ZUKUNFT IST WÄHLBAR

100 Prozent wiederverwertbare Häuser, immunstärkende Architektur und autofreie Superblocks – die Realität bietet jede Menge Stoff für Visionen eines regenerativen Morgen. Wann fangen wir an?

Illustration: Anna Fedoseeva
Illustration: Anna Fedoseeva
Lena Bulczak Redaktion

Stuttgart im Juli 2045: In der Hauptstadt des Ländle hat eine neue Baukultur Einzug gehalten. Eine Hängebrückentour lädt zum Spaziergang über die begrünten Dächer der Innenstadt ein, vorbei an Gärten und Gemüsebeeten. Der “Neue Breuninger” hat sich von einem Shopping-Tempel in ein modulares Bürogebäude aus Holz verwandelt, multifunktional und ökologisch. Abends dient er als Treffpunkt für gemeinnützige Vereine. Ein kegelförmiges, von Termiten inspiriertes Lüftungssystem kühlt das Gebäude auch an heißen Sommertagen auf angenehme Temperaturen herunter. Die schöne neue Welt, wie sie sich die Autor:innen des Buches “Zukunftsbilder 2045” vorstellen, ist weder ein Science-Fiction-Spektakel mit fliegenden Autos und Robotern, noch füttert sie finstere Fantasien eines verwüsteten Planeten. Im Gegenteil, die Städte und Dörfer der Zukunft sind grün, lebensfroh und ihre Fortschrittlichkeit fußt in weiten Teilen auf Realutopien. Das heißt: Viele der skizzierten Innovationen wie das kegelförmige Lüftungssystem sind heute schon da oder zumindest technisch in greifbarer Nähe und werden im Buch lediglich hochskaliert.

Was also, wenn die Zukunft tatsächlich gar nicht so fern wäre? Wenn es heute schon möglich wäre, mit jedem Euro, den wir ausgeben, einen positiven Einfluss auf die Welt von morgen zu nehmen? Dann würde jedes Haus, das wir umbauen, jedes Möbelstück, das wir kaufen und jedes Samenkorn, das wir pflanzen, einen Unterschied machen. Genau deshalb, so Co-Autor Lino Zeddies, sei die Vorstellungskraft so wichtig: “Wir brauchen eine positive Vorstellung davon, wo wir hinwollen”, meint Zeddies. “Nur dann können wir aus dem Krisenmodus herauskommen.”

In der Debatte, was die Menschheit dem Klimawandel entgegenzusetzen hat, wird üblicherweise rational über technische Maßnahmen, Kosten und Emissionseinsparungen geredet. Emotionen wecken vor allem die Weltuntergangsszenarien, die es zu verhindern gilt und die Bequemlichkeiten, auf die wir verzichten sollen. So fühlen sich viele Menschen entmutigt, gelähmt, verzweifelt – oder sie schalten innerlich ab, sobald das Wort Klimawandel fällt. Positive Zukunftsbilder dagegen könnten wie Leitsterne den Weg weisen. Und dann sei prinzipiell innerhalb kurzer Zeit eine gewaltige Transformation möglich, mit der wir uns gesellschaftlich neu ausrichten, so Zeddies: “Die Technologien dafür sind schon da, aber ohne Einigkeit, wohin wir wollen, gelingt das nicht.”
 

ZUKUNFTSBILDER ALS LEITSTERNE
 

Wohin die Reise gehen könnte, beschreibt auch Trendforscherin Oona Horx Strathern. Jährlich gibt sie einen Trendbericht zur Zukunft des Wohnens heraus. Bezeichnenderweise fällt der in diesem Jahr aus, da ihre Energie in ein neues Buch geflossen ist, „Kindness Economy”, das sich eben dieser gesamtgesellschaftlich nötigen Transformation widmet, die auch Stadtplaner:innen, Architekten:innen und Baufirmen beschäftigen wird. Üblicherweise, so Horx Strathern, denken Firmen zunächst an ihren Profit, dann an den Planeten und erst zuletzt an die Menschen. Vorreiter der Kindness-Ökonomie wie der Outdoor-Hersteller Patagonia drehen diese Reihenfolge um und beginnen mit dem Menschen.

“Es gibt unzählige Unternehmen, die sich Umweltschutz auf die Fahnen geschrieben haben. Richtig interessant wird es aber erst, wenn man schaut, was sie für ihre Mitarbeiter:innen tun”, meint die Zukunftsforscherin. Denn: Wahrer Umweltschutz fange bereits beim Wohl jedes einzelnen Menschen an. Denn wer nicht ausreichend verdiene, sich ausgebeutet fühle oder keinen Job habe, werde nicht unbedingt viel Zeit und Geld in die Wahrung der planetaren Grenzen stecken. “Soziale Nachhaltigkeit braucht soziale Stabilität”, so Horx Strathern.

