Parole: Niemals aufgeben!

Auf Fotos wirkt Hundedame Britney freundlich und ausgeglichen. Auch in der Beschreibung der russischen Tierschutzorganisation wirkt der Mischling charmant.
Illustration: Marie Urbin
Illustration: Marie Urbin
Gaby Herzog Redaktion

Ben Scholz ist begeistert. Er möchte den Hund adoptieren. Wenn er bloß geahnt hätte, worauf er sich da einlässt.

Mit Britney wird alles anders! An dem Tag, an dem Ben Scholz beschließt, die Hundedame aus einem russischen Tierheim zu sich zu holen, weiß er, dass sich sein Leben ändern wird. Voller Zuversicht überweist er die vereinbarten 300 Euro an eine Tierschutzorganisation und bespricht den Transport nach Berlin. Die neue vierbeinige Mitbewohnerin wird seinem Alltag Struktur und Stabilität geben, da ist er sich sicher. Weniger Cocktails und weniger Partys im Berghain. Dafür mehr Substanz, mehr Verbindlichkeit und Liebe!

So weit die Idee. Tatsächlich nimmt mit der Hundeadoption das Leben des damals 26-Jährigen eine ganz neue Wendung. Nur, dass der Weg dahin so ganz und gar anders aussieht als Ben Scholz das geplant hatte.

Lange hatte er zuvor im Berliner Tierheim nach einem Hund gesucht. Nachdem er keinen finden konnte, der zu ihm passt, fing er an, im Internet zu suchen. Erst bei eBay-Kleinanzeigen, dann bei verschiedenen Tierschutzorganisationen. Hunderte Fotos sieht er sich an, auch da ist der Wunschhund nicht dabei.

Plötzlich, auf der Seite einer russischen Organisation für Straßenhunde, macht es „klick“. „Als mich Britney mit ihren treuen braunen Augen anschaute, wusste ich sofort: Das ist sie“, erinnert sich Ben. „Es war Liebe auf den ersten Blick.“

Der angefügte Kurztext, der den Hund beschreibt, ist zwar etwas schwülstig und sehr blumig formuliert, aber das schreckt den Psychologie-Studenten nicht ab. Dafür ist bestimmt das Übersetzungsprogramm im Computer verantwortlich, ist er sich sicher. Ben liest die Informationen heraus, die ihm wichtig sind. Er erfährt, dass diese überaus charmante junge Hundedame mit den hellbraunen Ohren und dem weiß-schwarz gefleckten Fell sechs Monate alt ist und ein zauberhaftes und freundliches Wesen hat… Und das ist ja das Wichtigste! Wie wunderbar! „Ich habe tatsächlich geglaubt, dass wir beide ein Dream-Team sind“, sagt er. „Ein bisschen naiv war ich da wohl. Mir hätte klar sein sollen, dass die Fotos und Texte keine echte Aussagekraft haben. Ist doch logisch, dass da niemand schreibt: ‚Wer hat Lust sich um einen superschwierigen, völlig traumatisierten Hund zu kümmern?‘“

Die beiden Tierschützerinnen, die Ben vorab besuchen, wissen ebenfalls kaum etwas über Britney. Ihr Job besteht darin, den jungen Mann kritisch in Augenschein zu nehmen. Sie wollen sehen, ob in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung Platz genug ist, sie stellen viele Fragen zu Bens Tagesablauf, seinen Beweggründen, sich einen Hund anzuschaffen und führen darüber Protokoll. Dass er keinerlei Hundeerfahrung hat und in einer Bar jobbt, sehen sie nicht als Problem.

Als drei Wochen später der kleine graue Transporter vor dem Mietshaus in Neukölln vorfährt, ist Ben guter Dinge. Voller Vorfreude hat er sein Zuhause umgeräumt. Der Hundekorb ist mit einer gemütlichen Decke ausgepolstert und steht bereit, genau wie ein Wassernapf, Futter in verschiedenen Geschmacksrichtungen, Leckerlis, Spielzeug, eine Zeckenzange und ein Hundeknochen für die Zahnpflege.

