Erfolgsmodell Europa

Deutsche Mittelständler streben zunehmend ins Ausland. Sie eröffnen Tochtergesellschaften, Joint Ventures oder arbeiten eng mit Unternehmen vor Ort zusammen. Doch der Wind weht Offshore zunehmend schärfer.
Erfolgsmodell  Europa
Illustration: Nicole Pfeiffer
Klaus Lüber Redaktion

Das mittelständische Unternehmen Dürr Dental AG mit Firmensitz in Bietigheim-Bissingen, einer Kleinstadt 20 Kilometer nördlich von Stuttgart, ist Spezialist im Bereich Dentaltechnik. Das Traditionsunternehmen, das 2016 sein 75-jähriges Jubiläum feierte, war einer der ersten Anbieter von Absauganlagen, die es überhaupt erst ermöglichen, Zahnpatienten im Liegen zu behandeln. Inzwischen werden seine Produkte aus den Bereichen Equipment, diagnostische Systeme und Hygiene in Arztpraxen auf der ganzen Welt eingesetzt. 80 Prozent seines Umsatzes macht Dürr im Ausland, ist in über 40 Ländern der Erde mit eigenem Personal vertreten und unterhält Geschäftsbeziehungen zu 125 Staaten. In den USA betreibt das Unternehmen eine eigene Tochtergesellschaft namens Air Techniques Inc.

Damit ist die Dürr Dental AG ein Beispiel dafür, wie sich viele Ökonomen die ideale Entwicklung des deutschen Mittelstandes unter den Bedingungen der Globalisierung vorstellen. Zu den wichtigsten Kennzeichen der Wirtschaft hierzulande zählt nach Expertenmeinung die herausragende Rolle im Welthandel einerseits und die starke Stellung mittelständischer Unternehmen andererseits. Die Exportstärke garantiert Deutschland globale Präsenz, die KMU hochwertige Produkte. Ideal wäre es nun, beide Aspekte zu kombinieren – und zwar, indem sich mittelständische Unternehmen mit weltweit geschätzten Produkten immer stärker internationalisierten.

Internationaler Mittelstand – wirklich?
 
Gleichzeitig klingt diese Forderung auf den ersten Blick natürlich etwas merkwürdig. Ist nicht die deutsche Wirtschaft weltweite Spitze im Export von Waren? Ist sie nicht schon seit Jahren voll und ganz auf Internationalisierung ausgerichtet, mit einem im weltweiten Vergleich extrem hohen Anteil der Ausfuhr von Waren und Diensten am Bruttoinlandsprodukt? Dieser lag im Jahr 2016 bei 46 Prozent, in Frankreich, Italien und Spanien lediglich bei rund 30 Prozent. Internationaler als die deutsche Wirtschaft, so möchte man denken, kann sich eine Volkswirtschaft doch kaum aufstellen.

Das mag einerseits stimmen, andererseits sagt es noch nichts aus über die Rolle des Mittelstands in dieser Erfolgsgeschichte. Laut der Studie „Diagnose Mittelstand 2016“ des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands entfielen 2013 nämlich lediglich 18 Prozent der Umsätze im Ausland auf mittelständische Unternehmen, 82 Prozent entfallen auf Großunternehmen. Hinzu kommt, dass immer noch viele Mittelständler sich mit der sogenannten ersten Phase der Internationalisierung, der Aus- und Einfuhr von Waren und Dienstleistungen, begnügen und nur wenige den Schritt in Phase zwei wagen: der Tätigung von Direktinvestitionen. Nach Zahlen des Instituts für Mittelstandsforschung (IfM) betreiben aktuell 11 Prozent aller KMU Service- und/oder Vertriebsstätten, lediglich zwei Prozent haben in eigene Produktionsstätten investiert.

Und auch noch ein dritter Aspekt ist interessant, wie ihn zum Beispiel die Studie „Mittelstand im globalen Wettbewerb“ der Friedrich Ebert Stiftung von 2014 oder aktuell die Studie „Die größten Familienunternehmen in Deutschland“ des IfM betont: Die für den deutschen Mittelstand mit Abstand wichtigste Region für Handel und Investitionen ist die Europäische Union, während zum Beispiel die wachstumsstarken Märkte in den Schwellenländern noch vergleichsweise selten im Fokus sind.

All diese Zahlen scheinen einen schon seit längerem gegenüber dem deutschen Mittelstand geäußerten Vorwurf zu bestätigen: Deutsche KMU würden sich zu passiv verhalten, vor einem direkten Engagement vor Ort zurückschrecken und lediglich auf den Export ihrer Produkte setzen – und dies noch dazu stark eurozentriert. Mit Export allein, so schreiben die beiden Herausgeber Rüdiger Kabst und Joachim Gutmann in der bereits im Jahr 2000 erschienen Veröffentlichung „Internationalisierung im Mittelstand“, sind die hochgesteckten Ziele der Internationalisierung nicht zu erreichen. „Im Internationalisierungsmix sollten neben dem Export unbedingt auch Kooperationen enthalten sein: formlos oder geregelt über Liefer-, Produktions-, Vertriebs-, Know-how-, Lizenz-, Gegengeschäfts- oder Systemverträge, ohne Kapitalbeteiligung oder als eigenständiges Joint Venture, mit einem einzigen Partner oder als Netzwerk.“