Ein Beispiel für dieses neue Mindset ist das US-amerikanische Wohnmöbel- und Designunternehmen MIO, das sich vorgenommen hat, Möbel herzustellen, die nicht nur erschwinglich, sondern auch regional, ökologisch und attraktiv gestaltet sind. Sie gehen von dem Prinzip des verantwortungsvollen Verlangens aus, das heißt, dass Kund:innen nachhaltige Produkte nicht aus Angst, Schuldgefühl oder Altruismus kaufen, sondern weil es sie wirklich danach verlangt. Das werde letztlich den kulturellen Wandel vorantreiben, den es brauche, um die Bedürfnisse und Wünsche der Verbraucher:innen mit dem Verhalten abzustimmen, das den Planeten wieder ins Gleichgewicht bringe.


DIE STADT WIRD DORF
 

Und so ist es kein Zufall, dass auch immer mehr Städte eine ganz ähnliche Strategie verfolgen. Paris’ Bürgermeisterin Anne Hidalgo hat sich mit der Maxime der 15-Minuten-Stadt einen radikalen, bedürfnisorientierten Umbau des städtischen Raums vorgenommen. Die Idee dahinter: Alle Bewohner:innen sollen künftig ihre Bedürfnisse befriedigen können, ohne dafür länger als eine Viertelstunde mit dem Rad oder zu Fuß zurückzulegen – von Arbeit und Einkaufen bis hin zu Freizeit und Gesundheit. Und je geringer der Radius innerhalb dessen diese Dinge zugänglich sind, so die Annahme, desto höher die Lebensqualität. Die Stadt verdörflicht sich. Dieser Trend hat nebenbei noch das Potenzial, dem großen Problem der Einsamkeit in den Städten Abhilfe zu schaffen, weil er Raum für Gemeinschaft und Verbindung schafft.

Barcelona ging noch einen Schritt weiter und bündelt bereits existierende Häuserblocks zu den beliebten Superblocks, innerhalb derer kein Durchgangsverkehr mehr möglich ist. Stattdessen entstehen dort Oasen zum Entspannen und Plauschen. Schweden wiederum packte noch eins drauf und rief das Konzept der Ein-Minuten-Parks ins Leben. Dabei werden stadtweit kleine Module in der Größe eines Parkplatzes zur Verfügung gestellt und die Bewohner:innen können entscheiden, wie das Modul genutzt wird, als Stadtgarten, Sitzgelegenheit oder E-Bike-Ladestation.

Dann ist es nur noch ein kleiner gedanklicher Schritt bis im Jahr 2028 Fußballstars und Popmusiker:innen in München die Schlüssel zu ihren Sportwagen öffentlichkeitswirksam begraben: “Autofahren wurde uncool”, visionieren die Autor:innen der Zukunftsbilder 2045. Denn so mancher Verzicht – etwa auf ein Auto für jeden der acht Milliarden Menschen auf Erden – sei in Wahrheit ein Gewinn, nämlich an Natur, Gesundheit und Lebensqualität. Statt lauter Motorengeräusche wären demnach in Münchens autofreier Innenstadt nur mehr Vogelgezwitscher, Kinderlachen und das Klingeln der Radelnden zu hören.

Das steigende Nachhaltigkeitsbewusstsein zeigt sich heute nicht nur in den Städten, sondern auch im Baustil. Die Städte werden grüner und menschenfreundlicher. Ob vertikal begrünte Hochhäuser, holzverkleidete Innenräume, die das Immunsystem ähnlich boostern wie ein Aufenthalt in der freien Natur, oder probiotische Architektur, die gesundheitsfördernde Mikroben in Gebäuden kultiviert. Als regeneratives Baumaterial rückt auch zunehmend Pilzzement in den Blick. Um Bausteine oder ganze Wände aus Myzel, dem Wurzelgeflecht des Pilzes, herzustellen, mischen die Forscher:innen das Pilzgewebe zum Beispiel mit Holzspänen oder anderen pflanzlichen Abfällen wie etwa Getreideschalen. Der Vorteil: Während die Herstellung von Beton und Stahl sehr CO2 intensiv ist, bindet der Pilz sogar CO2 , ist also ein Klimaschützer. Und wird ein Pilzhaus mal abgerissen, landet es auf dem Kompost. 

