Aus der Krise neue Kraft

Herausforderungen sind dazu da, gemeistert zu werden – das klingt wie eine Durchhalteparole. Doch die Aggression Russlands, die Inflation und die Klimakrise haben bei all ihren Schrecken etwas Positives: Sie schweißen zusammen und beflügeln die Innovationskraft.

Illustration: Anna Zaretskaya
Illustration: Anna Zaretskaya
Mirko Heinemann Redaktion

Erste gute Nachricht: Es wird in diesem Winter keinen Gasnotstand geben. Der Dank hierfür gebührt den Anrainerstaaten Norwegen, Belgien und den Niederlanden. Sie haben dafür gesorgt, dass trotz der Kappung der russischen Gaslieferungen durch die Pipeline Nord Stream 1 zunächst auf 20 Prozent, dann auf null Prozent ihrer Kapazität die deutschen Gasspeicher weiter gefüllt wurden. Mitte September war bereits ein Füllstand von 90 Prozent erreicht. Das war schon mehr als die ursprünglich zum 1. Oktober angepeilten 85 Prozent. Am 1. November sollen es mindestens 95 Prozent sein. Auch wenn die Gaslieferungen nicht wieder aufgenommen werden, wovon auszugehen ist, gehen Experten davon aus, dass dieses Ziel erreicht werden wird und die Gasversorgung folglich nicht gefährdet ist, zumindest nicht im kommenden Winter.

Zweite gute Nachricht: Die Bauarbeiten für drei Importterminals für Flüssigerdgas (LNG) laufen schneller als gedacht. Wilhelmshaven liegt im Plan. Wenn alles weiterhin so gut läuft, wird ab dem 23. Dezember mit Schiffen angeliefertes Flüssigerdgas nach seiner Umwandlung in gasförmigen Zustand über eine noch im Bau befindliche Pipeline ins deutsche Gasnetz eingespeist werden. Mit dem Importterminal wird Deutschland etwa 8,5 Prozent des deutschen Gasbedarfs decken. Kurz vor Redaktionsschluss erreichte uns die Nachricht, dass zwei weitere Terminals Ende des Jahres bereits am Start sein sollen: Brunsbüttel zum Jahreswechsel, das LNG-Terminal am Ostseehafen Lubmin sogar bereits am 1. Dezember. Damit wären weitere knapp 15 Prozent der Gasversorgung gesichert.

Nun zu den schlechten Nachrichten. Daran herrscht derzeit wahrlich kein Mangel. Das gesamte ökonomische System der Globalisierung scheint derzeit in sich zusammenzufallen. Überall liest man von Lieferengpässen, Kostenexplosionen, Personalnot, Zollgrenzen, Sanktionen. Russland hat sich mit seinem Angriffskrieg in Europa als globaler Handelspartner für demokratisch legitimierte Staaten vollkommen diskreditiert. Die Antwort auf die Krisen kann allein in der Anpassungsfähigkeit und dem Erfindungsreichtum des Menschen liegen. Deutschland ist hier traditionell stark.

Jahrelang lief es blendend in der deutschen Wirtschaft. Energie war billig, die Gewinne sprudelten. Die Wachstumslokomotive Deutschland zog halb Europa mit, profitierte dabei vom Binnenmarkt und der Freizügigkeit von Unternehmen und Arbeitnehmenden. Dass sich das Wirtschaftsklima nun eintrübt, liegt auch, aber nicht nur an Russland. Die Entwicklung bei den Exporten sei ganz generell ein Grund zur Sorge, so eine Verlautbarung des BDI, auch der Deutsche Industrie- und Handelskammertag DIHK verweist auf einen Abwärtstrend im Außenhandel. Im Juli verringerten sich die Ausfuhren in die USA im Vergleich zum Vormonat um 13,7 Prozent auf 12,3 Milliarden Euro. Insgesamt sank die Nachfrage nach Waren „Made in Germany“ in vielen wichtigen Absatzmärkten, auch in China. Insgesamt sanken die deutschen Ausfuhren binnen Monatsfrist um 2,1 Prozent, wie das Statistische Bundesamt mitteilte.

Die international verzahnten Lieferketten mit China haben einst den Wohlstand entlang der gesamten Lieferkette gesteigert. Nun aber sorgt die Abhängigkeit von der muskelprotzenden Diktatur zunehmend für mulmige Gefühle. Die Befürchtung: Zum Angriffskrieg in der direkten europäischen Nachbarschaft könnten noch weitere hinzukommen. Etwa in Fernost. Oder in Afrika, als Stellvertreterkonflikte um Einfluss und Rohstoffe. Ein globaler Wettlauf um Ressourcen könnte entfacht werden, der nicht nur mit den Instrumenten des Handels ausgefochten wird. Plötzlich scheint ein neuer Kalter Krieg möglich. Oder Schlimmeres.