Seiner neuen Mitbewohnerin soll es an nichts fehlen. Für Ben ist es erst das zweite Haustier in seinem Leben. Nummer Eins war Meerschweinchen Susi. Nur an hohen Feiertagen durfte das kleine Nagetier seinen Käfig verlassen und durch die elterliche Wohnung flitzen. Am zweiten gemeinsamen Weihnachtsfest rannte Susi unter den Tannenbaum und fraß Lametta. Wenig später war sie tot.

Die junge Frau, die Britney zu Ben Scholz nach Berlin bringt, ist bei ihrer Ankunft völlig übermüdet. Sie erzählt ihm, dass sie die ganze Nacht durchgefahren ist und auch jetzt möglichst schnell weiter muss. Für sie ist Neukölln nur ein Stop auf einer sehr langen Reise. Wie lang die Fahrt gewesen sein muss, ahnt Ben, als die Frau die Kofferraumklappe öffnet. Beißender Gestank von Kot und Urin schlägt ihm entgegen, nervöses Wimmern ist zu hören. In kleinen Käfigen kauern dort im Dunklen drei Hunde, wie in einem Viehtransporter.

Was für ein Schock. Ben hatte sich seine erste Begegnung mit Britney so schön ausgemalt – und jetzt das! Behutsam hält er der Hündin seine Hand entgegen. Aber anstatt neugierig daran zu schnüffeln, weicht Britney verängstigt zurück, schaut ihn aus ihren großen Augen an. „Hat man dir nicht gesagt, dass der Hund panische Angst vor Männern hat?“, fragt die Hundechauffeurin verwundert. Nein, dieses Detail muss wohl im Übersetzungsprogramm verloren gegangen sein.

Es ist unmöglich, Britney aus dem Kofferraum zu holen. Sie erstarrt, als Ben sie streicheln will und schnappt sogar nach seiner Hand. Schließlich nimmt die Frau den Hund auf den Arm und trägt ihn in die Wohnung, wo er erst auf den Teppich pinkelt und dann mit einem Satz in einen offenen Schrank springt.

„Die Frau hatte angeboten, Britney sofort wieder mitzunehmen“, erinnert sich Ben. „Aber das wollte ich nicht. Ich dachte, dass wir das schon irgendwie hinbekommen. Ich hatte mir ja auf der Arbeit frei genommen und hatte eigentlich Zeit und Ruhe. In ein paar Tagen würden wir zwei bestimmt die allerbesten Freunde sein und gemeinsam über eine Blumenwiese laufen und Abenteuer erleben!“

Der Hund – der beste Freund des Menschen. Schätzungen zufolge leben mehr als sechs Millionen Hunde in Deutschland, circa 300.000 werden jedes Jahr an neue Besitzer vermittelt. Rund ein Drittel von ihnen kommt aus dem Ausland, wo sie oft als verwahrloste Straßenhunde von Tierschützern aufgenommen und weitervermittelt werden.

Wie das Leben dieser Hunde bis dato aussah, wie viel Leid und Elend sie erleben mussten, bleibt für die neuen Herrchen und Frauchen meist im Dunklen. Auch über Britney weiß Ben im Grunde nichts. Er hatte gelesen, dass viele Russen wert auf edle Rassehunde legen und sie als Statussymbol sehen. Mischlinge haben es schwer, dort ein zu Hause zu finden. „Das hat mich irgendwie gerührt. Wie kann man nicht sehen, was für ein wunderschöner Hund Britney ist!“, sagt Ben. „Sie hat einfach ein gutes Leben verdient.“

Doch auch mit der größten Geduld kommt Ben nicht weiter. Er stellt zwei Schüsseln mit Futter und Wasser vor die Schranköffnung. Aber das Tier frisst nicht, es zittert vor Angst, schnappt nach ihm, wenn er sich nähert.