Illustration: Anna Fedoseeva
Illustration: Anna Fedoseeva

KONSUM OHNE REUE
 

In ihrem Home Report 2023 nennt Oona Horx Strathern diverse weitere “radikale” Materialien, wie Eierschalen, die zu Fliesen veredelt werden und übrig gebliebene Knochen aus der Fleischproduktion, aus denen Unternehmen Lichtschalter und Steckdosen herstellen. “Wir können über Knochen reden, über Eierschalen oder auch Pilze. Das Radikalste ist für mich jedoch die Idee dahinter: Cradle-to-Cradle”, schwärmt die Trendforscherin. Heißt: In einer konsequenten Kreislaufwirtschaft gibt es keinen Müll mehr, weil alles, was von einem Produkt nach seiner Nutzung bleibt, Ausgangsstoff für etwas Neues ist. Eben so, wie es die Natur selbst vormacht. “Wir haben ausreichend Ressourcen, wir müssen sie nur besser nutzen”, sagt Horx Strathern.

Die Triodos Bank, ein auf Nachhaltigkeit ausgerichtetes niederländisches Kreditinstitut, hat seinen nicht zufällig kreisrunden Hauptsitz nach diesem Prinzip bauen lassen. Das Gebäude besteht aus Holz, Stahl und Glas – zusammengehalten von exakt 165.312 Schrauben – und ist komplett demontabel. Alle verwendeten Einzelteile sind in einem Materialpass erfasst und ohne Wertverlust wiederverwendbar.

Das entsprechende Label des gemeinnützigen Cradle to Cradle Products Innovation Institute gilt zwar vielen heute noch als Luxus, es haben jedoch bereits über 200 Hersteller und Zulieferer von Baumaterialien das Antragsverfahren erfolgreich durchlaufen. Darüber hinaus gibt es eine wachsende Auswahl an zertifizierten Produkten für die Innenraumgestaltung, von Bodenbelägen über Armaturen bis hin zu Remix-Farben und Stoffen.
 

UMWELTBEWUSSTSEIN ALS LEBENSPRINZIP
 

In dieses Bild passt auch der Trend zur “Re-loved Revolution”: Für Millenials ist der Kauf von gebrauchten Möbeln schon heute eine Selbstverständlichkeit. Umweltbewusstsein wird in dieser Generation zusehends zum Lebensprinzip. Und wer, wie die Digital Nomads, ohnehin häufig umzieht, findet auch einen persönlichen Gewinn darin, Möbel zu mieten statt zu kaufen. „Menschen lieben Konsum. Das muss sich auch gar nicht ändern. Wir müssen ihnen nur neue Wege eröffnen, den Konsum nachhaltig zu gestalten”, sagt Oona Horx Strathern.

Während das Leasen von Kleidung, Kunst oder Spielzeug immer gängiger wird, entwickelt sich das Mieten von Möbeln der Expertin zufolge eher langsam. Es gibt jedoch über Nornorm, Cort, Funky Furniture und John Lewis & Partners bereits mancherorts Tische, Stühle, Sofas, Teppiche und ganze Heim- und Büroausstattungen zu mieten. Ausgemusterte Möbel lassen sich dann im Sinne der Kreislaufwirtschaft reparieren, renovieren und weiterverkaufen.
 

BÜRGER:INNEN INS BOOT HOLEN
 

So braucht der sozialökologische Wandel letztlich nicht nur mutige Unternehmer:innen, kreative Stadtplaner:innen und pfiffige Ingenieur:innen, er braucht auch viele engagierte und motivierte Bürger:innen. Wie das gehen kann, zeigt ein Blick nach Schweden. 2013 rief die Schwedische Regierung das Projekt “Viable Cities” aus, in dem sich eingangs 9 heute 23 schwedische Städte das sportliche Ziel setzten, bis 2030 klimaneutral zu sein. Doch nach ein paar Jahren stellten sie fest, dass die Menschen nicht viel mit dem Ziel verbanden, außer vielleicht der Furcht, dass ihnen jemand ihre Hamburger, Autos und Trips nach Spanien verbieten will.

Und so kam es, dass das staatliche Projekt 2019 den Journalisten Per Grankvist als “Chief Storyteller” der Viable Cities anheuerte. Auch er setzt auf die Kraft von positiven Zukunftsbildern und Geschichten. Dabei ist die Welt, in der sich seine Klimaheld:innen bewegen, bewusst weder rosig utopisch noch düster dystopisch angelegt. Im Gegenteil, es geht ihm vielmehr darum aufzuzeigen, wie vieles gleich bleiben wird.

Ihren Reiz entfalten die Bildergeschichten dadurch, dass sie die Betrachter:innen emotional berühren und die Zukunft so erfühlbar machen. Beispielsweise fährt ein Mann morgens mit dem Lastenrad zum Recyclinghof und ist abends so betrunken, dass er sich lieber mit dem selbstfahrenden E-Auto nach Hause befördern lässt. Die Botschaft hinter den Geschichten lautet im Kern: “Die Zukunft ist schon da”, so Grankvist “Es gibt schon heute Menschen in jeder Stadt, die innerhalb der planetaren Grenzen eine hohe Lebensqualität genießen.” 

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