Gegen die Verschwendung

Milliarden Tonnen Lebensmittel, ein Fünftel bis ein Drittel der globalen Nahrungsproduktion, werden einfach entsorgt. In Deutschland wandert pro Minute eine Lkw-Ladung Lebensmittel in den Müll – pro Minute! Gleichzeitig hungern 800 Millionen Menschen. „Lebensmittelretter“ wollen das ändern.

Illustration: Natascha Baumgärtner
Illustration: Natascha Baumgärtner
Autor: Mirko Heinemann Redaktion

Raphael Fellmer hat sein Thema gefunden. Der 41-jährige Mitgründer des Berliner Start-ups Sirplus hat sich früh für ein konsequent nachhaltiges Leben entschieden. Als junger Mensch fing er mit dem „Containern“ an: Fast jeden Abend klapperte er mit dem Fahrrad Biosupermärkte ab und durchsuchte die Müllcontainer nach Lebensmitteln, die noch haltbar waren. „Lebensmittel retten“, nannte er das. Er bemerkte, welche enormen Mengen an Lebensmittel in den Müll wandern, obwohl sie noch gut sind: Obst und Gemüse, aber auch verpackte Lebensmittel wie Müsli, Schokolade, Joghurt, Buttermilch. Sobald Salate oder Obst nicht mehr ganz frisch aussehen oder das Mindesthaltbarkeitsdatum erreicht ist, werden sie entsorgt. 
 

Privathaushalte werfen am meisten weg


Die Zahlen sind drastisch: Laut den Vereinten Nationen (UN) werden weltweit pro Jahr rund eine Milliarde Tonnen Lebensmittel verschwendet – das wären fast ein Fünftel der globalen Produktion. Die Wirtschaftsberatungsgesellschaft Boston Consulting spricht sogar von 1,6 Milliarden Tonnen. Andere Quellen nennen noch höhere Zahlen. Bis zu 40 Prozent aller Lebensmittel weltweit könnten auf den Müll wandern. 

Laut UN sind für 28 Prozent der Verschwendung Restaurants, Kantinen und weitere Dienste verantwortlich. Supermärkte, Metzger und andere Geschäfte für 12 Prozent. Die meisten noch verzehrfähigen Lebensmittel werfen Privathaushalte weg. Sie sind für den Verlust von 631 Millionen Tonnen Lebensmittel verantwortlich – das macht über 60 Prozent der weggeworfenen Nahrungsmittel aus. 
 
Das Problem: Menschen kauften zu viel ein, Reste würden nicht verwertet, Essen werde weggeworfen, sobald das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten ist, obwohl es noch genießbar sei. Diese Verschwendung ist besonders tragisch angesichts der Tatsache, dass gleichzeitig fast 800 Millionen Menschen weltweit unter Hunger leiden. Zudem hat die Lebensmittelverschwendung erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt: Sie verursacht jährlich etwa 4,4 Milliarden Tonnen Treibhausgase, das sind mehr als 10 Prozent der weltweiten Emissionen. Rund 43.000 Quadratkilometer Ackerfläche werden umsonst bewirtschaftet. 
 
In Deutschland werden laut WWF rund 18 Millionen Tonnen an Lebensmitteln pro Jahr verschwendet. Das entspricht einer Lkw-Ladung pro Minute. 2,6 Millionen Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche werden pro Jahr umsonst bewirtschaftet, so viel wie Mecklenburg-Vorpommern und das Saarland zusammen. 48 Millionen Tonnen Treibhausgase werden unnötig freigesetzt. 

