Follow the money, heißt es oft in Fachkreisen, um die Trends der kommenden Jahre zu identifizieren. Denn wo Kapitalgeber gerade in frühen Unternehmensphasen investieren, steckt in der Regel auch Potenzial. Wer dieser Tage dem Geld folgt, landet zwangsläufig bei der Künstlichen Intelligenz. Die auf Finanzierungen spezialisierte Website Pitch Book rechnet vor, dass Risikokapitalgeber alleine im dritten Quartal dieses Jahres 3,9 Milliarden US-Dollar an KI-Start-ups weltweit verteilt haben. Dazu kommt der „Super-Deal“ in Höhe von 6,6 Milliarden US-Dollar, den der amerikanischen KI-Vorreiter OpenAI für sich verbuchen konnte.
Allerdings floss der größte Anteil der 3,9 Milliarden, nämlich 2,9 Milliarden US-Dollar, an Start-ups aus den Vereinigten Staaten. Dass die USA auch in puncto KI die Nase vorn haben, soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich auch in Deutschland eine sehr lebhafte KI-Startup-Szene entwickelt, die mit Berlin eindeutig eine Hauptstadt, jedoch kein ausschließliches Zentrum gefunden hat. Im Gegenteil, wie die KI-Startup-Landschaft 2024 des AppliedAI Institute for Europe eindrucksvoll zeigt: Hierzulande dürfen wir mittlerweile auf 687 KI-Gründungen stolz sein. Das sind ganze 35 Prozent mehr als im Vorjahr. Berlin hat mit 208 Start-ups die Nase vorn, aber auch München mit 136 KI-Neugründungen oder Hamburg mit 65 Start-ups entwickeln sich zu Hotspots.
DER FOKUS LIEGT AUF B2B
Und unter einigen dieser Neugründungen verbergen sich sogar schon Einhörner, wie Startups mit Bewertungen über eine Milliarde Dollar oder Euro gerne bezeichnet werden. Bereits vor rund einem Jahr hat das in München ansässige Defense-Tech Helsing den Unicorn-Status erreicht, und Mitte dieses Jahres kamen in einer Serie-C-Finanzierungsrunde dann noch einmal 450 Millionen an Investorengeldern dazu. Damit ist Helsing mittlerweile nicht nur knapp fünf Milliarden Euro wert, sondern auch das wertvollste europäische Start-up im Verteidigungssektor. Kein Wunder also, dass sich mit General Catalyst, Lightspeed und Accel auch US-Investoren an der
letzten Kapitalrunde beteiligt haben. Dass diese Art Erfolge in der Öffentlichkeit weniger deutlich wahrgenommen werden als beispielsweise die Anwendungen von OpenAI, liegt auch daran, dass deutsche KI-Start-ups zu 95 Prozent im B2B-Sektor aktiv sind, erklärt die Geschäftsführerin des AppliedAI Institute for Europe, Frauke Goll. Eben so wie Helsing. Bei der Diskussion um generative KI, wie sie beispielsweise bei ChatGPT zum Einsatz kommt, solle man nicht vergessen, dass es sich bei KI um sehr vielfältige Anwendungen und Lösungen handle, so Goll.
VIELE START-UPS MIT FOKUS INDUSTRIE
Diese Einschätzung unterstreichen auch die Zahlen der deutschen KI-Startup-Landschaft 2024 noch einmal. Demnach haben sich besonders viele junge deutsche KI-Unternehmen auf industrieübergreifende Lösungen, auf das Gesundheits- und Sozialwesen, auf verarbeitendes Gewerbe sowie Transport, Mobilität und Lagerung fokussiert. Im Vergleich zum letzten Jahr sei außerdem erwähnenswert, dass es einen Anstieg von KI-Start-ups gab, die sich auf branchenübergreifende und verarbeitende Tätigkeiten konzentrieren. Diese Verlagerung hin zu breiteren Anwendungen der KI-Technologie deute auf einen höheren Reifegrad von KI-Lösungen hin und zeige, dass die Startups zunehmend in der Lage sind, komplexe, reale Probleme in verschiedenen Branchen zu lösen, heißt es in dem Report.
KI-START-UPS ZEIGEN RESILIENZ
Und es gibt noch ein positives Signal für eine glorreiche KI-Zukunft im Land: Es fehlen lediglich 41 Start-ups aus dem letzten Jahr auf der aktuellen Liste, und davon wurden auch nur vier liquidiert. Der Rest ist entweder ins Ausland abgewandert oder wurde aufgekauft. Für Philip Hutchinson, Senior AI Strategist beim AppliedAI Institute for Europe, ist das ein klares Zeichen dafür, dass „die Überlebensrate deutscher KI-Start-ups extrem hoch“ ist.
Dass relativ viele Start-ups ins Nicht-EU-Ausland abwandern, könnte etwas damit zu tun haben, dass andere Regionen der Welt für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz zumindest aus regulatorischer Sicht etwas freundlicher sind. Seit August gilt der sogenannte EU AI Act, der erstmals einheitliche, horizontale Anforderungen an KI-Anwendungen festlegt und damit einen klaren rechtlichen Rahmen schafft. Vereinfacht ausgedrückt, teilt das Gesetz KI-Anwendungen in Risikoklassen, die jeweils spezifischen regulatorischen Maßnahmen unterliegen. Die Einstufung geht von „minimal“ bis „inakzeptabel“, wobei letztere Anwendungen in der EU verboten sind. Ein Start-up, das beispielsweise Gesichter scannt, hat es mit dem neuen Gesetz aus Datenschutzgründen in der EU deutlich schwerer als anderswo.
Was im internationalen Vergleich auf den ersten Blick als Wettbewerbsnachteil gewertet werden könnte, kann sich mittel- bis langfristig jedoch noch zu einem Vorteil entwickeln – dann nämlich, wenn durch die strengere Regulatorik der Fokus auf der Entwicklung einer verantwortungsvollen, sogenannten ethischen KI liegt. Denn selbst OpenAI-Gründer Sam Altman ist sich darüber bewusst, dass die KI nicht nur Heilsbringer, sondern durchaus auch ein Risikofaktor sein kann.
Außerdem ist das wirtschaftliche Potenzial der KI für die deutsche Wirtschaft auch mit stärkeren behördlichen Eingriffen groß. Eine aktuelle Studie des Forschungsinstituts IW Consult im Auftrag von Google rechnet vor, dass die Bruttowertschöpfung alleine im verarbeitenden Gewerbe und nur durch generative KI der deutschen Wirtschaft einen zusätzlichen Schub in Milliardenhöhe verleihen könnte. Konkret sei eine Gesamtsteigerung von 56 Milliarden Euro möglich, heißt es. Und gerade Start-ups, von denen laut dem AppliedAI Institute in Deutschland fast täglich neue entstehen, haben einen entscheidenden Anteil an eben diesem neuen Wertschöpfungspotenzial.