Neue Natürlichkeit

Immer mehr Menschen wollen sich fit und gesund halten. Dabei ist es bei der Vielzahl von Trends nicht leicht, den Überblick zu behalten. Ein Gespräch mit dem Sportwissenschaftler Ingo Froböse.
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Interview: Klaus Lüber Redaktion

Herr Froböse, es scheint sich einiges zu tun in der Fitness- und Gesundheitsbranche. Auf der einen Seite die Rückbesinnung auf klassische Konzepte wie das Training ohne Körpergewicht oder die Bewegung an der frischen Luft. Auf der anderen Seite die zunehmende Digitalisierung des Breitensports durch Fitness- und Gesundheits-Apps.

 

Ja, das ist richtig, wir erleben hier eine spannende Entwicklung. Noch dazu kommt das Element des sogenannten Challengings, das es in dieser Ausprägung früher nicht gab. Damit ist das Zurschaustellen der eigenen Fitness gemeint, zum Beispiel über Youtube-Videos, die zum Beispiel den Trainingsfortschritt am eigenen Körper dokumentieren. Früher war dieses Posen fast ausschließlich in Bodybuilderkreisen verbreitet. Mittlerweile wird dies verstärkt auch unter Hobbysportlern praktiziert.

 

Das ist eine Entwicklung, die sicherlich auch durch die Verbreitung von Fitness-Apps befeuert wurde – schließlich geht es hier um das Erfassen und auch Vergleichen von Daten. Was halten Sie eigentlich von diesem Trend?

 

Ich finde es wichtig, das differenziert zu sehen. Die Geräte haben einen großen Vorteil: Sie bieten gerade Menschen, die über wenig Gefühl für den eigenen Körper verfügen, eine Möglichkeit der ersten Rückmeldung: Wie fit bin ich eigentlich? Wie verändert sich meine Konstitution, wenn ich mit dem Training beginne? Plötzlich wird es möglich, die eigene Leistungsfähigkeit einzuschätzen und meine Fortschritte zu dokumentieren. Das kann sehr motivierend wirken.

 

Aber ist es nicht gerade für Anfänger auch gefährlich, sich zu sehr auf Daten zu verlassen?

 

Sie haben natürlich Recht, die Geräte haben auch ihre Grenzen – Grenzen, die gewissermaßen die Technologie selbst vorgibt. Im Augenblick werden bestimmte Werte schlicht deswegen gemessen, weil sie gut messbar sind: Also zum Beispiel die Herzfrequenz oder die am Tag zurückgelegten Schritte. Aber natürlich bilden diese Parameter nur einen kleinen Teil unserer physiologischen Konstitution ab. Man kann sich ja grundsätzlich fragen, wie sinnvoll es eigentlich ist, den Körper überhaupt in Zahlen zu beschreiben: Ist nur das relevant, was messbar ist? Das kann nicht sein.

 

Was steckt Ihrer Meinung nach hinter dem Trend Functional Training?

 

Sie haben es schon angedeutet, wir beobachten eine Rückbesinnung hin zu natürlichen Bewegungen, gerne auch in kleinen Trainingsgruppen an der frischen Luft. Functional Training meint ja im Grunde nichts anderes als das Üben mit dem eigenen Körpergewicht, also das, was ältere Generatio-nen noch aus der Zeit kennen, als Fitnessgeräte noch nicht so weit verbreitet waren wie heute. Aktuell kommt aber noch etwas anderes dazu: Man trainiert oftmals mit einer sehr hohen Intensität.

 

Sie meinen neue Ansätze wie Freeletics?

 

Ja. Bei Freeletics ist ja die Idee, klassische Übungen wie die Liegestütze, den Klimmzug oder die Kniebeuge mit einer hohen Geschwindigkeit bis zur fast völligen körperlichen Erschöpfung auszuführen. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass Fitness zunehmend unter Gesichtspunkten des Zeitmanagements gesehen wird: Jeder weiß, dass er trainieren sollte, aber er möchte dabei eigentlich nur so wenig Zeit investieren wie möglich. Ich finde diesen Grundgedanken übrigens per se nicht falsch.

 

Heißt das, ein solches Hochintensitätstraining ist auch für den durchschnittlichen Hobbysportler sinnvoll?

 

Es ist nicht leicht, das pauschal zu beantworten. Im Falle des sogenannten High Intensity oder HIT Trainings hängt es stark von den Trainingsvoraussetzungen des Übenden ab, also seinem grundsätzlichen Niveau an Ausdauer und Kraftfähigkeit. Was man allerdings sagen kann, ist, dass genau diese Grundvoraussetzungen heute immer weniger anzutreffen sind. Gerade beim Functional Training geht es um Kompetenzen, die früher im Rahmen der kindlichen Entwicklung viel eher gegeben waren, als heute. Also beispielsweise Hängen, Springen, Hangeln, Balancieren. 

 

Das heißt, viele Menschen sind durch HIT erst einmal überfordert?

 

Ja. Wobei die Übungen selbst ja sehr sinnvoll und hoch effektiv sind. Man sollte sie nur möglichst nicht ohne individuelle Betreuung beginnen. Es ist wichtig, Bewegungskompetenz und -qualität zu entwickeln, bevor man sich durch hohe Intensitäten herausfordert. Doch leider beobachten wir eine zunehmende Minderung dieser Bewegungskompetenz besonders bei der jüngeren Generation von Breitensportlern.

 

Der Personal Trainer bleibt also auch im Zuge der Individualisierung und Digitalisierung unverzichtbar? Man könnte sich ja auch vorstellen, dass Fitness-Apps irgendwann so intelligent werden, dass Sie aktiv auf solche Risiken hinweisen.

 

Also ich halte diese Entwicklung, immer mehr Kompetenzen an den Trainierenden als User irgendeiner Fitness-App abzugeben, für gefährlich. Gerade unter Jugendlichen erleben wir immer öfter, wie beim Sport vollkommen falsche Schwerpunkte gesetzt werden. Wer wenig Körperbewusstsein und Bewegungskompetenz besitzt, geht im Training vermutlich unnötige Risiken ein. Beispielsweise habe ich im Umfeld der Sporthochschule Köln noch nie so viele junge Sportler mit Bizepsabrissen erlebt wie heute.

 

Welche Chancen bietet funktionelles Training, wenn man dosiert und unter Anleitung trainiert?

 

Das Training ohne Körpergewicht ist eine ganz hervorragende Art, sich fit und gesund zu halten. Heute wissen wir, dass der lange vorherrschende Ansatz der Trainingswissenschaft, in richtige und falsche Bewegungen zu unterscheiden, also Übungen gewissermaßen eher unter einem physiotherapeutischen Aspekt zu sehen, eigentlich nicht der Komplexität des menschlichen Körpers gerecht wird. Dagegen stehen wir heute auf dem Standpunkt: Alles, was der Körper uns gibt, ist möglich und gut. Je vielfältiger, desto besser, je variationsreicher, desto stimulierender. 

 

 

Ingo Froböse (* 18. März 1957 in Unna) ist Universitätsprofessor für Prävention und Rehabilitation im Sport an der Deutschen Sporthochschule in Köln.

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