Zukunft des Wohnens

Wird die Welt nach Corona eine andere sein? Kaum eine Frage wird gerade so heftig diskutiert wie die nach den Effekten der Krise. Das gilt insbesondere für die Themen Wohnen, Leben und Arbeiten.
Illustration: Josephine Rais
Interview: Klaus Lüber Redaktion

Ein Gespräch mit der Trendforscherin Oona Horx-Strathern über Homeoffices, vegane Hotelzimmer und warum wir unser Zuhause brauchen, um uns daran zu erinnern, wer wir sind.

 

Frau Horx-Strathern, als Zukunftsforscherin beschäftigen Sie sich besonders mit dem Thema Wohnen. Wie beurteilen Sie die Auswirkungen der Corona-Pandemie in diesem Zusammenhang?
Die Krise stellt ja auf sehr vielen Ebenen eine enorme Herausforderung für uns dar. Wir stellen vieles infrage, sind gezwungen, uns mit Dingen zu beschäftigen, die wir lange ignoriert oder unterdrückt haben. Und das gilt eben auch für unsere Art zu wohnen. Allein durch die Zeit, die wir im Zuge der Kontaktbeschränkungen zu Hause verbracht haben oder immer noch verbringen, hat sich etwas verändert in der Beziehung zu unseren Wohnungen und Häusern. Wir nehmen unsere häusliche Umgebung anders wahr. Wir wohnen bewusster.

 

Heißt das, wir haben unser Zuhause bislang vernachlässigt?
Obwohl Menschen grundsätzlich wohnlich sind und es auch aus psychologischen Gründen wichtig ist, nicht ganz auf das Konzept eines „Zuhauses“ zu verzichten, streben wir in einer zunehmend vernetzten und globalisierten Welt gleichzeitig nach immer größerer Mobilität und Flexibilität. Besonders Kreative haben sich gerne mit dem Bild des modernen Nomaden identifiziert. Im Kern geht es dabei um das Gefühl des Nicht-Gebundenseins. Während wir in der Geschichte eine lange Phase hatten, in der es üblich war, eine enge Beziehung zu unseren Wohnungen und Häusern aufzubauen, versuchen wir heute als individualistische mobile Wesen, diese Bindungen zu lockern. Wir wollen ein Zuhause, uns aber dennoch frei fühlen.

 

Ist das nicht paradox?
Das ist es in der Tat. Es ist nämlich so: Je weniger Bindung wir zu unserem Zuhause haben oder zulassen, desto mehr brauchen oder vermissen wir es. Der Psychologe Michael Lehofer hat das in einem seiner letzten Bücher untersucht: Gerade diejenigen Menschen, die angeben, im Grunde nicht mehr auf das Konzept eines klassischen Zuhauses als festen Lebensmittelpunkt angewiesen zu sein, sind interessanterweise oft diejenigen, die besonders an Gefühlen von Heimweh leiden. Unser Heim, das war für viele die vernachlässigte Tante in der Familie – wir wussten, sie brauchte mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung, aber wir fanden nie die Zeit dafür.

 

Jetzt haben wir also endlich Zeit, uns mehr um unsere Wohnungen zu kümmern. Was heißt das konkret?
Es gab schon vor Corona einen Wohn-Trend namens Tidyism, eine von drei großen Entwicklungen, die wir auch in unserem aktuellen Home Report 2020 beschreiben. Es geht dabei nicht um Minimalismus, sondern um den Wunsch nach Entrümpelung, nach einem Aufräumprozess, der auch das Mentale umfasst. So wie es vor allem die Bestseller-Autorin Marie Kondo in ihrem Buch „Magic Cleaning“ beschrieben hat. Für viele, mich eingeschlossen, war das ein eher dekadenter Ansatz, eine Art Throwaway Fashion für Besserverdienende. Und ich hatte den Eindruck, dass Magic Cleaning trotz des Hypes in vielen Bücherregalen verstaubt.

