Ruhe bewahren!

Wie geht man mit der Diagnose Krebs um? Mit viel Optimismus, meint der Allgemeinarzt Lutz Wesel. Er hat selbst eine Krebserkrankung überstanden.
Illustration: Dominika Kowalska
Illustration: Dominika Kowalska
Dr. Lutz Wesel Redaktion

Viele frisch diagnostizierte Krebspatienten denken im ersten Moment, es stünde ihnen nun eine Zeit schweren Leidens bevor, die womöglich mit einem qualvollen Sterben endet. Was für ein tragischer Irrtum! Tatsächlich ist es so, dass für die Mehrheit der Menschen mit einer Krebserkrankung ein gutes Leben möglich ist. Bitte bedenken Sie, dass mehr als 50 Prozent aller Krebspatienten geheilt werden.

Und auch für die, bei denen eine vollständige Heilung nicht mehr zu erwarten ist, ist Lebensqualität noch für womöglich lange Zeit möglich. Nur eine geringe Anzahl von Krebspatienten hat sich mit schweren Verläufen auseinanderzusetzen, und selbst bei ihnen stehen umfangreiche Ressourcen zur Verfügung, die das Leben noch lange Zeit lebenswert oder zumindest erträglich zu gestalten helfen. Allen voran die Palliativmedizin, die sich ja genau dies auf die Fahne geschrieben hat – und nicht etwa Sterbehilfe, wie viele fälschlicherweise denken. Daraus resultiert meine erste Empfehlung, und die lautet: Ruhe bewahren!

Der Verlauf einer Krebserkrankung lässt sich in mehrere Phasen einteilen: Die erste Phase besteht in der schulmedizinischen Primärtherapie der frisch diagnostizierten Krankheit, also Operation, Bestrahlung, Chemotherapie und so weiter. Hier gilt es einerseits keine Zeit zu verlieren und die notwendigen medizinischen Maßnahmen so schnell wie möglich einzuleiten, damit der Krebs nicht weiter wachsen, oder gar Tochtergeschwülste (Metastasen) ausstreuen kann. Auf der anderen Seite sollte man sich genügend Zeit lassen, um den Diagnoseschock überwinden und möglichst gefasst und gut informiert in die Therapie gehen zu können.

Nach Abschluss der Primärtherapie, welche Wochen bis Monate in Anspruch nehmen kann, geht es daran, Maßnahmen zu ergreifen, die dazu dienen, dass man sich wieder wohl in seiner Haut fühlt. Aus diesem Grund wird praktisch regelmäßig im Anschluss die so genannte Krebsnachsorge-Kur in einer Rehaklinik angeboten. Wenn man das Glück hat, in eine gute Klinik zu kommen, kann man deutlich gestärkt daraus zurückkehren.

Viele Krebspatienten haben nun das Bedürfnis nach „sanfter“ Medizin. Sie spüren, dass sie etwas brauchen, was ihnen das Gefühl gibt, dass etwas „wirklich Heilsames“ geschieht. Ich vergleiche die Situation immer mit einem Brand: Wenn es brennt, ruft man die Feuerwehr. Die kommt, löscht und rückt wieder ab. Der Hausbesitzer steht vor seinem (ehemals) schönen Haus und denkt sich: „Oh Gott, wie bekomm’ ich das nun wieder so hergerichtet, dass ich mich darin wohlfühle?“

Dieses Bedürfnis führt dann oft zum Heilpraktiker. Wenngleich uns Ärzten Heilpraktiker mit ihrer meist im Vergleich zu einem akademischen Medizinstudium beträchtlich geringerem Ausbildungsgrad naturgemäß suspekt erscheinen, so gibt es durchaus einige darunter, die über ein sehr sinnvolles Angebot von komplementär-medizinischen Methoden verfügen. Warnen muss man allerdings vor Scharlatanen, die erkannt haben, dass sich auf der Not und Verzweiflung schwer kranker Menschen mit dubiosen Heilversprechen ein wunderbares Geschäftsmodell aufbauen lässt.

Das meiste davon lässt sich auf einem erheblich sichereren Ausbildungsniveau bei Ärzten für Naturheilverfahren finden. Auf alle Fälle finde ich es ausgesprochen sinnvoll, im Anschluss an die schulmedizinische Primärtherapie solche Methoden in Anspruch zu nehmen und habe dies auch bei meiner eigenen Krebserkrankung getan. Es muss aber auch klar sein, dass es sich eben um Komplementärmedizin, also die Schulmedizin ergänzende Methoden handelt und nicht etwa um Alternativen zur Schulmedizin.

Wenn all dies unternommen wurde, denken wohl die meisten Patienten, damit sei die Therapie beendet. Nun heiße es, ängstlich oder hoffnungsvoll abzuwarten, ob der Krebs besiegt sei, oder nicht. Weit gefehlt! Denn jetzt geht es erst richtig los! Die Therapie mag beendet sein, aber jetzt beginnt der eigentliche Heilungsprozess. Und wenn für die Therapie primär die Ärzte zuständig waren, so ist nun vor allem der Erkrankte selbst gefordert. Denn es liegt im wesentlichen an ihm, optimale Voraussetzungen für die ihm innewohnenden Selbstheilungskräfte zu schaffen.

Deshalb bin ich immer ganz erschrocken, wenn ein Patient zu mir sagt: „Doc, mach’, dass es wieder so ist, wie vorher!“ Ich pflege dann zu antworten: „Wollen Sie wirklich, dass es wieder so wird, wie es war, als die Krankheit entstanden ist? Ich finde, es sollte besser werden!“ Heilung bedeutet nämlich anderes und mehr, als „nur“ den Krebs zu besiegen. Heilung ist ein Prozess, bei dem das gesamte Gleichgewicht des kranken Menschen wieder hergestellt wird. Sie kommt vor allem von innen, durch die persönlichen Anteile, die jeder in die Auseinandersetzung mit der Krankheit einbringt. Und so sind Fragen zu beantworten, wie: „Was braucht mein Körper, was braucht mein Geist, was braucht meine Seele, damit ich wieder heil werde? Was könnte die Krankheit mich lehren? Wie kann ich sie nutzen, um daran zu wachsen?“

Und dann muss man sich daran machen, diese Dinge umzusetzen. Konsequent und kompromisslos. In meinem Fall bedeutete dies zum Beispiel, dass ich mir durch die Krebsdiagnose einerseits des Wertes und andererseits der Zerbrechlichkeit und Begrenztheit meines Lebens bewusst wurde. Das hat dazu geführt, dass ich mich in meiner Prioritätenliste vom letzten auf den ersten Platz gesetzt habe. Ich habe gelernt, „Nein“ zu sagen, alles abgegeben, was andere genauso gut können, meditiere täglich und regeneriere mich in der Natur, nehme regelmäßig Auszeiten, versorge meinen Körper gut und bin ganz einfach gut zu mir.

Das gibt zwar keine Garantie, dass man vom Krebs geheilt wird, aber man verbessert garantiert seine Lebensqualität! Und so kenne ich viele Patienten, die nach einem solchen Prozess und einigen Jahren Sicherheitsabstand sagen: „Unter dem Strich hat mir die Krankheit mehr gebracht, als genommen!“ Wir haben zwar keine Kontrolle über unser Schicksal, Einfluss aber haben wir allemal. Und so gilt das alte Sufi-Sprichwort, das ich so liebe: „Vertrau auf Allah – und bind’s Kamel fest!“

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