Die Menschheit teilt sich derzeit zwei Lager: Die eine Seite versucht mit vereinten Kräften, die Klimakrise zu begrenzen und deren Auswirkungen in Schach zu halten. Die andere scheint gewillt zu sein, jegliche Kollateralschäden in Kauf zu nehmen, um individuelles oder nationales Machtstreben zu befriedigen. Zu allem Überfluss war es Europa selbst mit seinem Gashunger, Deutschland ganz vorne, das den betreffenden Staaten die finanziellen Mittel dazu verschaffte.

Höchste Zeit, umzuschwenken und sich auf die eigenen Stärken zu besinnen. Mehr Autarkie, muss die Devise lauten. So wie kein Unternehmen vom Auftrag eines einzigen Kunden abhängig sein sollte, so sollte auch Deutschland niemals auf einen Partner allein setzen. Zu dieser Devise zählt auch, beim Gewinnstreben Abstriche zu machen, wenn die Vernunft es gebietet. Und alte Tugenden reaktivieren: Gemeinsinn. Rücksicht. Solidarität.

Herausforderung Gaskrise
 

Derzeit hängt Deutschlands Zukunft an der Bereitschaft von verbündeten Demokratien, die deutsche Industrie und die Verbraucher mit Gas zu versorgen. Zwar sei keine Gasversorgungslücke bis Ende 2023 zu erwarten, so die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute in einer Gemeinschaftsdiagnose. dennoch ist die Versorgung der Industrie nicht in jedem Fall gesichert. So ergebe sich mit einer Wahrscheinlichkeit von 20 Prozent im kommenden Jahr eine Gaslücke von mindestens 23,8 TWh, im sehr unwahrscheinlichen schlechtesten Fall fehlen sogar fast 160 TWh.
Durch den daraus resultierenden Produktionsausfall in den gasintensiven Industrien und ihren unmittelbaren Abnehmern käme es den Berechnungen der Institute zufolge im Worst Case zu einem Wertschöpfungsverlust von 283 Milliarden Euro. Dies entspräche knapp 10 Prozent der Wirtschaftsleistung des Jahres 2021. Die gesamtwirtschaftlichen Einbußen aber dürften noch deutlich größer ausfallen, so im Wortlaut die Gemeinschaftsdiagnose, da die unmittelbaren Effekte noch konjunkturell verstärkt würden. Außerdem würde den Haushalten infolge höherer Energiepreise Kaufkraft entzogen.

Für das gesellschaftliche Klima wäre dies eine „Zerreißprobe“, so der Präsident des Deutschen Städtetages, Oberbürgermeister Markus Lewe aus Münster. Er erklärte, man müsse in schwierigen Zeiten zusammenstehen. „Wir brauchen einen Schulterschluss und eine klare Kommunikation. Und innerhalb der Stadtgesellschaften brauchen wir die gemeinsame Verabredung mit den Unternehmen und Vereinen vor Ort: Alle müssen mitziehen.“ Es sei gut, dass Bund, Länder und die Städte gemeinsame Einsparziele verfolgen und die erste Rechtsverordnung dafür vorliege. „In allen Bereichen müssen wir jetzt sparen und Energieschleudern ausmachen. Nur dann kommen wir gut durch den nächsten Winter“, so Lewe. 

Herausforderung Inflation
 

Laut der Gemeinschaftsdiagnose der führenden Wirtschaftsinstitute in Deutschland wird die Inflationsrate im Jahr 2022 wohl etwa 6,1 Prozent betragen. Für das Jahr 2023 wird eine Inflationsrate von 2,8 Prozent prognostiziert. Auch die EU-Kommission hat ihre bisherige Zuversicht aufgegeben, sie erwartet eine Rekordinflation in Deutschland von 7,9 Prozent, in der EU insgesamt sogar von 8,3 Prozent. Begründung der Kommission für den Pessimismus: „Zusätzlich zum starken Preisanstieg im zweiten Quartal dürfte ein weiterer Anstieg der europäischen Gaspreise auch über die Strompreise an die Verbraucher weitergegeben werden.“

Der explodierende Strompreis wird viele Unternehmen an den Rand ihrer Überlebensfähigkeit bringen. Viele haben noch jüngst ihre Energieversorgung auf mit Gas betriebene Blockheizkraftwerke umgestellt – auf Anraten der letzten Regierung, wohlgemerkt. Nun fällt ihnen das auf die Füße. Manache rüsten ihre BHKWs auf Öl um, andere kapitulieren vor den immensen Rechnungen, die da kommen. Und das betrifft nicht nur Energie. Als letzte Einrichtung hatte die Bundesbank ihre Schätzungen zur weiteren Entwicklung der Verbraucherpreise erneut nach oben korrigiert. „Insgesamt könnte die Inflationsrate im Herbst eine Größenordnung von 10 Prozent erreichen“, hieß es dort. Für zusätzlichen Kostendruck sorgt die Anhebung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro pro Stunde ab Oktober.

Die Gretchenfrage lautet: Wäre diese extreme Teuerung vorauszusehen gewesen? Die Klimakrise war doch kein gut gehütetes Geheimnis, und dass der Preis vor allem für fossile Energie eigentlich stark steigen müsste, war lange erwartet worden. Der Einsatz von russischem Gas hat die Preise künstlich niedrig gehalten, dringend nötige Reformen wurden einfach in die Zukunft verschoben. Nicht von ungefähr wurde der vorige Wirtschaftsminister Peter Altmaier von manchen „EE-Verhinderungsminister“ genannt. Erneuerbare Energien? Nein, danke.

