Dieses Festmahl lassen sich die Störche nicht entgehen. Erst vor wenigen Minuten hat der Bauer angefangen, seine Bergwiese zu mähen, als auch schon zwei der majestätisch großen Vögel bei seinem Traktor landen. Mit langsamen, gemessenen Schritten, wie alte Herren im Frack, staksen sie hinter dem Balkenmäher her, halten nach Insekten und aufgescheuchten Feldmäusen Ausschau.
„Eigentlich wohnen die Störche auf den Dächern der alten Fachwerkhäuser unten im Tal“, erklärt Virginie Dichinger und lächelt. „Aber die Tiere sind schlau. Sie wissen halt auch, dass es hier oben bei uns besonders gut schmeckt.“ Die 48-Jährige ist Wirtin im Christlesgut. Nur noch wenige Wanderer sitzen auf der Veranda, die meisten haben sich schon an den Abstieg hinunter in das kleine Städtchen Munster gemacht. Weil es abends hier oben auf 780 Metern schon recht kühl wird, deckt Virginie heute für die Besucher, die über Nacht bleiben, den Tisch im urigen Gastraum. Auf den schlichten Holztischen liegen rot-weiß-karierte Decken, darüber am Deckenbalken hängt eine Reihe bronzener Glocken, auf denen Namen und Geburtsdaten zu lesen sind.
JEDES KIND BEKOMMT EINE GLOCKE
„Für jedes neue Familienmitglied lassen wir eine große Glocke von Hand anfertigen, das ist bei uns Tradition“, erklärt Virginie, während sie für den Aperitif eine Flasche Gewürztraminer entkorkt. „Unsere Kühe auf der Weide tragen natürlich viel kleinere und leichtere Glocken. Ich freue mich jeden Morgen, wenn ich von ihrem leisen Bimmeln geweckt werde. Für mich ist ihr Glockenklang die Symphonie der Berge.“
Nur zwischen April und Oktober haben die „Fermes-Auberges“, wie die Bergbauernhöfe auf Französisch heißen, geöffnet. Traditionell packen danach die meisten Almhirten ihre Sachen und treiben die Tiere herunter in ihre Winterquartiere. Denn die Höhen in den Vogesen sind nicht das ganze Jahr über bewohnt. Selbst die wichtigste Kammstraße, die „Route des Crêtes“, verschwindet im Schnee und teilweise sogar unter den Skipisten.
In der Küche im Christlesgut klappern die Töpfe. Aus dem kleinen Herz, das in die Holztür geschnitzt ist, strömt ein herrlicher Duft von deftigem, würzigem Fleisch. „Meine Mutter kocht heute für uns alle den typisch elsässischen Bäckeoffe“, erklärt Virginie. „Schon gestern Abend hat sie die verschiedenen Fleischsorten mit Möhren und Zwiebeln mariniert. Seit heute Mittag schmort das Gemisch jetzt schon in einem Sud aus Riesling auf dem Herd. Zum Nachtisch gibt es dann eine hausgebackene Tarte mit Heidelbeeren.“ Die Früchte hierfür hat Virginie selber gepflückt, genau wie die Himbeeren und Brombeeren.
Um sich ganz offiziell „Ferme-Auberge“ nennen zu dürfen, müssen mindestens 60 Prozent der Zutaten für alle angebotenen Speisen selber produziert werden. Die Köchin backt dunkles Krustenbrot und luftigen Gugelhupf und kocht Marmelade.
»Um sich „Ferme-Auberge“ nennen zu dürfen, müssen mindestens 60 Prozent der Zutaten für die angebotenen Speisen selbst produziert werden.«
Im Garten wachsen Pflaumen, Kirschen und Äpfel für Kompott, im Herbst ist der Wald voller Pilze. Das Fleisch und die Wurst kommen von Bruder Erics Rindern und den gelockten Mangalitza-Wollschweinen, die sich im Matsch vor dem Stall suhlen. Aus der Milch der Kühe, die täglich pünktlich um 17 Uhr eigenständig von der Weide nach Hause kommen, werden Butter, Joghurt und natürlich der zart orange-schimmernde Munsterkäse hergestellt.
KÄSE VERKOSTEN WIRD ZUR MUTPROBE
Dieser Käse ist in der Region berühmt und durchaus berüchtigt. Schließlich hat er so einen intensiven Geruch, dass für viele schon ein Probierstück zu einer kleinen Mutprobe wird. Wer nicht über Stunden von dem „Odeur“ begleitet werden möchte, der sollte den Käse auf keinen Fall mit den Händen berühren, sondern Messer und Gabel benutzen.
Die Elsässer nennen den Käse im Dialekt stolz „a drakig’r Stink’r“, ein dreckiger Stinker. Das Rezept stammt aus dem 7. Jahrhundert und wurde von den Mönchen unten in der Abtei entwickelt. Die wussten, wie man Rohmilch auf ihre köstlichste Art haltbar macht. In der Käserei vom Chistlesgut wird nach dem Melken das Lab in einem großen Topf auf 32 Grad erhitzt und dann weiterverarbeitet. Für den charismatischen Duft ist die Rotschmiere verantwortlich. Auf dem Käse siedelt sich ein Bakterium an, das fleißig Eiweiß und Fett abbaut und dabei anfängt, ein wenig zu müffeln.