GEMEINSAM STATT EINSAM

Wohngemeinschaft, Betreutes Wohnen, Mikro-Apartments, Tiny House – es gibt immer mehr Modelle, Wohnen und Leben nach individuellen Vorlieben zu gestalten. Wichtigster Wohlfühlfaktor: soziale Beziehungen.

Illustrationn: Tannya Teibtner
Illustrationn: Tannya Teibtner
Andrea Hessler Redaktion

Das Heim als Schloss oder noch besser als Trutzburg: So könnte man das englische Sprichtwort „My home is my castle“ übersetzen. Behausungen vermitteln Sicherheit, Schutz vor Wind und Wetter und vor Feinden. Vor etwa 12.000 Jahren begann die Zivilisation der Menschheit mit dem Bau fester Unterkünfte. Viehzüchtende Nomaden wurden zu Ackerbauern und Handwerkern, die bald in wachsenden Siedlungen und ersten Städten lebten.
 

VOM SCHUTZRAUM ZUM LEBENSSTIL


Doch Cocooning, Hygge und Gemütlichkeit waren noch in weiter Ferne, das Zusammenleben war eher schwierig. Während heute in Deutschland statistisch die durchschnittliche Wohnfläche pro Einwohner bei rund 55 Quadratmetern liegt, lag sie nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund der massiven Zerstörung der Städte bei 15 Quadratmetern. Das ist immer noch Luxus verglichen mit den Behausungen der Frühzeit und des Mittelalters, als Stadtbewohner sich in engen Häusern ohne sanitäre Einrichtungen und Kanalisation zusammenquetschten und die Mehrheit als Bauern auf dem Land in einfachen Hütten samt Vieh und Gesinde lebte.

Das Landleben ist weitgehend Vergangenheit, Städte und vor allem Megacitys wie Tokio, Delhi und Shanghai ziehen immer mehr Menschen an. Bis zum Jahr 2030 werden laut Berechnungen der Vereinten Nationen mehr als 70 Prozent aller Menschen Städter sein. Doch wie sollen Städte künftig konzipiert sein, um unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht zu werden?

Die Trendforscherin Oona Horx-Strathern beschäftigt sich mit dem Thema Leben und Wohnen der Zukunft. Sie fordert, dass Städte wieder mehr menschenzentriert werden sollen statt ausgerichtet auf den Autoverkehr mit allen negativen Folgen wie Lärm, Abgasen und enormem Flächenverbrauch. Die Trendforscherin empfiehlt generell ein Umswitchen auf eine „Kindness Economy“, eine menschenfreundliche Wirtschaft. Kein neuer Gedanke. Schon im Jahr 1951 postulierte der Philosoph Martin Heidegger in seinem Vortrag bei den Darmstädter Gesprächen ähnliche Überlegungen. „Wohnen heißt das Menschsein im Sinne des Aufenthalts auf der Erde“, so Heidegger. „Die Sterblichen wohnen, insofern sie die Erde retten.“ Wohnen mit Rücksicht auf die Erde – ganz praktisch bedeutet das zunächst, Gebäude besser auf menschliche Bedürfnisse auszurichten und dabei ökologische Aspekte zu beachten. Den Ressourcenverbrauch dank Dämmung und Niedrigenergieheizungen zu verringern ist sicherlich sinnvoll, doch kaum ausreichend. 

Anhänger des Tiny-house-Movement propagieren stattdessen das Leben in kleinen Häusern, das Platz und Geld sparen soll. Letztlich steht den Bewohner:innen der Mini-Häuser durchschnittlich fast so viel Platz zur Verfügung wie den Bewohner:innen in anderen Gebäuden – rund 50 Quadratmeter. Die Tiny-Bewegung stammt aus den USA, wo außerhalb der Großstädte weite Flächen verfügbar sind. In dichtbesiedelten Ländern wie Deutschland sind die Tiny Houses kaum ein flächendeckend tragbares Konzept für eine heterogene Bevölkerung. Auch Mikro-Apartments, bei denen bestimmte Funktionen an gemeinschaftlich genutzte Räume ausgelagert werden, sind nur für Singles oder genügsame Paare geeignet.

