Herr Professor Schäfer, Sie werden auch als der deutsche „Dr. House“ bezeichnet. Woher das?
Um unsere Medizinstudenten und Medizinstudentinnen für seltene Erkrankungen und die Faszination der Diagnosefindung zu begeistern, zeigte ich ihnen in einem „Dr. House Seminar“ gerne Folgen aus dieser bei den Studierenden sehr beliebten US-amerikanischen Fernsehserie. Darin geht es um einen fachlich exzellenten aber menschlich eher schwierigen Mediziner, der lebensgefährlichen Erkrankungen auf den Grund geht, für die andere Ärzte keine Diagnose fanden. Generell gilt, dass die Studierenden ihr Zeitkontingent so planen müssen, dass sie vor allem prüfungsrelevante Themen lernen. Es macht ja auch keinen Sinn, die seltene Adrenoleukodystrophie zu erkennen, aber beim häufigen Herzinfarkt zu versagen. Und dass eine Seltene Erkrankung in der Prüfung behandelt wird, ist eher unwahrscheinlich. Hier muss die Faszination an der Medizin als solche und die Freude am Lernen unsere Studierenden motivieren. Dass dies mit der Hilfe von Dr. House funktioniert, konnten wir auch wissenschaftlich nachweisen1. So gesehen war Dr. House für uns ein idealer Türöffner, um junge Mediziner:innen zu begeistern. Schade, dass es die Serie nicht mehr gibt.
Sie wird als Wiederholung immer noch gezeigt. Wobei: Dr. Gregory House ist zwar ein hoch intelligenter, aber auch sozial schwieriger Charakter.
Ja, hier zeigt sich schön das Spannungsfeld zwischen einem menschlich empathischen oder einem fachlich brillanten Charakter. Diese Fragestellung spielt unter Medizinern zwar Gott sei Dank selten, aber immer wieder eine Rolle. Was ist mir lieber, bei Prof. Brinkmann von der Schwarzwaldklinik zu sterben währenddessen er an meinem Bett sitzt und mir die Hand hält, – oder bei Dr. House gesund zu werden währenddessen er im Flur steht und über die Klinikleitung schimpft. Natürlich braucht es in der Medizin beides, und wir in Marburg und an allen anderen Universitätskliniken auch, bemühen uns sowohl fachlich exzellente als auch menschlich integre Persönlichkeiten auszubilden.
Sie hingegen werden als sehr empathischer Arzt beschrieben. Für Betroffene von Seltenen Erkrankungen ist das enorm wichtig: Sieben Jahre dauert es im Durchschnitt, bis sie eine korrekte Diagnose erhalten.
Ja, das ist eine Tortur, psychisch wie körperlich. Diese Menschen haben eine furchtbare Odyssee hinter sich, das kann man sich gar nicht vorstellen. Als anlässlich meiner Uni-Seminare über Seltene Erkrankungen die Bezeichnung „deutscher Dr. House“ durch die Medien ging, bekam ich Tausende von Zuschriften von verzweifelten Patientinnen und Patienten. Das war der Anstoß für unsere Geschäftsführung, das Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Marburg zu gründen. Das war vor über zehn Jahren. Damit sind wir wohl die einzige Klinikeinrichtung, die jemals aufgrund einer Fernsehserie gegründet wurde. „Universal Studios“ sei’s gedankt!
Wie läuft eine Diagnostik bei Seltenen Erkrankungen ab?
Zunächst einmal müssen wir sehr stark priorisieren, denn uns erreichen nach wie vor sehr viele Anfragen. In den letzten zehn Jahren haben uns knapp 10.000 verzweifelte Anfragen mit teils mehreren Aktenordnern voller Befunde erreicht. Das ist trotz langer Arbeitstage für uns nicht zu schaffen. Da es mittlerweile an jeder deutschen Universitätsklinik genau solche Zentren wie das unsrige gibt, ist es auch nicht mehr notwendig sich an uns zu wenden und wir verweisen die Anfragenden dann an die nicht minder erfahrenen heimatnahen Zentren, die auch im Atlas der Seltenen Erkrankungen zu finden sind und exzellente Arbeit leisten. Primär sichten wir aufgrund der Dringlichkeit natürlich Klinikanfragen, zuallererst die aus den Fachabteilungen unseres eigenen Hauses oder anderer Universitätskliniken. Es folgen die Patientenfälle, bei denen sich Kollegen externer Einrichtungen oder Niedergelassene mit der Bitte um Hilfe an uns wenden. Da wir keine eigenen Betten haben, ist für uns die enge Zusammenarbeit mit einem anfragenden Hausarzt sehr wichtig, da dieser dann unsere Vorschläge letztendlich auch umsetzen muss.
