Wenn der Energielandwirt Martin Laß für seine neuen Nahwärmekunden die Straße aufbuddeln lässt, dann lohnt es sich so richtig. Zusätzlich zu den Nahwärmerohren werden zugleich Glasfaserkabel und Stromleitungen für Elektroautos verlegt. Geht es nach seinen Plänen, wird die 8.000-Seelengemeinde Gettorf in Schleswig-Holstein schon zehn Jahre früher klimaneutral sein als es die Landesregierung vorgegeben hat.
Das Dorf ist damit eine Art Reallabor, in dem der Agraringenieur vormacht, wie eine ausfallsichere Komplettversorgung mit erneuerbaren Energien aussehen könnte. Knapp 20 Jahre ist es her, dass Renate Künast als Bundeslandwirtschaftsministerin den Bauern in Aussicht stellte, die “Ölscheichs von morgen” zu sein. Auch wenn dieser Vergleich größeren Reichtum suggerieren mag, als das Gros der Landwirte auf ihren oftmals gepachteten Flächen erwirtschaften können, so machen Pioniere wie Martin Laß doch vor, dass Umweltschutz, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit keine Gegensätze sein müssen.
Ein Dorf als Reallabor
Schon heute ist Energie die zweitwichtigste Einkommensquelle der Landwirtschaft. Als Energiemacher und Energiedienstleister kommt den Bauern eine gewichtige Rolle für das Gelingen der Energiewende zu. Sie haben die Böden, um Biomasse zu produzieren und auch Platz für Freiflächen-Photovoltaik und Windräder. Als regionale, erneuerbare Energiezentralen können sie so umliegende Dörfer und Ortschaften mit grünem Strom und Wärme versorgen. Die alte Teller-Tank-Diskussion ist durch die Agri-Photovoltaik weitgehend vom Tisch. Längst ist klar, dass der Ausbau der Erneuerbaren nicht zulasten des Nahrungsmittelanbaus gehen muss.
Ebenfalls etwa 20 Jahre ist es her, da übernahm Martin Laß den Betrieb seiner Eltern. Seitdem mästet er Schweine und betreibt Ackerbau. Vor 14 Jahren kam eine Biogasanlage hinzu, mit der er Strom und Wärme erzeugt. Vom Biogasbetreiber zum Energieunternehmer - mit diesem Werdegang hat Martin Laß die Jury des diesjährigen Ceres-Award überzeugt, eine Branchenauszeichnung, die besonders innovative Landwirte kürt.
Puffer für die Dunkelflaute
Denn Laß´ Erfolgsmodell könnte auch andernorts Schule machen. Herzstück ist ein 80 mal 40 Meter großer Biogasspeicher, der wie ein riesiger, weißer Wal in der Landschaft der Gemeinde Tüttendorf liegt. Das sogenannte “Tüttendorfer Ei” hat eine stattliche Größe von 44.000 Kubikmeter, ist drucklos und speichert Biogas mit einer Arbeit von 90.000 Kilowattstunden - so viel Energie, dass ein E-Auto damit 15-mal um die Erde fahren könnte.
Wegen dieses Speichers, dem größten seiner Art in Deutschland, erhielt Laß kürzlich auch vom Fachverband Biogas die Auszeichnung als eine der besten Biogasanlagen Deutschlands. Das Charmante an seiner Anlage: Sie ist im Grunde ein kleines regeneratives Speicherkraftwerk, das eine durchgängige und ausfallsichere Energieversorgung mit 100 Prozent erneuerbarer Energie ermöglicht. Strom, Gas und Wärme werden hier zusammengedacht. Neben dem Gasspeicher gibt es zusätzliche Wärmepufferspeicher und Satelliten-Blockheizkraftwerke. Dadurch erreicht das System eine extreme Flexibilität bei der Stromerzeugung, so dass die BHKW-Motoren wirklich nur dann hochfahren, wenn der Strom am meisten gebraucht wird und die Preise an der Strombörse am höchsten sind. Sei es, weil gerade die Windräder in der Flaute stillstehen oder sich Wolken vor die Sonne schieben.
Biogas statt Kohlekraft
Die Aufgabe, diese sogenannten Dunkelflauten abzupuffern, haben bislang fossil betriebene Gaskraftwerke übernommen, die die Energie über weite Strecken verteilen. Auf regionaler Ebene gelingt das allerdings wesentlich nachhaltiger, weil die bei der Stromerzeugung entstehende Abwärme entweder gespeichert oder direkt ins Nahwärmenetz eingespeist werden kann. In Deutschland gibt es schon jetzt rund 9.700 Biogasanlagen, die knapp sechs Prozent zur Stromerzeugung beitragen. Würde man zwei Drittel dieser Anlagen zu regenerativen Speicherkraftwerken nach dem Vorbild Martin Laß umrüsten, dann könnte das die Hälfte aller Kohlekraftwerke ersetzen, die durch den Kohleausstieg wegfallen.
Noch steckt die Dekarbonisierung allerdings auch in Gettorf in ihren Anfängen. Rund 200 Haushalte, einen Schul- und Sportkomplex, den lokalen Tennisclub und ein großes Hospiz versorgt Laß aktuell kostengünstig und zuverlässig mit Nahwärme aus Gülle, Pferdemist und nachwachsenden Rohstoffen von den umliegenden Äckern. Die Komplettversorgung des Ortes existiert bisher nur in seinen Plänen. Als zäh erweisen sich vor allem die genehmigungs- und baurechtlichen Hürden. Denn Kabel und Rohre von der Biogaserzeugung bis zum Verbraucher zu legen, ist ein hochkomplexer bürokratischer Prozess, der ein Einverständnis von der Kommune und allen Stakeholdern braucht.
Erneuerbare im Überfluss
Noch länger im Geschäft ist Deutschlands Vorzeigeenergiedorf im Allgäuer Wildpoldsried. Landwirt Wendelin Einsiedler baute bereits im Jahr 1995 sein erstes Windrad und betreibt inzwischen 18 Windparkanlagen in ganz Bayern. Mit Wind, Sonne, Biogas und Wasserkraft produziert das 2.600-Einwohner-Dorf heute achtmal so viel Strom wie es verbraucht. Die Dorfheizung – ein Nahwärmenetz mit Pelletheizung und Biogas-Blockheizkraftwerken – versorgt 80 Gebäude, zehn Betriebe und 170 Wohnungen mit Wärme und produziert zusätzlich Strom.
Lärmbelästigung? Schattenwurf durch die Riesenrotoren? Verspargelung der Landschaft? In Wildpoldsried steht die Mehrheit der Bürger hinter der vollzogenen Energiewende. Rund 400 Bürger sind an den neun Anlagen auf Wildpoldsrieder Flur beteiligt und verdienen damit Geld. Auf vielen Dächern sieht man Solar- und Photovoltaikanlagen. Das Interesse mitzumachen ist riesengroß und reicht auch weit über die Gemeindegrenzen hinaus.
Über 100 Besuchergruppen aus aller Welt kommen jährlich in das Dorf, um sich den ein oder anderen Baustein für die Energiewende daheim mitzunehmen. Gemeinderat Thomas Pfluger und seine Kollegen geben sich große Mühe, die vielen Anfragen der Pilgerer zu bedienen. Denn sie wissen: Wer einmal da war, sieht, was heute schon alles machbar ist. Und das motiviert, den einen oder anderen energetischen Baustein mit nach Hause zu nehmen und dort umzusetzen.