Bauen ohne Beton

Beton ist beim Gebäudebau kaum wegzudenken – doch zunehmend rückt die verheerende Klimabilanz in den Fokus. Architekten, Forscher und Start-ups wollen nun nachhaltige Alternativen etablieren: aus nachwachsenden Rohstoffen, Lehm und Recycling-Granulaten

Illustration: Nicole Pfeiffer
Illustration: Nicole Pfeiffer
Steffen Ermisch Redaktion

Die Transformation vom Kasernengelände zum Wohnviertel ist endlich abgeschlossen: Im Oktober wurde im Münchener Prinz-Eugen-Park das letzte Mehrfamiliengebäude fertiggestellt. Das neue Quartier im Osten der bayerischen Hauptstadt soll mit seinem Mix aus Eigentums-, Miet- und Sozialwohnungen lebendig bleiben – und ökologisch Maßstäbe setzen: Es gibt begrünte Dachterrassen und viele Parkanlagen, zudem befinden sich knapp 600 der 18.000 Wohnungen in Holzgebäuden. Gegenüber einer traditionellen Bauweise sind so bis zu 60 Prozent der Emissionen eingespart worden, so die Stadt.

Den Titel als „Deutschlands größte ökologische Mustersiedlung“ könnten sie in München indes schon bald verlieren. Denn Berlin will noch eins draufsetzen: Gleich 5.000 Wohnungen in Gebäuden, die überwiegend aus Holz gebaut werden, sind im neuen Kurt-Schumacher-Quartier auf dem Areal des 2020 stillgelegten Flughafens Tegel ge-plant. Vorgesehen sind zudem Verdunstungsflächen für Regenwasser, Parks und autofreie Wege. Entstehen soll hier bis Mitte der 2030er-Jahre eine grüne Wohlfühloase mit Symbolcharakter: Einen „internationalen Modellstandort für nachhaltiges Bauen“ stellt die Tegel Projekt GmbH in Aussicht.

Die Großprojekte zeugen von einem Umdenken bei Stadtplanern, Architekten und Baugesellschaften. Es geht nicht mehr nur darum, dem Wohnungsmangel in den Metropolen möglichst schnell entgegenzuwirken. In den Fokus rückt zunehmend auch die Ökobilanz – denn der Gebäudesektor gilt neben dem Verkehr als Sorgenkind beim klimaneutralen Umbau der Wirtschaft. Und die Politik nimmt den Sektor zunehmend in die Pflicht. „Das CO2-neutrale und energieeffiziente Bauen und Wohnen ist ein zentrales Anliegen dieser Bundesregierung“, betonte Bundesbauministerin Klara Geywitz auf einer vom Vonovia-Konzern initiierten Baustoffkonferenz Ende November.

 
Mehr Emissionen als die Luftfahrt

 

Der Handlungsbedarf ist groß: Weltweit verursacht die Bau- und Gebäudewirtschaft laut einem Uno-Bericht mehr als ein Drittel der CO2-Emissionen. Davon ist der größte Teil auf das Heizen und den Stromverbrauch zurückzuführen. Doch viel Klimagas wird schon freigesetzt, bevor die Häuser überhaupt bezogen werden. Nach Berechnungen der Denkfabrik World Resources Institute sind zehn Prozent der globalen CO2-Emissionen auf die Herstellung von Baumaterialien zurückzuführen. Der ökologische Fußabdruck ist damit rund dreimal so groß wie der des gesamten Flugverkehrs. Besonders problematisch ist Beton: Die Herstellung erfordert große Mengen Energie. Und beim Brennen des Ausgangsstoffs Zement löst sich zudem Kohlendioxid aus dem Kalkstein.

Die gute Nachricht ist: Der Klimasünder ist längst nicht mehr alternativlos. Und die Spannbreite der Lösungsansätze wächst. Zum einen werden traditionelle Baumaterialien wie Holz und Lehm wiederentdeckt – und könnten durch moderne Bauformen eine neue Blüte erleben. Zum anderen tüfteln Forscher und Start-ups an Verarbeitungsmethoden, um bisher in ganz anderen Branchen genutzte, nachwachsende Rohstoffe für den Einsatz in Gebäuden zu ertüchtigen. Und auch die Wiederaufbereitung von Bauschutt schreitet voran.

Illustration: Nicole Pfeiffer
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Planer auf dem Holzweg
 

„Die Beharrungskräfte in der Branche sind zwar groß, aber das Problembewusstsein nimmt zu“, beobachtet Jan Schreiber, Co-Geschäftsführer von ZRS Architekten. Das Berliner Büro mit 50 Mitarbeitern hat sich schon vor 20 Jahren auf den Bau mit nachwachsenden Rohstoffen spezialisiert. Die größte Praxisrelevanz aktuell habe Holz: „Zu einem Schub haben hier auch Lockerungen der Bauordnungen geführt“, erklärt Schreiber. So dürfen zum Beispiel in Berlin seit 2018 Holzbauten regelmäßig auch mehr als drei Geschosse haben – Brandschutzvorgaben hatten entsprechende Projekte zuvor ausgebremst.