 

Und jetzt kommt das Buch tatsächlich zum Einsatz?
Zumindest lachen nicht mehr so viele darüber, sondern merken: Es sind tatsächlich enorm viele Dinge, die man über die Jahre und Jahrzehnte Zuhause angehäuft hat. 10.000 Gegenstände sind es übrigens im Durchschnitt. Und wenn man sich das bewusst macht, stellt man sich natürlich die Frage: Brauche ich das wirklich alles? Diesen Effekt haben wir ja tatsächlich gespürt. Einmal durch den Run auf Wertstoffhöfe, den man in vielen Ländern beobachten konnte. Oder auch die rasante Zunahme von sogenannten Selfstorage-Lösungen zur Auslagerung von Möbeln.

 

Was aber auch an einem zweiten Trend liegen könnte, den Sie im Report mit dem Begriff McLiving beschreiben: die Tendenz zu immer kleinerem Wohnraum.
Mikrowohnen ist ein anderes Wort dafür. Sie haben recht, auch diesen Trend beobachten wir schon lange. Da städtischer Wohnraum inzwischen so teuer ist, wohnen wir eben auf immer kleinerem Raum. Den fehlenden Platz kompensieren wir dann einfach über die Zeit, die wir außerhalb unseres Zuhauses verbringen, was ohnehin unserem flexiblen, mobilen Lebensstil entspricht. Soweit die Idee. Allerdings bin ich inzwischen skeptisch, ob es sich hierbei wirklich um einen nachhaltigen Trend handelt.

 

Warum?
Weil uns die Krise zum einen gezeigt hat, was für ein sensibles Gut öffentlicher Raum ist. Und ohne diesen funktioniert Mikrowohnen ja nicht wirklich. Stellen Sie sich vor, Sie müssten dort einen Lockdown verbringen. Zum anderen gibt es in unseren Städten ganz grundsätzlich zu wenig Zugang zu nicht-privatem Raum. Und das ist nicht nur ein Problem mangelnder Flächen, sondern auch ein Problem schlechter Gestaltung. Die Maßstäbe müssen stimmen, wie der dänische Architekt und Stadtplaner Jan Gehl in seinen Vorträgen immer wieder betont.


Wenden wir uns gedanklich wieder den Wohnungen zu. Über Marie Kondos magisches Aufräumen haben wir schon gesprochen. Wie beurteilen Sie den ganzen Themenkomplex Gemütlichkeit, also den Wunsch nach Sicherheit und Geborgenheit?
Auch das hat durch die Krise natürlich deutlich an Relevanz gewonnen. Früher hieß das Cocooning, heute verwenden wir gerne den dänischen Begriff Hygge.

 

Sie meinen Kerzen, schöne Kissen und Kuchen auf einem flauschige Teppich vor einem flackernden Kamin?
Das ist vielleicht die erste Assoziation zu Hygge, wie wir es inzwischen aus vielen Design-Magazinen kennen. Aber letztlich geht es dabei um weit mehr. Es geht um das Bedürfnis nach Schutz, richtig, aber auch um Kontrolle, um einen intensiveren Zugang zu den Dingen, die uns umgeben. Zu denen wir ja, das darf man nicht vergessen, immer auch einen emotionalen Bezug haben. Denken Sie an einen alten Küchentisch mit Spuren aus der Zeit, als die Kinder noch klein waren, einen Kochtopf mit Rußflecken, die uns an ein schönes Essen erinnern. Unsere Wohnungen repräsentieren unsere Gedanken, unsere Geschichten, unsere Ideen. Wir brauchen unser Zuhause, um uns daran zu erinnern, wer wir sind.

 

Sie nennen das auch autobiografisches Wohnen. Das funktioniert natürlich besser mit Möbeln, die auch ein paar Jahre halten.
Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Ein 20 Jahre alter solider Holztisch ist natürlich etwas anderes als ein Modell von IKEA, das zwar schick aussieht, aber nach fünf Jahren seinen Geist aufgibt. Genau deshalb plädiere ich auch dafür: Einfach mal in den Keller gehen und schauen, was da noch so alles steht. Und das ein oder andere Möbelstück, das man eigentlich schon aussortiert hatte, wieder nach oben holen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, IKEA-Möbel haben absolut ihre Berechtigung. Das Schöne ist ja, dass sich jeder gutes Design leisten kann. Es ist nur so, dass wir jetzt, da wir viel Zeit in unseren Wohnungen verbringen, besser merken, was uns wirklich wichtig ist.

