»ES GILT, DIE SELBSTBESTIMMUNG ZU BEWAHREN«

Immer mehr ältere Menschen kümmern sich bereits frühzeitig um einen Platz in der Seniorenresidenz, im Alters- oder im Pflegeheim. Sie wollen damit ihre Angehörigen entlasten, aber auch ein Haus aussuchen, das zu ihnen passt.
Illustrationen: Sylvia Bespaluk by Marsha Heyer Illustratoren
Interview: Mirko Heinemann Redaktion

Worauf sollte man bei der Suche achten – für sich oder für Angehörige? Die Pflegeexpertin Christel Bienstein erläutert die wichtigen Aspekte rund um die Pflege.

 

Frau Bienstein, wie lange kann und sollte man zu Hause wohnen bleiben?
Möglichst lange. Zum einen wünscht sich allen Umfragen zufolge fast niemand aus der Bevölkerung, in ein Alters- oder Pflegeheim zu ziehen. Zum anderen sind die Heime derzeit völlig ausgebucht. Abgesehen von hochpreisigen Luxusresidenzen haben Menschen, die noch selbstständig sind und allein leben können, kaum eine Chance auf einen Platz. Die Pflegeheime etwa nehmen derzeit nur noch Menschen auf, die mindestens den Pflegegrad 2 vorweisen können. Da muss man also schon schwerste Beeinträchtigungen haben. Die meisten Bewohner, die aufgenommen werden, verfügen über Pflegegrad 3 und höher.

 

Welche Beeinträchtigungen haben sie in der Regel?
Zunehmend sehen wir den Trend, dass Bewohner einziehen, die stark bewegungseingeschränkt sind oder starke kognitive Beeinträchtigungen haben. Und zwar so stark, dass sie von ambulanten Pflegediensten nicht mehr angemessen versorgt werden können. 1,7 Millionen Menschen werden sogar derzeit zu Hause von ihren Angehörigen versorgt, völlig ohne externen Pflegedienst. Wenn sich die Situation zuspitzt, so dass eine Rundum-Versorgung erforderlich wird, dann ist das der Punkt, am dem sich eine Familie entscheidet, das Pflegeheim aufzusuchen.

 

Können digitale Assistenzsysteme Menschen dabei unterstützen, länger zu Hause zu wohnen?
Es gibt heute digitale Möglichkeiten, die Angehörige dabei unterstützen können, rascher Kontakt aufzunehmen, auch aus der Ferne. Es gibt Bewegungsmelder, die aufzeichnen, ob sich jemand ausreichend bewegt und elektronische Türöffner, die die Mobilität erleichtern, etwa, um schneller zur Toilette zu kommen. Man kann aber nicht sagen, dass wir in Deutschland schon über Lösungen verfügen, die es ermöglichen, dass Menschen länger zu Hause bleiben. Videoüberwachungssysteme ziehen datenschutzrechtliche Probleme nach sich. Auch die Robotik ist noch nicht ausgereift.


Wie managt man als Angehöriger eine Betreuung durch ambulante Pflegedienste?
Es gibt in ganz Deutschland so genannte Pflegestützpunkte oder Pflegeberatungsstellen. Sie sind häufig im Rathaus oder bei den Pflegekassen angesiedelt. Dort bekommt man Informationen, wie und zu welchen Konditionen man einen ambulanten Pflegedienst einsetzen kann und unter welchen Gesichtspunkten man Pflegedienste anschauen sollte.

 

Welches sind die wichtigsten Aspekte?
Der wichtigste Punkt: Passt der Pflegedienst zu den Beeinträchtigungen der zu betreuenden Person? Liegen neurologische Erkrankungen vor, etwa ein Schlaganfall, sollte man schauen, ob der Pflegedienst in dieser Hinsicht geschultes Personal hat. Bei onkologischen Problemen: Hat der Pflegedienst Erfahrungen mit an Krebs Erkrankten gesammelt? Beinahe ebenso wichtig ist der Faktor Verlässlichkeit. Kommt immer dieselbe Person nach Hause oder zumindest ein fester Kreis aus denselben Personen? Gibt es einen festen Zeitpunkt oder zumindest ein regelmäßiges Zeitfenster, auf das sich der zu Pflegende verlassen kann? Gibt es genügend qualifiziertes Personal, werden Weiterbildungen durchgeführt? Werden die Expertenstandards des Deutschen Netzwerks für Qualitätsentwicklung in der Pflege umgesetzt?