Von den neuen Spielräumen wird bereits Gebrauch gemacht: Der Energieversorger Vattenfall etwa hat im Sommer in der Hauptstadt ein achtstöckiges Bürohaus bezogen, das überwiegend aus Holz gebaut wurde. In Wiesbaden gibt es sogar Pläne für einen hölzernen Büroturm mit 15 Stockwerken. Bei Einfamilienhäusern ist Holz ohnehin schon populär. Nach Daten des Statistischen Bundesamts steigt der Anteil jener Neubauten, bei denen Holz das Hauptbaumaterial ist, seit Jahren kontinuierlich an. Zuletzt lag er bei 21 Prozent.

Doch es gibt Zweifel, ob Holz alleine dem Bausektor zu einer klimafreundlichen Zukunft verhelfen kann. Denn der Ressourcenbedarf ist riesig, wie eine Analyse des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung und der Berliner Humboldt-Universität zeigt. Wollte man alle Neubauten weltweit aus Holz bauen, wären den Berechnungen zufolge bis Ende des Jahrhunderts 150 Millionen Hektar an neuen Baumplantagen nötig. Das ist eine Fläche, die dreimal so groß wie Spanien ist. Das Forscherteam hält das zwar grundsätzlich für machbar. Doch wenn der Ausbau schlecht läuft, könnte er die Artenvielfalt bedrohen und landwirtschaftlich genutzte Flächen verdrängen.

In Deutschland kommt ein weiteres Problem hinzu: Wegen des Borkenkäferbefalls infolge langer Trockenperioden sind viele Fichtenwälder zuletzt drastisch ausgedünnt worden. Die Forstwirtschaft rechnet für die kommenden Jahre daher mit sinkenden statt mit steigenden Erträgen. Gleichzeitig ist Holz auch als Heizmaterial aktuell sehr begehrt.

 
Pilze werden zum Dämmstoff


 
Erste Baustoffhersteller setzen bereits auf andere nachwachsende Rohstoffe, die schneller in großen Mengen verfügbar sein könnten. Das Unternehmen Schönthaler aus Südtirol etwa bietet Ziegel an, die in einem Kaltpressverfahren aus Kalk und Hanf hergestellt werden. Die Wahl auf Hanf ist gefallen, weil die Pflanze etwa 50-mal schneller als Bäume wächst. Nach Angaben des Herstellers sind die „Hanfsteine“ nicht nur langlebig und feuersicher, sondern wirken auch dämmend und sorgen für ein gesundes Raumklima. Die Klimabilanz ist tadellos: Die Hanfpflanzen binden durch Photosynthese mehr CO2 aus der Atomsphäre, als bei der Herstellung der Ziegel verursacht wird.

Ein weiterer Hoffnungsträger neben Hanf ist Flachs: Auch diese Pflanze zeichnet sich durch ein schnelles Wachstum aus – und gilt als vergleichsweise anspruchslos. Als Dämm-Material werden die Fasern bereits genutzt. Geht es nach Forschern der Universität Stuttgart und der Uni Freiburg, wird Flachs künftig aber auch in tragenden Konstruktionen eingesetzt. Im Projekt „LivMats“ haben die Wissenschaftler dazu eine neue Verarbeitungsmethode entwickelt: Mit Roboterarmen werden die Fasern zu stabilen Strukturen gewickelt. Davon, dass das Verfahren praxistauglich ist, können sich Besucher des Botanischen Gartens der Uni Freiburg ein Bild machen: Seit dem vergangenen Jahr steht dort ein auf diese Weise hergestellter Pavillon.

Noch ausgefallener sind die Rohstoffe, auf die Forscher des Fraunhofer-Instituts für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik setzen: Sie vermischen pflanzliche Reststoffe wie Stroh oder Treber aus der Bierproduktion zu einer Paste, die per 3D-Druck in Form gebracht wird. Darauf züchten sie Pilze, deren Wurzeln mit dem Substrat eine feste Struktur bilden. Anschließend werden die Gebilde im Ofen getrocknet. Ziel des Projekts „FungiFactoring“ war es eigentlich, biobasierte Schallabsorber zu entwickeln. Doch nach Einschätzung der Forscher könnten so auch Dämmplatten hergestellt werden – denn die isolierende Wirkung ist vergleichbar mit der von Styropor.