Wie kann eine medizindetektivische Forschung aussehen?
Es ist selten, dass wir die Patientinnen und Patienten persönlich sehen. Unsere eigentliche Stärke ist die akribische Sichtung von bereits durchgeführten Untersuchungen sowie die intensive Diskussion in unseren regelmäßig stattfindenden multidisziplinären Teambesprechungen. Wir treffen uns dort in einer Gruppe von etwa zehn Kolleginnen und Kollegen aus völlig verschiedenen Schwerpunkten, also von der Allgemeinmedizin bis hin zur Psychosomatik. Dabei wird jeder Patientenfall ausführlich und manchmal auch kontrovers diskutiert. Der eine hat vielleicht eine hilfreiche Studie gelesen, die andere hat einen Patienten mit ähnlichen Symptomen bereits einmal gesehen. Mit diesem Ansatz der Teambesprechungen kommen wir oftmals auf die richtige Spur.
Was, wenn es sich um eine neue Krankheit handelt, die noch nie beschrieben wurde?
Das kommt zwar selten aber durchaus auch immer wieder mal vor. So hatten wir einen Mitte 60-jährigen Patienten, der hatte immer wieder Lähmungsattacken und dies seit fast 50 Jahren. Dabei bekam er aus heiterem Himmel einen Schwächeanfall. Er hörte und sah alles, konnte sich aber nicht mehr bewegen, manchmal stundenlang. Er erzählte uns, wie er bei Spaziergängen auf dem Waldboden lag, die Waldameisen über ihn hinüber und in seine Nase kletterten, und er konnte nichts dagegen machen. Die Lähmungen spitzten sich derart zu, dass er befürchtete, er werde auf diese Weise sterben. Diese fürchterlichen Attacken durchlebte er zum Schluss fast täglich.
Wie sind Sie bei der Diagnostik vorgegangen?
Wir haben zunächst gemeinsam mit dem Patienten überlegt, wann die Lähmungen vor allem auftraten. Der Patient selbst hatte den Verdacht, dass die Anzahl und Stärke der Schübe mit der Ernährung zusammenhängen könnten. Deshalb baten wir den Patienten ein detailliertes Ernährungs- und Befindlichkeitstagebuch zu führen, in dem er dezidiert festhielt, was er zu welchen Zeiten zu sich nahm und wie er sich im Laufe des Tages fühlte. In den Fokus nahmen wir die Mineralstoffe Natrium, Kalium, Kalzium und den Zucker, also Stoffe, die eine wichtige Rolle in den Muskeln spielen und deren Konzentration in den Lebensmitteln gut herauszufinden ist. Der Patient, selbst Mathematiker, hat dann selbstständig die Konzentrationen in den Nahrungsmitteln ermittelt und mit seinem Befinden korreliert. Dabei zeigte sich, dass die Symptome immer dann verstärkt auftraten, wenn er besonders viel Kalium zu sich nahm. Die zahllosen Ärzte, die er in all den Jahren zuvor konsultiert hatte, hatten ihm verständlicherweise dazu geraten sich gesund zu ernähren: wenig Fleisch, möglichst vegetarisch. Das war aber in seinem ganz speziellen Fall eher kontraproduktiv, denn vegetarische Kost enthält vergleichsweise viel Kalium und wenig Natrium. Sein Zustand hatte sich daher immer weiter verschlechtert.
»Das war das Tolle: Der Mann hatte ja über sein Ernährungstagebuch seine Diagnose quasi selbst gestellt.«
Woran lag das?
Das war für uns ein echtes Rätsel. Unsere Neurologen haben ihn zur Klärung stationär aufgenommen und wir führten eine extrem aufwändige Labordiagnostik gemeinsam mit unseren Physiologen an der Universität durch. Wir haben uns dabei die Natrium-Kaliumkanäle an der Muskelzelle ganz angeschaut, die für die Kontraktionen zuständig sind. Wenn zu viel Kalium in der Muskelzelle ist, lässt sich der Muskel nicht mehr steuern. In der Tat fanden wir eine bislang unbekannte Veränderung am Promotor eines Kaliumkanals, also an dem Schalter, der die Aktivität dieses Kanals und damit den Einstrom von Kalium in die Zelle reguliert. Der Kanal ist bei unserem Patienten permanent aktiviert und pumpt daher unkontrolliert Kalium in die Zelle. So kam es zu den Lähmungen. Diesen neuartigen Mechanismus haben wir in einem Fachjournal publiziert2. Dank unseres Patienten wird nunmehr nach diesem Defekt bei entsprechenden Patienten weltweit gefahndet.