Im OP-Saal geht es um höchste Ansprüche. Das Operationsbesteck wie Skalpelle, Klemmen oder Scheren unterliegt strengen Kriterien, was Materialgüte, mechanische Beständigkeit und Oberflächenfunktionalität angeht. Und Implantate müssen beispielsweise biokompatibel sein, gleichzeitig extrem stabil und korrosionsbeständig. Als neue Material-Talente gelten amorphe (in ihrer Atomstruktur ungeordnete) Metalle: Sie sind zehnmal elastischer als vergleichbare kristalline Werkstoffe, aber doppelt so stabil wie Stahl und noch dazu biokompatibel. Amorphe Metalle definieren die Materialgrenzen neu – und das initiiert Innovationen in weiteren Hightech-Branchen: von der Luft- und Raumfahrtindustrie über Mobilitäts- bis hin zu Elektronikanwendungen.
Was amorphe Metalle so einmalig macht: Sie vereinen Eigenschaften, die sich bisher gegenseitig ausschlossen. Das Geheimnis liegt in ihrer ungeordneten, inneren Struktur. „Amorphe Metalle heißen auch metallische Gläser und sind eingefrorene metallische Schmelzen“, erklärt Jürgen Wachter, Leiter Geschäftseinheit Heraeus Amloy. „Um amorphe Metallprodukte herzustellen, benötigt man mittlerweile nicht mehr extrem hohe Abkühlraten von 1.000.000 Kelvin pro Sekunde, um die Schmelze schockzufrosten. Dank Materialoptimierung kommen wir mit Abkühl-raten von etwa 100 Kelvin pro Sekunde aus.« Dadurch haben die einzelnen Atome keine Gelegenheit, ein geordnetes Metallgitter zu bilden wie es für einen kristallinen Zustand typisch ist. Doch obwohl in metallischen Gläsern ein atomares Chaos vorliegt, sind sie keineswegs fragil – ganz im Gegenteil. Dank ihrer speziellen Struktur besitzen sie ein einzigartiges Eigenschaftsprofil: Amorphe Metalle sind einerseits äußerst stabil, korrosions- und verschleißbeständig und andererseits hochelastisch. Zudem können sie mechanische Energie hervorragend speichern und wieder abgeben. Aufgrund ihres glasartigen Zustands lassen sich die metallenen Flüssigkeiten sogar thermoplastisch verformen, genau wie amorphe Kunststoffe. Das breite Eigenschaftsspektrum macht sie zu Kandidaten für diverse Hightech-Anwendungen: verschleißfeste Zahnräder und Antriebskomponenten, stabile Federungen, Membranen für Sensoren, Gehäuse für Lifestyleprodukte und Unterhaltungselektronik, Lautsprecherkalotten, abriebfeste Uhr-werksbauteile oder auch medizinische Instrumente und Implantate.
Bereit für die Serienproduktion
Um fertige Bauteile wie Skalpelle oder Zangen am Fließband herstellen zu können, hat der Hanauer Technologiekonzern Heraeus 2017 die Geschäftseinheit Amloy (Amorphous Alloy Technologies) gegründet. Im Fokus stehen die Forschung und Entwicklung von amorphen Metallen. Das Unternehmen ist spezialisiert auf die Herstellung und Verarbeitung dieser besonderen Werkstoffe und weltweit der einzige Anbieter, der sie umfassend verarbeiten kann: neben spritzgießen auch schmelzen, verformen und additiv fertigen. „Unsere jüngste Entwicklung basiert auf amorphen Legierungen aus Zirkonium oder Kupfer“, sagt Valeska Melde, Marketing & Sales Manager Heraeus Amloy. „Wir fertigen sie direkt einsatzbereit und optimiert für den Spritzguss.“ Mit diesem Verfahren erschließen sich die metallischen Gläser nun die Großserienproduktion – und damit ein breites industrielles Anwendungsspektrum.
Prozesse auf Effizienz trimmen
Beim Spritzgießen werden die Legierungen induktiv aufgeschmolzen und im flüssigen Zustand in eine Form eingespritzt, wo sie amorph erstarren. Die Heraeus-Experten haben die Materialkomposition angepasst und den Fertigungsprozess gemeinsam mit ihrem Maschinenpartner Engel Austria vollautomatisiert. Dadurch verkürzt sich ein Produktionsdurchlauf im Vergleich zu bisherigen Lösungen um bis zu 70 Prozent – und benötigt 60 Prozent weniger Heizleis- tung. Dadurch konnte Heraeus Amloy das Spritzgießen deutlich kosteneffizienter machen. Millimetergenau produzierte Operationswerkzeuge, die den Chirurgen für minimalinvasive Eingriffe ein präzises Arbeiten ermöglichen, lassen sich nun in nur einem Produktionsschritt herstellen – ganz ohne Nachbearbeitung. Das spart Zeit und Kosten. Und bereits vor dem Spritzguss arbeitet Heraeus an mehr Effizienz: Beispielsweise simulieren die Werkstoff-Experten das Fließverhalten der amorphen Metalle und analysieren, ob sich das Fertigungsverfahren für das spezifische Bauteil eignet und welche Optimierungen am Design machbar sind. „In unserem Technikum stehen wir in engem Austausch mit unseren Kunden. Hier optimieren wir gemeinsam jede Bestellung, bieten Simulationen an und erstellen Prototypen“, erklärt Valeska Melde.
Die passende Mischung für jede Herausforderung
Legierungen auf Platinbasis sind zum Beispiel für die Schmuckindus-trie interessant, weil reines Platin sehr weich ist. Der amorphe Zustand erhöht die Kratzfestigkeit des Materials.
Als Standard-Lösung haben sich bei Heraeus zirkoniumbasierte Legierungen etabliert. Diese weisen ein gutes Fließverhalten auf und lassen sich kalt walzen. Kupferbasierte Legierungen eignen sich für sehr dünne Bauteile, da sie eine niedrigere Viskosität besitzen. „Hochreine, amorphe Pulver auf Zirkonium- oder Kupferbasis sind speziell für die Additive Fertigung optimiert“, erklärt Jürgen Wachter. »Selbst herkömmliche 3D-Drucker können diese verarbeiten.“ Gerade um größere Bauteile oder komplexe Geometrien zu erzeugen, bietet die Additive Fertigung neue Möglichkeiten – zum Beispiel individualisierte Implantate, die zu weniger Komplikationen im Heilungsprozess führen. „Die Talente von amorphen Metallen bergen noch viele Chancen auf Innovationen in sich“, sagt Wachter. „Wir arbeiten jeden Tag daran, die Stärken des Materials für viele verschiedene Anwendungsfelder zu nutzen – nicht nur im OP-Alltag.“