Illustrationn: Tannya Teibtner
Illustrationn: Tannya Teibtner

EINSAMKEIT UND GEMEINSCHAFT


Trendforscherin Horx-Strathern ergänzt philosophische Gedanken, wie sie Heidegger zum Thema Wohnen anstellte, mit Aspekten wie Demografie, Ökologie, Soziologie und Psychologie. Heute schon lebt in Großstädten wie Hamburg in 50 Prozent der Haushalte nur eine Person, darunter viele Senior:innen, aber auch viele junge Berufstätige. Nicht jeder Mensch hat die fürs Alleinleben erforderliche psychische Stabilität. Eine perfekte technische Hochrüstung ist kein Ersatz für menschliche Interaktion. Es zeigt sich, dass die Fokussierung unserer Gesellschaft auf individuelle Lebenskonzepte nicht nur Freiheiten, sondern auch Probleme mit sich bringt. Viele Menschen leiden unter Einsamkeit. Eine Studie der Techniker Krankenkasse etwa hat ergeben, dass rund 60 Prozent der Menschen in Deutschland sich oft oder gelegentlich einsam fühlen. Gibt es Rezepte dagegen, dass einem in der Single-Wohnung die Decke auf den Kopf fällt und der Sonntagnachmittag-Blues die Laune niederstreckt? Hilfe bieten können sogenannte Shared Spaces, gemeinsam genutzte öffentliche Räume, auf denen sich wie früher üblich Menschen unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten trafen. Heute bauen viele Gemeinden ihre autogerechten Innenstädte in verkehrsberuhigte, begrünte Zonen um, die zum Bummeln und Verweilen einladen.

Weitere Möglichkeiten, den Raum des individuellen Wohnens auszudehnen, sind sogenannte dritte Räume, wie sie der US-Soziologe Ray Oldenburg beschrieb. Neben der eigenen Wohnung, dem ersten Raum, und dem beruflichen Umfeld als zweitem Raum ermöglichen zum Beispiel Einkaufszentren und Cafés, Bürgerzentren und Bibliotheken soziale Interaktionen – im Idealfall ohne den Zwang, Geld auszugeben und zu konsumieren. Doch wichtiger noch als diese Ausweichmöglichkeiten aus der einsamen Wohnung dürften neue Formen des Zusammenlebens werden. Immer beliebter werden etwa Mehrgenerationen-WGs, in denen ältere und jüngere Menschen, die nur zufällig aufeinandergetroffen sind, sich eine Wohnung teilen. Sie können ihre unterschiedlichen Erfahrungen austauschen und sich bei individuellen Defiziten unterstützen. Ein erfolgreiches Beispiel ist die Berliner WG von Amir, Ende 20, und Agnes, 102. Amir macht eine Ausbildung zum Pfleger und lebt bei Agnes. Die alte Dame sagt, sie hatte noch nie so viel Spaß in ihrem Leben. Zusammen frühstücken, schaukeln gehen auf dem Spielplatz, gemeinsame Besuche in der Shisha Bar und im Schwimmbad, die beiden haben ein inniges freundschaftliches Verhältnis. Angesichts von Wohnungsnot und Pflegenotstand ist das Modell des Zusammenlebens von Alt und Jung bei Agnes und Amir eindeutig eine Win-Win-Situation.
 

ZUKUNFT BLEIBT AUF DER ERDE


Trotz neuer Lebens- und Wohnmodelle bleibt ein Kardinalproblem. Die Menschheit verbraucht für ihren Lebensstil zu viel Raum und Rohstoffe, um in der heutigen Form weiterexistieren zu können. Daher träumen Technik-Visionäre wie Jeff Bezos und Elon Musk vom Leben auf Raumstationen wie der Enterprise oder der Space Station 5 aus dem Film 2001, Odyssee im Weltraum und dem Auswandern auf fremde Planeten. Doch es ist wenig realistisch, dass in absehbarer Zeit der Mars von Menschen besiedelt werden kann, auch wenn ernsthafte Wissenschaftler:innen zum Beispiel an der Uni Bremen über Lebenserhaltungssysteme im All und die Gewinnung dortiger Ressourcen forschen. Schon gar nicht werden sich die Träume vom Auswandern in fremde Galaxien in absehbarer Zeit verwirklichen lassen. Stattdessen bleibt die Aufgabe herausfordernd genug, das Leben und Wohnen auf der Erde auch für jene Menschen zu verbessern, für die eine menschenwürdige Unterkunft heute immer noch so weit entfernt ist wie ein Flug zum Mars. 

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