetenzen. Allen gemeinsam werden im ESG-Umfeld Kompetenzen wie Kooperationsfähigkeit und systemisches Denken abgefordert. Wir sehen auch, dass Kompetenzen ihre Bedeutung im Zuge von ESG verändern: Vor der strengeren Regulatorik wurden Nachhaltigkeitsberichte beispielsweise von Kommunikationsexperten verfasst mit deutlich mehr Prosa, da Berichte das Werbeziel hatten, ein möglichst positive Bild nach außen im Sinne von Employer Branding zu vermitteln. Mittlerweile bedarf es stärker Datenverarbeitungskompetenz, die sich im Controlling oder Rechnungswesen findet. Die „Kreativen“ braucht man heute deutlich weniger für das Erstellen der ESG-Reportings, dafür in der Umsetzung entsprechender Maßnahmen.
 

Müssen wir in dem Kontext auch noch einmal über die Definition von Nachhaltigkeit sprechen? Am Ende des Tages meinen wir damit ja immer viele verschiedene Ebenen.

Das ist ein wichtiger Punkt. Auch hier ziehe ich gerne ein Beispiel aus dem Personalwesen heran, wo oftmals schon von „Nachhaltigkeit“ gesprochen wird, wenn es gelingt, die Belegschaft ans Unternehmen zu binden. Mit Blick auf die Definition gilt es für Absolventen wieder, sich zu entscheiden: Möchte ich mich inhaltlich eher mit den ethischen Aspekten der Nachhaltigkeit auseinandersetzen und mich beispielsweise auf Wertediskussionen spezialisieren oder bin ich vielleicht eher ein analytischer Typ, der im Fondsmanagement, in der Regulatorik oder der Compliance gut aufgehoben ist. Womit wir wieder beim Punkt wären: Nachhaltigkeit in die Unternehmen zu bringen, ist eine crossfunktionale Aufgabe.
 

Wie wir als Gesellschaft Nachhaltigkeit definieren, wandelt sich permanent. Sind Weiterbildungen daher auch eine Chance, die eigene Karriere noch einmal in Richtung ESG zu drehen?

Vor allem verändern sich die Erwartungen an die Unternehmen in puncto Nachhaltigkeit. Und hier sehe ich durchaus eine Chance, sich über Fort- und Weiterbildungen zu positionieren. Stichworte sind hier sicherlich begleitendes Lernen sowie der Austausch in Verbänden und Gremien. Ich glaube, dass es neben einem Grundverständnis für Nachhaltigkeit durchaus die Bereitschaft braucht, sich immer wieder neues Wissen und die neuen Future-Skills anzueignen.
 

Erfordert die stärkere Integration von Nachhaltigkeit andere Führungskompetenzen?

Auch hier ist die Frage wieder, welche Aspekte stehen im Fokus? Nutzen Organisationen die ESG-Anforderungen für eine wertebasierte Ausrichtung, sprechen wir über einen Wandel der Unternehmenskultur und es braucht organisationsweit Führungskräfte, die hier als Vorbilder vorangehen? Sprechen wir über die Führungsanforderungen von ESG-Verantwortlichen in Organisationen, lassen sich diese am besten mit dem Konzept der lateralen Führung, also Führung ohne Weisung und Vorgesetztenfunktion, beschreiben. Wenn wir über Nachhaltigkeit sprechen, geht es vor allem darum, die Organisation und ihre Mitarbeiter mitzunehmen und im besten Fall Nachhaltigkeit als Unternehmenswert zu verankern.
 

Glauben Sie, dass wir in den kommenden Jahren noch ganz neue Berufsbilder sehen werden?

Da bin ich mir sicher, weil einfach sehr viele Fragen heute noch nicht abschließend geklärt sind. Und damit meine ich gar nicht die großen philosophischen Fragen, sondern pragmatische wie: Wer auditiert eigentlich die ganzen Nachhaltigkeitsberichte, die heute Pflicht sind? Aus meiner Sicht entsteht hier kurzfristig ein großes Arbeitsfeld – eines, das die Anforderungen an und Kompetenzen von Wirtschaftsprüfern grundlegend verändern wird. Und am Ende des Tages muss es auch Experten geben, die es schaffen, die vielen verschiedenen Wissensdisziplinen zusammenzubringen und zu orchestrieren. Auch wir in den Aus- und Weiterbildungsinstituten brauchen mit den neuen Anforderungen in Zukunft vermutlich ebenso neue Kompetenzen. 

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