Lehmhäuser aus dem 3D-Drucker



Als klimafreundliche Alternative zu Beton, Stahl und Styropor dienen sich indes nicht nur Baustoffe aus nachwachsenden Rohstoffen an. In die Bresche springen könnte auch ein anderer natürlicher Baustoff, der schon seit Jahrtausenden genutzt wird: Lehm. Das Sand-Ton-Gemisch ist im Erdreich reichlich vorhanden und muss nicht erst aufwendig weiterverarbeitet werden. „In der Nische hat sich Lehm wegen seiner positiven Auswirkungen auf das Raumklima bereits vorgearbeitet“, sagt der Berliner Architekt Schreiber. „Nun rückt der Baustoff wegen seiner guten Ökobilanz verstärkt in den Fokus.“ Unter Beteiligung von ZRS soll beispielsweise in Berlin Alt-Britz ein Mehrfamilienhaus in Lehm-Holz-Bauweise entstehen. Bauherrin ist die kommunale Wohnungsbaugesellschaft Stadt und Land.

Neue Impulse soll der alte Baustoff durch moderne Technik bekommen: So will das italienische Unternehmen Wasp mit großen 3D-Druckern die Lehmbauweise revolutionieren. In Ravenna, östlich von Bologna, ist bereits ein erstes Modellhaus aus zwei miteinander verbundenen Halbkugeln entstanden. Die wabenförmigen Mauern – bestehend aus 350 dünnen Schichten – sind innerhalb von 200 Stunden gedruckt worden. Man habe bewiesen, dass eine Maschine alleine aus der Erde ein „schönes, gesundes und nachhaltiges Zuhause“ schaffen könne, sagt Firmengründer Massimo Moretti bei der Fertigstellung vor einem Jahr.

Technologien wie diese könnten vor allem helfen, die Kosten zu senken. Denn noch ist das klimafreundliche Bauen deutlich teurer – weil Stückzahlen niedrig sind und nur wenige Baufirmen den Umgang mit natürlichen Materialien überhaupt beherrschen. Doch die Nachfrage wächst, vor allem bei öffentlichen Bauträgern. „Nachhaltigkeitskriterien sind inzwischen Teil vieler Beschaffungsrichtlinien“, sagt Schreiber. Ein Umdenken hat indes auch in der Privatwirtschaft eingesetzt. Beispiel Vonovia: „Um den CO2-Ausstoß im Gebäudebereich zu minimieren, werden wir den Einsatz nachwachsender Rohstoffe forcieren“, kündigte Konzernchef Rolf Buch kürzlich an. Das Wohnungsunternehmen wolle zudem alle Baustoffe im Kreislauf führen – also nach Möglichkeit wiederverwenden oder recyceln, wenn ein Gebäude abgerissen wird.

 
Eine zweite Chance für Beton
 


Die Idee, Bestandsgebäude als Rohstofflager für künftige Bauvorhaben zu begreifen, ist nicht neu. In der Praxis gibt es aber zum einen ein Datenproblem: Oft ist schlicht nicht dokumentiert, welche Materialien in älteren Gebäuden genutzt worden sind. Zum anderen lassen sich viele Baustoffe technisch nur unter großem Aufwand wiederverwerten, weil sie aus unterschiedlichen Komponenten zusammengesetzt worden sind. „Wir müssen endlich weg von dem Abfallsystem und die Kreislaufwirtschaft schon beim Neubau mitdenken“, fordert Schreiber. Naturmaterialien sieht er dabei im Vorteil: Lehm etwa könne immer wieder neu verwendet werden – viel mehr als Wasser müsse nicht hinzugefügt werden.
 

»Noch ist das klimafreundliche Bauen deutlich teurer.«


Langsam an Fahrt gewinnt aber auch das Recycling einstiger Beton-Fundamente oder -Wände. Dazu werden möglichst schon beim Abriss Metalle und andere Fremdstoffe aussortiert. Die zerkleinerten Bauschuttbrocken können dann bei der Herstellung von Frischbeton Sand und Kies ersetzen. Das schont natürliche Ressourcen und verbessert die Klimabilanz: Transportwege fallen potenziell kürzer aus, zudem ist bei der Aufbereitung weniger Zement nötig. Auf sieben Prozent beziffert das Umweltbundesamt die CO2-Einsparung von Recycling-Beton.

Noch besser wird die Bilanz mit einem Verfahren, das Neustark etablieren möchte: Das Spin-off der ETH Zürich macht sich zunutze, dass Beton in seinen Poren Kohlendioxid bindet. Dieser Mineralisierungsvorgang dauert normalerweise über tausend Jahre, das Start-up beschleunigt ihn auf wenige Stunden. Dazu wird über das Granulat hochkonzentriertes CO2 geleitet, das aus der Luft gefiltert wird oder als Nebenprodukt von Biogasanlagen anfällt. Aktuell um bis zu 20 Prozent verbessert sich so die Klimabilanz von Beton, gibt das Unternehmen an. Neustark arbeitet nun daran, die Speicherkapazität weiter zu erhöhen. Die große Vision ist ein Baustoff, der mehr CO2 bindet, als bei der Verarbeitung entsteht. Das Bauen mit Beton würde dann den Klimawandel bekämpfen, statt ihn weiter anzuheizen.
 

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