Die große Chance

Die Industrie wagt den Sprung in die vernetzte Digitalisierung. Ein Jahrhundertprojekt.
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Illustration: Wyn Tiedmers
Mirko Heinemann Redaktion

Klöckner & Co. setzt auf das Internet. Der börsennotierte Stahlhändler gründet derzeit eine digitale Handelsplattform. Statt wie bisher Stahlmengen physisch bereitzuhalten und an diejenigen Kunden zu verkaufen, die sie gerade benötigen, sollen künftig alle Stahlprodukte über diese Online-Plattform bestellt werden können. Mit „kloeckner.i“ haben die Düsseldorfer ein Kompetenzcenter für Digitalisierung gegründet – in der deutschen Metropole der IT-Start-ups, in Berlin.


Am 10. Dezember wird Gisbert Rühl, CEO von Klöckner & Co., auf der Berliner „hub conference“ sein Konzept erläutern. Auf der vom Digitalverband Bitkom ausgerichteten Konferenz erfahren die mehr als 1.800 Teilnehmer alles über die aktuellen disruptiven Trends – also Entwicklungen, in deren Verlauf Altes durch Neues ersetzt wird. Das Thema, das alle Speaker, Teilnehmer und Start-ups vereint, ist die digitale Transformation der Wirtschaft. Ein Jahrhundertprojekt.


Diese Transformation ist längst im Gange. Die Wirtschaft passt sich an die veränderten Rahmenbedingungen an und nutzt die Chancen der Digitalisierung. Elf Prozent aller Umsätze im Handel werden bereits im Internet erzielt, mit stark steigender Tendenz. Internetbasierte Gesundheitsangebote und Big Data-Anwendungen revolutionieren die Medizin. Die meisten Geschäftsprozesse in Unternehmen werden bereits durch Software gesteuert und schrittweise in die „Cloud“ ausgelagert.


Physische Prozesse werden mehr und mehr über internetbasierte Plattformen gesteuert. Neue Geschäftsmodelle entstehen. Handelsplattformen greifen im Internet den stationären Handel an, Übernachtungsplattformen setzen die Hotellerie unter Druck, und Mitfahrportale stellen das Geschäftsmodell der Taxibranche infrage. Die Plattform-Ökonomie verändert Handel und Dienstleistungen – und nun auch die Produktion.


Der Fokus liegt auf der industriellen Fertigung, dem Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Produktionsbetriebe loten derzeit unter dem Schlagwort „Industrie 4.0“ die Chancen der Digitalisierung aus. In einer „Smart Factory“ werden sämtliche Produktionsprozesse sensorisch erfasst. Analysesoftware bildet die Prozesse ab und ermittelt, wie Ressourcen effizienter genutzt werden können.


Wenn Maschinen und sogar die hergestellten Produkte, eben die „Dinge“, über eine Plattform im Internet miteinander kommunizieren können, eröffnet sich ein neuer Kosmos: Vernetzte, autonome Prozesse kreieren ein neues Verständnis von Flexibilität, Qualität und Ressourceneffizienz. Fertigungsstraßen können innerhalb kürzester Zeit eingerichtet und umgestellt werden. Das Zusammenspiel von Mensch und Maschine wird verbessert, die Qualität der Fertigung angehoben. Über die internetbasierte Plattform lassen sich alle Prozesse steuern – von der Beschaffung über die Produktion bis zur Zustellung beim Kunden.


Die Mehrheit der Entscheider in der Industrie weiß um die Chancen von Industrie 4.0. Das zeigt eine Studie von Bitkom Research und der Prüfungs- und Beratungsgesellschaft EY. Drei Viertel der Befragten erklären, dass Industrie 4.0 „strategisch wichtig“ oder sogar „sehr wichtig“ für ihr Unternehmen sei. Vier von zehn Betrieben haben schon Industrie-4.0-Lösungen realisiert.


In anderen Bereichen der Wirtschaft ist dieses Bewusstsein weniger stark ausgeprägt. In einer Repräsentativbefragung deutscher Unternehmen vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung ZEW zu Industrie 4.0 belegte die Logistik den letzten Platz: Gerade einmal sechs Prozent der Befragten kannten den Begriff Industrie 4.0, Projekte zur Digitalisierung ihrer Wertschöpfungskette setzen nur 1,6 Prozent um. Dabei wird gerade der Logistik in der Plattform-Ökonomie eine Schlüsselrolle zukommen. Wer, wie Klöckner & Co., seine Prozesse künftig über das Internet abwickeln möchte, wird auf digital vernetzte Lieferketten angewiesen sein.


Die Digitalisierung führt an keinem Mitglied der Wertschöpfungskette vorbei. Die globalisierten IT-Unternehmen, von denen viele im kalifornischen Silicon Valley sitzen, dehnen ihr Geschäft auf immer mehr Bereiche der traditionellen Wirtschaft aus. Amazon experimentiert mit Drohnen, um neue Wege in der Logistik auszuloten. Google fordert mit autonomen Fahrzeugen die Automobilindustrie heraus. Apple ist mit seiner Smartwatch nicht nur Wettbewerber der Uhrenhersteller geworden, sondern könnte mit den erhobenen Gesundheitsdaten in die Welt der Medizin vorstoßen.


Für den produzierenden Mittelstand, der vielfach gepriesenen Säule der deutschen Wirtschaft, wird die Digitalisierung zur Existenzfrage. Bislang stützt er sich auf seine zweifellos überragende Expertise in den Ingenieurskünsten: exakte Planung von Bauteilen, präzise Fertigung, stetige Verbesserung und langfristige Strategien. Was aber, wenn Betriebe in den aufstrebenden Schwellenländern eine annähernd hohe Fertigungsqualität erreichen? Wenn andere Industrienationen mit digitaler Unterstützung Produkte von vergleichbarer Qualität effizienter herstellen und sie zu niedrigeren Preisen anbieten?


In den USA wird unter dem Schlagwort „Cloud Robotics“ an Konzepten gefeilt, die Industrie 4.0 stark ähneln. Auch hier spielen internetbasierte Plattformen die Hauptrolle. Fertigungsprozesse werden beliebig skalierbar. So könnten Daten für individualisierte Produkte bereitgestellt werden, um sie am heimischen 3D-Drucker selbst herzustellen. Ein Turnschuh könnte auf diese Weise passgenau und mit individuellem Style aus dem Drucker kommen. Noch werden solche Lösungen die industrielle Fertigung nicht ersetzen. Doch wer vorausschaut, entwickelt die Plattform der Zukunft lieber selbst. So wie CEO Gisbert Rühl vom Stahlhändler Klöckner & Co.: Warum warten, bis ein Start-up das eigene Geschäftsmodell infrage stellt, wenn man es auch selber machen kann?

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