 

Ihr Mann Matthias Horx äußert sich in seinem neuen Buch „Die Zukunft nach Corona“ sehr zuversichtlich zum positiven Veränderungspotenzial der Krise. Teilen Sie seinen Optimismus?
Grundsätzlich ja. Nehmen wir zum Beispiel das Thema Ökologie. Natürlich weiß niemand genau, wie die Menschen wirklich reagieren, wenn wir in einen Zustand des „New Normal“ kommen. Aber wir merken im Bereich Wohnen sehr wohl, dass es substanzielle Veränderungen gibt. Der Wunsch nach Möbeln, die länger halten, die eine Geschichte erzählen, spiegelt auch den Wunsch nach mehr Nachhaltigkeit, nach einer Alternative zur sogenannten Wegwerf-Ökonomie, der wir ja alle leider auf die eine oder andere Weise immer noch verhaftet sind, wider. Und wenn eine Hotelkette wie Hilton jetzt die ersten veganen Hotelzimmer anbietet, die komplett auf Leder, Federn oder Seide verzichten, ist das ein weiteres Indiz, dass sich auch im Markt etwas verändert.

 

Wie beurteilen Sie das ganze Thema Homeoffice? Wird sich das Arbeiten zu Hause als Alternative zur Präsenz im Büro nun endlich durchsetzen?
Wir diskutieren tatsächlich schon eine kleine Ewigkeit über das digitale Arbeiten zu Hause. Als ich vor 25 Jahren für eine Hamburger Trendagentur arbeitete, waren wir fest überzeugt: In Zukunft sitzen wir alle in unseren Wohnungen vor unseren Rechnern. Was wir damals aber unterschätzt haben: Menschen sind hochsoziale Wesen, das Alleine-Arbeiten zu Hause ist trotz aller Vorteile für viele gar nicht so attraktiv. Und so entstand ein neuer Trend: Das Co-Working. Jetzt haben wir aber die Situation, dass viele von uns quasi zum Homeoffice gezwungen wurden und sich auf teilweise sehr kreative Weise damit arrangieren. Schön finde ich in diesem Zusammenhang zum Beispiel die neue Wortschöpfung „Shedquarter“ für ein zum Arbeitsplatz umgebautes Gartenhäuschen. Ich denke, die Zeit des Homeoffice – oder „Hoffice“ wie ich es auch gerne nenne – ist nun endlich doch noch gekommen. Es wird zum festen Bestandteil unserer Arbeitswelt werden.

 

Mehr Zeit in unseren Wohnungen zu verbringen und das Zuhause wieder verstärkt zum Lebensmittelpunkt zu machen, kann also sehr erfüllend und inspirierend sein. Es gibt aber auch eine Schattenseite, auf die Sie in Studien und Vorträgen schon seit langem hinweisen.
Ja, und das ist das Thema Einsamkeit. Wir haben es nun einmal mit einer sehr individualistischen Gesellschaft zu tun – in den großen Städten zählt man bis zu 50 Prozent Single-Haushalte, also Menschen, die im Grunde allein leben. Das ist schon seit langem ein Problem und die Krise hat uns das natürlich noch einmal sehr deutlich ins Bewusstsein gerufen. Hierin liegt aber auch eine Chance: Endlich wird das Thema offen angesprochen. In den Städten gewinnen Nachbarschaften an Bedeutung, wir spüren den Wunsch nach mehr Gemeinsamkeit im unmittelbaren Wohnumfeld, die Sehnsucht nach einem neuen Heimatbegriff im urbanen Umfeld. Vertical Village nennen wir diesen Trend. Das wird einen großen Einfluss darauf haben, wie wir in Zukunft Häuser bauen und wohnen. Wenn wir es richtig machen, kann uns die Krise dabei helfen, Lösungen zu finden.

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