»Das Tier frisst nicht, es zittert vor Angst, schnappt nach ihm, wenn er sich nähert.«

Nach zwei Tagen ruft Ben verzweifelt bei seiner Chefin an, die schon seit vielen Jahren einen Hund hat und bittet sie um Hilfe. Sie kommt sofort und bringt die allergrößten Hundedelikatessen mit: Leberwurst und gekochtes Hühnchen, dazu jede Menge guter Tipps und eine CD mit „Hundeklassik“. Mozart, Reggae und Soft-Rock dudeln stundenlang, um Britney zu beruhigen. Nicht unbedingt Bens Lieblingsmusik, aber er hofft darauf, dass die Klänge den Hund entspannen. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass sich ihr Herzschlag beruhigt und die Tiere weniger Stresshormone ausschütten. Bei Britney scheint die Wirkung auszubleiben.

Ben beschließt, im Wohnzimmer zu kampieren und legt seine Matratze neben den Schrank, um in Britneys Nähe zu schlafen. Am nächsten Tag bindet er sie an einer Leine neben sich am Sessel fest, setzt sich und wartet. Fünf Stunden sitzt er so da, während Britney mit Ausdauer verzweifelt an der Leine zieht und nur zurück in ihr Schrankloch will. Eine belastende Situation für beide. Gerade als Ben entnervt aufgeben will, entspannt sich der Hund und lässt sich zum ersten Mal streicheln. Ein riesiger Erfolg!

Aber die Euphorie hält nicht lange. Zwar wird die Wohnung zu Britneys „Safe Place“, aber rausgehen und ein normales Hundeleben führen, daran ist nicht zu denken. Nur mit Gewalt kann Ben sie an der Leine aus dem Haus zerren, damit sie ihre Notdurft verrichten kann. Oft kommt er nicht weiter als bis in den Hinterhof. „Es ist unglaublich unangenehm, so einen offensichtlich völlig verstörten Hund hinter sich her zu ziehen, der versucht, sich mit all seiner Kraft, mit seinen Krallen im Boden festzuhalten“, erinnert er sich.

Eine große Hilfe für den völlig überforderten Neu-Hundebesitzer ist, als eine Spaziergängerin auf ihn aufmerksam wird. Sie hat einen freundlichen und sehr entspannten Pudel dabei und erkennt seine Not. Sie bietet Ben an, gemeinsam mit ihr eine Runde um den Block zu gehen. Und tatsächlich wird Britney in der Gesellschaft des anderen Hundes merklich ruhiger. Sie erkennt den Rüden offenbar als Autorität an und lässt sich mit ihm zusammen durch den Kiez führen. „Das war ein Lichtblick“, sagt Ben. Aber wirklich wohl fühlt sich der Hund nicht, die Stadt setzt die junge Hündin unter Stress. Sie zuckt bei jedem lauteren Geräusch, bei jeder schnellen Bewegung zusammen. Autos, Baumaschinen, Straßenbahnen und dann sind da die vielen, vielen  Menschen – und insbesondere Männer – die ihr panische Angst bereiten.

Wirklich fröhlich wirkt der Hund aber nie, so sehr Ben auch versucht, seinen Komfortbereich außerhalb der eigenen vier Wände zu erweitern. Auch zwei Hundetherapeutinnen und ein Hormonhalsband zur Stressregulierung können daran nichts ändern. Wenn er Britney beim Schlafen beobachtet, sieht er, wie sie zuckt und jault. Ben beginnt, sich schuldig zu fühlen. Er hatte die Hundedame aus ihrem trostlosen Dasein im Tierheim retten und ihr ein besseres Leben bereiten wollen. „Doch ich hatte das Gefühl, dass ich sie Tag für Tag dazu zwinge, an einem Ort zu sein, den sie völlig unerträglich findet.“

Und auch die äußeren Umstände machen es Ben nicht leicht. Ursprünglich war vereinbart gewesen, Britney mit zur Arbeit zu bringen. Vier bis fünf Mal in der Woche steht der junge Mann als Barkeeper in einer Berliner Cocktailbar hinter der Theke. Auch die Chefin bringt ihren Hund regelmäßig mit – aber er und Britney vertragen sich nicht. Also muss Britney zu Hause blieben, jault so lange, bis sich die Nachbarn beschweren.