Illustration: Natascha Baumgärtner
Illustration: Natascha Baumgärtner

Foodsharing gegen die Verschwendung


2021 gründete der Dokumentarfilmer Valentin Thurn („Taste the Waste“) in Köln den Verein Foodsharing. Gleichzeitig gewann Raphael Fellmer in Berlin die erste Supermarktkette für eine neuartige Kooperation: Ehrenamtliche „Lebensmittelretter“ dürfen in den Filialen regelmäßig unverkäufliche Waren abholen, selbst essen, weiter verteilen – oder sie auf der kostenlosen Internetplattform foodsharing.de anbieten. Die Supermärkte sparen im Gegenzug Entsorgungskosten. Mittlerweile machen 16.000 Betriebe mit.

Die Plattform bietet zwei Hauptmöglichkeiten zum Lebensmittelaustausch: Privatpersonen können überschüssige Lebensmittel aus dem eigenen Haushalt kostenlos anbieten und teilen (Foodsharer). Oder ehrenamtliche Helfer holen überschüssige Lebensmittel bei Betrieben wie Supermärkten, Bäckereien oder Restaurants ab und verteilen diese an gemeinnützige Einrichtungen oder Privatpersonen (Foodsaver). Heute sind auf foodsharing.de 436.000 Foodsharer und 16.000 ehrenamtliche Foodsaver registriert. Es gibt 1.367 öffentliche Lebensmittel-Verteilstellen.
 
„Ich bin bewusst kein Aussteiger, sondern ich bin ein Einsteiger in die Gesellschaft. Deswegen versuche ich aus der Gesellschaft heraus den Wandel voranzutreiben – in Kontakt mit den Medien, den Schulen, Universitäten, der Industrie“, sagte Raphael Fellmer damals. Die logische Folge war die Gründung eines eigenen Unternehmens. 2017 rief Raphael Fellmer gemeinsam mit Martin Schott und dem Digitalunternehmer Alexander Piutti das Unternehmen Sirplus ins Leben. Ziel: die Idee des Lebensmittelrettens zum „Mainstream“ zu machen, wie die Gründer es nannten. Kunden sollten die geretteten Lebensmittel Online und in Sirplus-Läden in Berlin kaufen, bis zu 70 Prozent günstiger als ursprünglich.  
 

ZITAT: „2,6 Millionen Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche werden pro Jahr umsonst bewirtschaftet, so viel wie Mecklenburg-Vorpommern und das Saarland zusammen.
 

Vom Chutney bis zum Smoothie-Pulver


Inzwischen verschreiben sich Dutzende Start-ups dem Ziel, gegen die Verschwendung vorzugehen. Wie der Online-Shop Motatos, der Lebensmittel anbietet, die nahe am Mindesthaltbarkeitsdatum sind oder dieses bereits überschritten haben. Zeitpulver, aus geretteten Früchten ein Pulver für die Zubereitung von Smoothies herstellt. Unverschwendet, das aus überschüssigem Obst, Gemüse oder Gewürze Marmelade, Sirup, Chutneys macht. Oder Followfood, das gerettete Lebensmittel in die Regale der großen Supermarktketten bringt. Und viele andere folgen diesen Beispielen. Auch die Bundesregierung hat eine Initiative auf den Weg gebracht: „Zu gut für die Tonne!“ macht mit einer jährlichen Aktionswoche auf das Thema Lebensmittelverschwendung aufmerksam. 
  
Bei Sirplus ging es erst einmal nicht gut aus. Zunächst expandierte das Unternehmen und eröffnete sieben stationäre Märkte in Berlin. Dann kam die Corona-Pandemie. Ein Laden nach dem anderen musste schließen, die Geschäfte liefen nicht mehr. Anfang 2024 musste das Unternehmen Insolvenz anmelden. 

Doch Raphael Fellmer machte unbeirrt weiter. Er setzte das Unternehmen mit einem neuen Partner neu auf, optimierte die Kostenstruktur und erweiterte das Produktportfolio. Gehandelt wird heute ausschließlich über das Online-Portal. Neben geretteten Lebensmitteln sollen dort in Zukunft auch gerettete Haushaltsartikel, überschüssige und nachhaltige Wellness- und Lifestyle-Produkte angeboten werden.

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