Genuss ohne Reue

 Zwischen Rhein und den Vogesen gelegen, ist das Elsass die kleinste Region Frankreichs. Bestes Fleisch, Wurst und die Milch für den aromatischen Käse kommen aus den Bergen, Wein und Gemüse wachsen auf den sanften Hängen im fruchtbaren Tal.

Illustration: Natascha Baumgärtner
Illustration: Natascha Baumgärtner
Gaby Herzog Redaktion

Dieses Festmahl lassen sich die Störche nicht entgehen. Erst vor wenigen Minuten hat der Bauer angefangen, seine Bergwiese zu mähen, als auch schon zwei der majestätisch großen Vögel bei seinem Traktor landen. Mit langsamen, gemessenen Schritten, wie alte Herren im Frack, staksen sie hinter dem Balkenmäher her, halten nach Insekten und aufgescheuchten Feldmäusen Ausschau.

„Eigentlich wohnen die Störche auf den Dächern der alten Fachwerkhäuser unten im Tal“, erklärt Virginie Dichinger und lächelt. „Aber die Tiere sind schlau. Sie wissen halt auch, dass es hier oben bei uns besonders gut schmeckt.“ Die 48-Jährige ist Wirtin im Christlesgut. Nur noch wenige Wanderer sitzen auf der Veranda, die meisten haben sich schon an den Abstieg hinunter in das kleine Städtchen Munster gemacht. Weil es abends hier oben auf 780 Metern schon recht kühl wird, deckt Virginie heute für die Besucher, die über Nacht bleiben, den Tisch im urigen Gastraum. Auf den schlichten Holztischen liegen rot-weiß-karierte Decken, darüber am Deckenbalken hängt eine Reihe bronzener Glocken, auf denen Namen und Geburtsdaten zu lesen sind.
 

JEDES KIND BEKOMMT EINE GLOCKE


„Für jedes neue Familienmitglied lassen wir eine große Glocke von Hand anfertigen, das ist bei uns Tradition“, erklärt Virginie, während sie für den Aperitif eine Flasche Gewürztraminer entkorkt. „Unsere Kühe auf der Weide tragen natürlich viel kleinere und leichtere Glocken. Ich freue mich jeden Morgen, wenn ich von ihrem leisen Bimmeln geweckt werde. Für mich ist ihr Glockenklang die Symphonie der Berge.“

Nur zwischen April und Oktober haben die „Fermes-Auberges“, wie die Bergbauernhöfe auf Französisch heißen, geöffnet. Traditionell packen danach die meisten Almhirten ihre Sachen und treiben die Tiere herunter in ihre Winterquartiere. Denn die Höhen in den Vogesen sind nicht das ganze Jahr über bewohnt. Selbst die wichtigste Kammstraße, die „Route des Crêtes“, verschwindet im Schnee und teilweise sogar unter den Skipisten.

In der Küche im Christlesgut klappern die Töpfe. Aus dem kleinen Herz, das in die Holztür geschnitzt ist, strömt ein herrlicher Duft von deftigem, würzigem Fleisch. „Meine Mutter kocht heute für uns alle den typisch elsässischen Bäckeoffe“, erklärt Virginie. „Schon gestern Abend hat sie die verschiedenen Fleischsorten mit Möhren und Zwiebeln mariniert. Seit heute Mittag schmort das Gemisch jetzt schon in einem Sud aus Riesling auf dem Herd. Zum Nachtisch gibt es dann eine hausgebackene Tarte mit Heidelbeeren.“ Die Früchte hierfür hat Virginie selber gepflückt, genau wie die Himbeeren und Brombeeren.

Um sich ganz offiziell „Ferme-Auberge“ nennen zu dürfen, müssen mindestens 60 Prozent der Zutaten für alle angebotenen Speisen selber produziert werden. Die Köchin backt dunkles Krustenbrot und luftigen Gugelhupf und kocht Marmelade.
 

»Um sich „Ferme-Auberge“ nennen zu dürfen, müssen mindestens 60 Prozent der Zutaten für die angebotenen Speisen selbst produziert werden.«


Im Garten wachsen Pflaumen, Kirschen und Äpfel für Kompott, im Herbst ist der Wald voller Pilze. Das Fleisch und die Wurst kommen von Bruder Erics Rindern und den gelockten Mangalitza-Wollschweinen, die sich im Matsch vor dem Stall suhlen. Aus der Milch der Kühe, die täglich pünktlich um 17 Uhr eigenständig von der Weide nach Hause kommen, werden Butter, Joghurt und natürlich der zart orange-schimmernde Munsterkäse hergestellt.
 

KÄSE VERKOSTEN WIRD ZUR MUTPROBE


Dieser Käse ist in der Region berühmt und durchaus berüchtigt. Schließlich hat er so einen intensiven Geruch, dass für viele schon ein Probierstück zu einer kleinen Mutprobe wird. Wer nicht über Stunden von dem „Odeur“ begleitet werden möchte, der sollte den Käse auf keinen Fall mit den Händen berühren, sondern Messer und Gabel benutzen. 

Die Elsässer nennen den Käse im Dialekt stolz „a drakig’r Stink’r“, ein dreckiger Stinker. Das Rezept stammt aus dem 7. Jahrhundert und wurde von den Mönchen unten in der Abtei entwickelt. Die wussten, wie man Rohmilch auf ihre köstlichste Art haltbar macht. In der Käserei vom Chistlesgut wird nach dem Melken das Lab in einem großen Topf auf 32 Grad erhitzt und dann weiterverarbeitet. Für den charismatischen Duft ist die Rotschmiere verantwortlich. Auf dem Käse siedelt sich ein Bakterium an, das fleißig Eiweiß und Fett abbaut und dabei anfängt, ein wenig zu müffeln. 