Herausforderung Klimawandel
 

Der vergangene Sommer war einer der wärmsten Sommer seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, vielerorts in Deutschland der wärmste aller Zeiten. Außerdem der trockenste und der mit der höchsten Sonnenscheindauer. Wer den menschengemachten Klimawandel immer noch abstreitet, kann das tun. Dennoch wird er oder sie der Entwicklung nicht entkommen: Es wird immer heißer in Deutschland und auf dem gesamten Planeten. Und die Menschen tun gut daran, sich darauf einzustellen. Was – im Übrigen – nicht nur Nachteile mit bringt.  
So im Hinblick auf den Winter, vor dem so manchem angesichts der immensen Heizkosten das Gruseln kommen mag. Langzeitprognosen hinsichtlich des Wetters sind nicht sicher zu treffen. Wer sich das traut, ist der US-Wetterdienst NOAA. Er prognostiziert für Deutschland und Europa einen besonders warmen Winter. Über den gesamten Zeitraum Dezember bis Februar gemittelt soll der Winter danach um rund 2 Grad wärmer ausfallen als im Klimamittel der Jahre 1991 bis 2020. Sollte dies so eintreten, dann wäre es ein rekordwarmer Winter und für Haushalte und die Wirtschaft wäre das ein echter Segen.

In Sachen Niederschläge sehen die Prognosen allerdings weiterhin düster aus. Von Dezember bis Februar soll es lediglich „normale“ Niederschlagsmengen geben, allerdings wäre dringend viel Regen notwendig, um das Feuchtigkeitsdefizit im Erdreich auszugleichen. Für Deutschlands Zukunft bedeutet das: höchste Zeit, sich an den Klimawandel anzupassen. Der Umgang mit Wasser und Energie muss generell bewusster erfolgen, das fängt bei der Toilettenspülung an und hört beim Duschen nicht auf. Regenwasser sammeln, Brauchwasser nutzen, Natur und Landwirtschaft auf Pflanzen umstellen, die mit Trockenheit klarkommen.

Herausforderung Klimaschutz


Deutschland hat sich verpflichtet, seine Treibhausgasemissionen in den kommenden Jahren deutlich zu reduzieren. Der Ausbau erneuerbarer Energien kann den Verbrauch fossiler Energieträger aber nur teilweise ersetzen. Deswegen muss der Energieverbrauch stark reduziert werden. Wenn die Produktion der Volkswirtschaft dabei nicht sinken soll, müssen die Produktionstechnologien so verbessert werden, dass sie mit deutlich weniger Energie auskommen: Energiesparender technischer Fortschritt ist nötig. Ein Hintergrundpapier der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute hat versucht abzuschätzen, wie stark der energiesparende technische Fortschritt ausfallen müsste, damit eine produktionsneutrale Verringerung des Energieeinsatzes gelingt.

Die Ergebnisse zeigen, dass eine ähnlich starke Steigerung der Rate des energiesparenden technischen Fortschritts wie nach den Ölpreisschocks der 1970er-Jahre erforderlich ist, um Produktionseinbußen zu verhindern. Ein doppelt so schneller Ausbau erneuerbarer Energie kann die notwendige Technologiesteigerung etwas senken. Selbst dann bleibt jedoch eine Erhöhung der Energieeffizienz der Produktion entscheidend. Erhöhte Forschungsaktivitäten werden angemahnt, um die Treibhausgasemissionsziele ohne Produktionseinbußen zu erreichen.

Herausforderung Konjunktur


Die aktuelle Gemeinschaftsdiagnose der führenden Wirtschaftsinstitute wird am 29. September, nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe, veröffentlicht. Als letzte Einrichtung hatte das Münchner Ifo-Institut seine Konjunkturprognose für dieses und das kommende Jahr mitgeteilt. Danach erwartet das Institut 2023 ein Schrumpfen der Wirtschaftsleistung um 0,3 Prozent, für dieses Jahr nur noch 1,6 Prozent Wachstum. „Wir gehen in eine Winterrezession“, so der Leiter der Ifo-Konjunkturprognosen, Timo Wollmershäuser. EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni schloss nicht aus, dass sich Europa auf eine Rezession vorbereiten müsse.

Die Zinse steigen, Kredite werden teurer. Auf der anderen Seite lagern die Deutschen ein Privatvermögen von knapp einer Billion Euro auf Girokonten. Das Geld sollte genutzt werden, entweder als Direktinvestition in Anschaffungen oder Bauvorhaben oder als Geldanlage in Aktien oder Fonds. Dort ertüchtigt es die Wirtschaft, Erfindungen zu machen, Innovationen auszurollen und in den nächsten Aufschwung zu starten. Geld horten macht jedenfalls keinen Sinn mehr. Warten auf eine bessere Zukunft auch nicht. Höchste Zeit, sie anzupacken.

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