Nach sieben Monaten ist Ben mit den Nerven am Ende. „Es war ein Horror. Mein Leben war wie auf Pause gestellt. Ich war 24/7 für den Hund da, konnte niemanden mehr treffen, meine männlichen Freunde durften die Wohnung nicht betreten. Ich hatte ein rabenschwarzes Gewissen, aber irgendwann war ich bereit aufzugeben“, sagt er. „Man hätte mir den Hund einfach nicht geben dürfen. Gute Absichten alleine reichen nicht, um einem Hund ein gutes zu Hause geben zu können. Das denke ich auch immer wieder, wenn ich aktuell sehe, wie viele neue Hundebesitzer es wegen Corona gibt. Viele sind hoffnungslos überfordert. Nicht nur weil viele Tiere einen Knacks haben, sondern weil die Menschen ihre Lebenssituation grundlegend falsch einschätzen. Während des Lockdowns hatten alle außerordentlich viel Zeit, mussten nicht ins Büro, konnten nicht ins Restaurant und waren stattdessen viel im Wald oder im Park. Sobald aber die Normalität zurückkehrt, fangen die Probleme an.“

Bens Geschichte nimmt eine völlig unerwartete Wendung: Monatelang haben seine Eltern ihren Sohn nicht gesehen. Als sie hören, wie verzweifelt ihr Ben wegen des neuen Hundes ist, bieten sie ihm an, Britney für zwei Wochen in ihr Ferienhaus im Brandenburgischen zu nehmen. Aus Liebe zu ihrem Kind, nicht zu dem Hund.

Auf dem Land ist Britney wie ausgewechselt. Sie löst sich aus ihrer Schockstarre, lässt sich vom Vater streicheln, fängt an, Schmetterlinge auf der Wiese zu jagen, versteckt Schuhe und vergräbt getrocknete Schweineohren im Garten. Damit stellt Britney zum zweiten Mal ein Menschenleben völlig auf den Kopf.

Mutter und Vater Scholz hatten nach dem tragischen Ende von Meerschwein Susi mit dem Kapitel Haustier abgeschlossen. Aber als sie Britney persönlich kennenlernen – diese treuen dunklen Augen! –  ist es um sie geschehen. Damit Britney ein fröhliches Hundeleben führen kann, bleibt der Vater dauerhaft im Ferienhaus. Als die Mutter in Teilzeit geht, kann auch sie öfter im Grünen sein.

"Ich hatte ein rabenschwarzes Gewissen, aber irgendwann war ich bereit aufzugeben"

Heute ist Britney tatsächlich eine charmante junge Hundedame mit hellbraunen Ohren und einem offenen und freundlichen Wesen, genau wie sie im Text auf der russischen Hompage beschrieben wurde. Wenn Bens Eltern einen Ausflug in die Stadt unternehmen, kommt sie mit. Berlin ist nicht ihr Lieblingsort, aber aus treuer Verbundenheit zu Herrchen und Frauchen erträgt sie das gerne.

Und Ben? Tatsächlich hat der Hund wie erhofft sein Leben verändert. Er hat seinen Job in der Bar an den Nagel gehängt, sich auf sein Studium konzentriert und ist heute Innovationsberater in einer Agentur. „Da bin ich sehr viel unterwegs und muss verreisen“, sagt er. „Mit einem Hund hätte ich diesen Job niemals annehmen können.“

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