 

Unter welchen Konditionen darf man Pflegekräfte aus dem Ausland anstellen?
Es gilt der Grundsatz: Jeder hat das Recht, seine Betreuung selbst zu wählen. Wichtig bei einer Einstellung ist, dass die Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt werden und von den deutschen Arbeitsschutzgesetzen profitieren. Die Angehörigen müssen diese Person am Wochenende dann eben auch mal ablösen und sicherstellen, dass sie in den Nächten nicht allein verantwortlich ist. Klar ist: Wir werden diese Art von Betreuung nicht durch heimische, ausgebildete Pflegekräfte ersetzen können. Vielfach geht es hier auch nicht um Fachkompetenz, sondern eher um Assistenz bei den Alltagsbedürfnissen: der Person auf die Toilette helfen, ihr den Haushalt organisieren, einkaufen. Das machen pflegende Angehörige ja auch. Viele kombinieren das auch: einen geschulten Pflegedienst mit einer Haushaltshilfe.


Worauf muss man bei der Suche nach einer passenden Seniorenresidenz, einem Alten- oder Pflegeheim achten?
Man sollte schauen, dass man sich ein möglichst großes Maß an Selbstbestimmung bewahren kann. Bekomme ich ein Einzelzimmer, kann ich eigene Möbel mitbringen? Wie ist die Personalausstattung im Heim? Wird etwas mit dem Bewohnern unternommen, gibt es Außenkontakte, oder sitzt man viel herum? Werden Freizeitaktivitäten unternommen, die meinen Interessen entsprechen? Zudem sollte man unbedingt darauf achten, ob die Bewohner gefordert werden, in Bewegung zu bleiben. Sobald man nur noch herumsitzt, ist der Weg in die Bettlägerigkeit vorgezeichnet.

 

Gibt es konzeptuelle Unterschiede bei Alters- oder Pflegeheimen?
Die finanziellen Bedingungen sind ja für alle gleich. Dennoch gibt es erstaunlicherweise Arbeitgeber, die es schaffen, ihre Mitarbeiter zu motivieren und die Versorgung der Bewohner besser zu gestalten. Das hat viel mit dem Engagement der Träger zu tun. Sie legen Wert darauf, dass die Bewohner autonom bleiben und mitbestimmen können. Sie bieten Aktivitäten an, besonders im Bereich Bewegung. 

 

Man hört immer wieder von katastrophalen Zuständen in der Pflege. Sind das Ausnahmefälle, oder ist die Situation in der Pflege wirklich so schlimm?
Fakt ist: Wir haben zu wenig Pflegende. Und zwar vor allem deshalb, weil zu viele in Teilzeit arbeiten. 70 Prozent der in der Pflege Beschäftigten in stationären und ambulanten Einrichtungen arbeiten in Teilzeit, 50 Prozent in den Kliniken. Das liegt weit über dem Durchschnitt aller Berufe, und das hat viel mit der Arbeitssituation zu tun. Aber die Qualifikation der Pflegenden hat sich in den vergangenen Jahren stark verbessert. Mit dem neuen Pflegeberufegesetz, das im kommenden Jahr in Kraft treten wird, wird sich dieser Aspekt noch einmal sprunghaft verbessern.

 

Wie ist die aktuelle Arbeitssituation in der Pflege?
Der Pflegeberuf ist ein sicherer und eigentlich sehr attraktiver Beruf – wenn man darin umsetzen kann, was man gelernt hat. In der Praxis müssen heute in einem Altenheim zwei Pflegefachpersonen an einem Vormittag 28 Personen versorgen, also 14 pro Person. Früher waren das oft noch geistig und körperlich fitte Menschen, heute hat man oft mit schweren Krankheitsverläufen zu tun. In dieser Zeit mehr als die reine Grundversorgungsleistung zu erbringen, ist einfach nicht möglich. Das wiederum führt dazu, dass der Beruf nicht sonderlich attraktiv ist.

 

Wird sich dies mit der „konzertierten Aktion Pflege“ des Bundesgesundheitsministeriums ändern?
Das Gesundheitsministerium sagt zu, dass sich personell ein deutlicher Veränderungsprozess abzeichnen soll. So soll unter anderem bis zum Jahr 2023 die Zahl der Auszubildenden in der Pflege um zehn Prozent steigen. Ich glaube, wenn wir die angepeilte personelle Aufstockung umsetzen können, wird sich automatisch auch die Stimmung in den Pflegeheimen und den Pflegediensten verbessern – und damit auch die Gesamtsituation in der Pflege.

 

 

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