USA-Geschäft: mehrfach gescheitert

Das klingt in der Theorie gut, ist in der Praxis aber immer noch otmals eine heikle Sache. Davon weiß zum Beispiel Simon Kissel zu berichten. Kissel ist CEO der Viprinet Europe GmbH, einem mittelständischen IT-Unternehmen aus Bingen am Rhein in der Nähe von Mainz. „Wir haben in den vergangenen sechs Jahren dreimal versucht, eine Niederlassung in den USA aufzubauen. Davon sind wir zweimal richtig kräftig auf die Nase gefallen.“

Ein erster Versuch im Jahr 2010 scheiterte am amerikanischen Partner, der Geld veruntreute, um im Chaos der Immobilienkrise sein Eigenheim zu retten. Ein zweiter Versuch wurde 2014 unternommen. Ein vertrauter Geschäftsmann aus Dänemark wurde in die USA geschickt, um dort mit gut einer Million Euro eine Dependance im Silicon Valley aufzubauen. Auch dieser Versuch scheiterte, diesmal an kulturellen Differenzen. „Wie wir schmerzlich erfahren mussten, unterscheidet sich die amerikanische Art, Geschäfte zu machen, fundamental von der europäischen und speziell der deutschen“, so Kissel. „Für Amerikaner ist Networking und der persönliche Kontakt alles, erst danach kommt das Produkt. Für die vergleichsweise unterkühlten und hemdsärmeligen Europäer ist es eigentlich umgekehrt.“ Erst der dritte Anlauf 2015 war schließlich ein Erfolg. Diesmal wurde ein Team aus einer US-Amerikanerin und einem in Kanada lebendem Briten gebildet. „Die beiden sind in der Lage, sowohl die deutsche Kultur und deren geschäftliche Anforderungen zu verstehen, als auch eine Brücke zu schlagen in die US-Geschäftskultur.“

Trotz aller Mühen sieht Kissel keine Alternative zum direkten Markteinstieg, speziell in seiner Branche. „Wer als deutsches mittelständisches IT-Unternehmen erfolgreich sein will, kommt an einer Präsenz auf dem amerikanischen Markt nicht vorbei.“ Dies sei den aktuellen Mechanismen des Marktes geschuldet. „US-Firmen haben eine Unmenge an Kapital zur Verfügung, das sie hemmungslos verbrennen, um möglichst schnell den Markt zu dominieren.“ Wer von diesen gigantischen Marketingbudgets nicht überrollt werden wolle, müsse vor Ort Präsenz zeigen. „Man muss sich sichtbar machen, Networking betreiben. Das ist der einzige Weg, um überhaupt wahrgenommen zu werden.“

China: Neuer Protektionismus

Aber abgesehen von der IT-Branche mit ihren sehr speziellen Spielregeln – was lässt sich darüber hinaus zu den aktuellen Herausforderungen deutscher KMU im Prozess der Internationalisierung sagen? Wenn man den Berichten rund um das letzte G20 treffen Anfang September dieses Jahres folgt, muss man befürchten, dass diese eher noch größer werden. Die Welthandelsorganisation warnt vor einem neuen weltweiten Trend zum Protektionismus. Von China, dem aktuell fünftwichtigsten Handelspartner deutscher Unternehmen, wird beispielsweise berichtet, dass es verstärkt Maßnahmen ergreift, die eigene Wirtschaft zu fördern und damit die Bedingungen für ausländische Investitionen zu verschlechtern. „China will eigene Produkte fördern und ausländische aus dem Markt drängen“, zitiert die Süddeutsche Zeitung in einem aktuellen Bericht den Programmleiter Wirtschaft und Technologie beim Berliner Mercartor Institute for China Studies, Jost Wübbeke. Weltweit, so die WTO, seien derzeit knapp 1.200 Handelsbeschränkungen in Kraft. Im Visier sind vor allem die klassischen Industriebranchen: Eisen, Stahl, Maschinenbau, Elektrotechnik und Auto, auf die zusammen rund zwei Drittel der Maßnahmen entfällt, schreibt der Spiegel.

Noch ist unklar, wie ernst dieser Trend zu nehmen ist und welche Auswirkungen er auf die Internationalisierungsbestrebungen des deutschen Mittelstandes tatsächlich hat. Eines zumindest lässt sich erkennen: Bei den Unternehmen herrscht zumindest aktuell eine gewisse Unsicherheit. Erst kürzlich befragte das IfM große Familienunternehmen mit mehr als 50 Millionen Euro Umsatz danach, wie sie ihre zukünftige Wirtschaftslage einschätzen. Demnach blicken Unternehmen, die vor allem auf dem heimischen Markt aktiv sind, positiver in die Zukunft als exportorientierte Unternehmen. „Die Unternehmen sehen sich gegenwärtig, bedingt durch verschiedene wirtschaftliche und politische Unsicherheiten, mit einer zunehmenden Planungsunsicherheit konfrontiert“, fasst es Michael Holz, Internationalisierungsexperte beim IfM Bonn, zusammen. „Dabei wirken sich nicht nur die Unwägbarkeiten im Hinblick auf den anstehenden Brexit, sondern auch die Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland und die nachlassende wirtschaftliche Dynamik in China verunsichernd aus.“

Allerdings darf zumindest bezweifelt werden, dass sich diese aktuellen Unsicherheiten auch langfristig durchsetzen und tatsächlich die Kraft haben, die ökonomischen Effekte der Globalisierung umzukehren. Die Dürr Dental AG jedenfalls zeigt sich überaus optimistisch. Am stärksten wachsen will sie in Asien und Südamerika.

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