Illustration: Natascha Baumgärtner
Illustration: Natascha Baumgärtner

Ein wenig zu müffeln, das ist wirklich eine liebevolle Formulierung für das, was der Käse absondert. Dabei ist der Geschmack des Munsters überraschend mild und angenehm würzig. Trotzdem freut sich die Nase nach einem Besuch im Käsekeller über die frische Bergluft. Bei einer Wanderung auf den „Petit Ballon“ (Deutscher Name: Kleiner Belchen oder Kahler Wasen) begleitet uns der Duft aus Blumen und Kräutern.

Hier oben wachsen Silberdisteln, seltene Bergnelken und ein paar knorrige Sträucher, die Wind und Kälte trotzen. Die Jüngere-Dryas-Eiszeit brachte sogar die immergrüne Silberwurz aus dem Hohen Norden bis hierher. Ihre weiß-gelben Blüten erinnern an Buschwindröschen. Sie sind ein Magnet für die vielen fleißig summenden Insekten.

Nach zwei Stunden erreichen wir den Gipfel, von wo aus der Blick über die Rheinebene, zum Schwarzwald und bei klarem Wetter sogar bis zu den Alpen reicht. Die Kuppe des „Petit Ballon“, auf 1272 Metern, ist kahl und abgerundet. Der Berg soll den Kelten einst als Orientierungspunkt für den Sonnenkalender gedient haben. Vom Elsässischen Belchen aus gesehen, geht die Sonne hier zur Sommersonnenwende auf, im Frühling und Herbst tut sie das über dem Schwarzwälder Belchen und im Winter steht sie dann über dem Schweizer Belchen.

Heute ist der Gipfel kein Treffpunkt mehr für Astrologen, sondern für Modellflugfreunde – die Thermik ist für dieses Hobby ideal. Ein Dutzend bunte Leichtflugzeuge schwebt am klarblauen Himmel, bis sie zum nächsten abenteuerlichen Looping ansetzen. Für ein besonders gekonntes Flugmanöver klatschen die Zuschauer Beifall. Einer von ihnen ist Bernhard Hahn. Der 70-Jährige ist Dauercamper aus der Nähe von Stuttgart und wohnt, seit er in Rente ist, den Sommer über in einem Wohnwagen am Rhein. „Unvorstellbar, dass sich Deutsche und Franzosen hier einmal bis aufs Blut bekämpft haben, oder?“, sagt er und winkt zu seinen Freunden herüber. Die kleine Gruppe kennt sich seit Jahren, zusammen sprechen sie einen Mix aus Deutsch und Elsässisch und sitzen oft zum Picknick zusammen. „Dabei ist die Region heute so ein friedliches Fleckchen Erde. Wenn der liebe Gott in Frankreich zu Hause ist, dann hier“, ist sich Hahn sicher.
 

ELSASS: OBEN KARG, UNTEN ÜPPIG


Für ihn macht „die Kombination aus Oben und Unten“ den besonderen Reiz des Elsass aus. „Oben ist die Landschaft karg und aufgeräumt. Im Sommer ist es angenehm kühl, man geht wandern und entspannt. Außerdem kommt von hier die gute Milch, aus der so viele gute Sachen gemacht werden“, schwärmt er. „Unten liegen dann zauberhafte mittelalterliche Fachwerkdörfer und viele Burgen und Ruinen, da wird aus dem Vollen geschöpft. Entlang der Straße leuchten Kübel mit üppigen Geranien und auf den Feldern wächst es, dass es kracht.“ Das besondere Mikroklima macht die Region so fruchtbar. Es ist sonnig, regnet wenig, aber kontinuierlich. Gut für Gemüse, Obst und natürlich für den berühmten Elsässer Wein.

Auf dem Rückmarsch trägt der Wind schon von Weitem das friedliche Läuten der Kuhglocken herüber. Die Tiere sind Spaziergänger gewöhnt, heben nur kurz die Köpfe, wenn sie auf den schmalen Wegen über ihre Weide gehen. Sie grasen sogar dann friedlich weiter, wenn mal ein mutiger Tourist für ein Foto dicht vor ihnen postiert. Die besondere Fellzeichnung macht die Vogesenrinder zu einem beliebten Motiv. Sie sehen aus, als wären ihre Flecken zu einem breiten weißen Streifen auf dem Rücken und unter dem Bauch zu einem verschmolzen, das Fell an den Flanken glänzt schwarz.

Das Vogesenrind gehört zu einer aussterbenden Haustierrasse. Mittlerweile wird seine Arterhaltung vom französischen Staat und der EU finanziert, so dass die Tiere immer häufiger zu sehen sind. Auch der Weißstorch, das Wappentier der Region, wurde in einem groß angelegten Projekt erfolgreich wieder angesiedelt. Nachdem 1974 nur noch neun Brutpaare gezählt worden waren, leben heute wieder 800 bis 900 Storchenpärchen. „Ihr Klappern gehört zum Elsass, so wie der Wein und das gute Essen“, erklärt Virginie. „Man sagt, wo der Storch zu Hause ist, da wohnt das Glück.“

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